DiskursReview | Arbeitspapiere

Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft!

Autor: Susanna Weber
Version: 1.0 / 17.04.2023

Im Herbst 2022 veranstalteten die Sender des Deutschlandradios eine Kampagne mit Hörerbeteiligung zur Auswahl eines Themas, mit dem sich ihre sogenannte „Denkfabrik“ über das kommende Jahr intensiv beschäftigen solle.[1] Fünf Themen standen zur Auswahl, „wehrhafte Demokratie“ wurde gewählt, wenig überraschend angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine. Wer zuvor welche Themen aus welchen Gründen vorgeschlagen hatte, wurde nicht transparent gemacht. Seit Jahresbeginn wird nun in verschiedenen Sendeformaten das Thema bearbeitet, z.B. in einer Reihe von Interviews zum Thema “Wie wehrhaft ist unsere Demokratie?“ seit 2.1.23, mit Beiträgen in der Reihe „Kulturfragen“ ab 8.1. bis Februar 23 und mit Publikumsveranstaltungen vor Ort –  und es liegen noch 8 weitere Monate vor uns.[2]  Dass „unsere Demokratie“ wehrhaft sein müsse, wird dabei als selbstverständlich vorausgesetzt und ist positiv konnotiert, als diskussionswürdig gilt allenfalls, wer dafür zuständig sei und „wie“ Wehrhaftigkeit prozessiert werden soll. In einzelnen der bisherigen Beiträge des Senders wird sie zwar auch als eine Art Robustheit gegenüber extremistischen Einstellungen interpretiert. Gerahmt von der täglichen Kriegsberichterstattung, zu geforderten und erfolgten Waffenlieferungen, mangelnder Einsatzfähigkeit der Bundeswehr und dauerhaft notwendigen höheren Ausgaben für das Militär erscheint dieser nach innen gerichtete Aspekt jedoch als Ergänzung zur Wehrhaftigkeit nach außen.

Aktuell sind alle Interventionen und Positionierungen zur Herstellung von Zustimmung für die weitere Beteiligung am Krieg politisch erwünscht, hier reiht sich auch die Kampagne des Deutschlandradios ein. Das beispiellose reale Aufrüstungs-, Sanktions- und Waffenlieferungsprogramm der Regierung wird medial begleitet von einer flankierenden Bundeswehr-Werbekampagne („Dein Talent für unsere Sicherheit“ als Leitspruch auf städtischen Plakatwänden), von Inszenierungen einer irrlichternden Partei-Jugend (Motto eines Treffens der Jungen Liberalen: „Krieg beenden, Waffen senden“)[3] bis zur unmissverständlichen Kriegspropaganda der Partei „Die Grünen“ („Russland ruinieren“).[4]

Auch der amtierende Bundespräsident Steinmeier sprach u.a. in einer Rede in der Münchener LMU davon, dass die deutsche Demokratie „wehrhafter“ gemacht werden müsse, dezidiert mit dem Hinweis auf die Ukraine und den „Krieg, der nach Europa zurückgekehrt“ sei.[5]

Mit dem Gebrauch des Ausdrucks „wehrhaft“ wird immer ein feindliches Gegenüber gesetzt, es wird zugespitzt und polarisiert. Inklusion/Exklusion werden markiert: innen/außen; wir/sie; verfassungstreu/-feindlich, und regelhaft sind institutionelle Formen der Gewalt assoziiert (Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr).

Wer aktuell den Ausdruck im Munde führt, suggeriert zudem, es gebe so etwas wie ein allgemein verständliches und geteiltes Konzept, ein Modell von „wehrhafter“ Demokratie, was nicht der Fall ist. Auch wissenschaftliche Texte, etwa normenkritische Abhandlungen oder demokratietheoretische Einordnungen verwenden den Begriff „wehrhaft“, dies oft synonym mit „streitbar“. Doch weder im Grundgesetz noch in höchstrichterlichen Entscheidungen (des Bundesverfassungsgerichtes etwa) wird der Ausdruck „wehrhaft“ verwendet, und die Bezeichnung „streitbar“ in Bezug auf Demokratie ist eine abgeleitete und durchaus umstrittene Bewertung in der Rechtsprechung. Was existiert, sind unterschiedliche Gebrauchsweisen in je konkreten Kontexten, also interessengebundene Deutungen, wie ein Blick in die Gebrauchsgeschichte zeigt:

  • Die Propagierung von „Wehrhaftigkeit“ in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg war nicht nur offizielle Regierungspolitik des Kaiserreichs, sie wurde auch von Sozialdemokraten getragen (Noske).[6] Wehrhaft war gleichbedeutend mit militärisch hochgerüstet.
  • In der Partei- und Propagandasprache der Nationalsozialisten war „Wehrhaftmachung“ der Deckbegriff für Aufrüstung und Kriegsvorbereitung (von der sportlich-militärischen „Ertüchtigung“ Jugendlicher über Autarkiebestrebungen bis zu Autobahnbau/Motorisierung).
  • In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieb vor dem Hintergrund des NS und der Beseitigung der demokratischen Verfassung der Weimarer Republik der deutschstämmige Jurist und Emigrant Karl Loewenstein das Konzept einer „militant democracy“[7] und warnte vor der Zerstörung der Demokratie durch die Nationalsozialisten. Der deutsche Soziologe Karl Mannheim bezog sich zwar auf Loewenstein, sprach jedoch von „streitbarer“ Demokratie.[8]
  • Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Ausdruck „streitbare“ Demokratie, später synonym gebraucht mit „wehrhaft“, zum ersten Mal in der Rechtsprechung zum SRP- und zum KPD-Verbot verwendet.
  • In den Jahren der Terroraktionen der RAF, dann im Rahmen der Berufsverbote („Radikalenerlass“) und nach den Anschlägen vom 11.9.2001 im Zusammenhang mit islamistischem Terror wurde erneut häufiger Bezug genommen auf „wehrhafte Demokratie“, jetzt als Argument zur Legitimierung weitgehender Einschränkungen von individuellen Freiheitsrechten.

Wie wehrhafte Demokratie in jüngerer Zeit interpretiert wurde, zeigt der Umgang mit Bürgern, die als Verfassungsfeinde, Gefährder und aktuell Delegitimierer, gekennzeichnet wurden.[9] Angebliche Verfassungsfeinde  wurden in Erfüllung des sogenannten „Radikalenerlasses“ mit Berufsverboten belegt, der nach wie vor umstrittene Begriff des „Gefährders“ dient zur Legitimierung z.B. des „präventiven“ Entzugs von Freiheitsrechten. Mit der jüngsten Konstruktion des „Delegitimierers“, wird versucht, kritische Äußerungen zu Verfassung(-sorganen) oder Regierungsaktivitäten ins Unrecht zu setzen. Der Einsatz des Verfassungsschutzes zur „Beobachtung“ so gekennzeichneter Personen oder Gruppen wird explizit als Maßnahme der „wehrhaften Demokratie“ propagiert.

Wenn die CDU jetzt „wehrhaftere“ Demokratie fordert[10], die bayrische Staatsregierung gar behauptet, „Präventivhaft“ (zum Beispiel für ungehorsame Klimaaktivisten) „ist wehrhafte Demokratie“[11], ist dies zunächst nach innen gerichtet. Den Rahmen bildet jedoch der aktuelle Krieg in Europa und Strategien, bislang geltende (rechtliche) Limitierungen zu schleifen (etwa das Verbot/die Begrenzung von Waffenexporten in Konfliktregionen).

Die dezidiert antitotalitäre Interpretation einer „militanten“ Demokratie als eine mit Abwehrrechten der Bürger („nach oben“, gegenüber dem Staat), angelehnt an Karl Loewenstein, wird also überschrieben von einer anti-extremistischen Deutung (als Recht des Staates nach innen, gegen seine Bürger gerichtet). Aktuell erhält die Auslegung der Wehrhaftigkeit nach „außen“ (real und propagandistisch) neues Gewicht mit der Begründungsfigur, „wir“ (die NATO, Europa, der (Werte-)Westen) gegen das (neo-)imperiale Russland.

Die amtierende deutsche Außenministerin äußerte sich hier ganz eindeutig, mal mit riskanten Formulierungen („Denn wir kämpfen einen Krieg gegen Russland…“[12]), mal mit verschraubten: „Unsere Wehrhaftigkeit entscheidet unsere Sicherheit, unsere Sicherheit für Freiheit unseres Lebens.“[13] Wehrhaftigkeit=Sicherheit=Freiheit=Leben –  und das alles für „uns“. Wer angesichts solcher diskursiver Kurzschlüsse streitbar bleibt (nicht zustimmend, gegen Mehrheitspositionen argumentierend), muss mit Diffamierung und/oder Häme rechnen („naive Friedensfreunde“, „Putinversteher“ u.a.m.) – immerhin, das ist möglich, ohne Gefahr für Leib und Leben fürchten zu müssen…

Fußnoten

[1] Die sogenannte „Denkfabrik“ ist dafür verantwortlich, dass an zahlreichen Sendeplätzen in den unterschiedlichen Formaten das ausgewählte Thema in den Fokus gerückt wird: in Diskussionen, Features, Interviews etc. Hörer, die einigermaßen regelmäßig die Sender des DLR einschalten, werden mit dem Thema unausweichlich konfrontiert.

[2] Hier sind die bisher gesendeten Beiträge abrufbar: https://denkfabrik.deutschlandradio.de, Zugriff 06.04.23

[3] Transparente der Jungen Liberalen beim jüngsten Dreikönigstreffen der FDP trugen diesen Slogan.

[4] An der Basis der Partei und bei jüngeren Mitgliedern der Grünen vermutlich noch vorhandene Gegenpositionen dringen kaum noch an die Öffentlichkeit. Und die Sozialdemokraten lassen sich (erneut) von Ressentiments (und intern machtpolitischen Gründen) tragen, auch wenn sie dieses Mal von einem Koalitionspartner, den Grünen, zusätzlich getrieben werden.

[5] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/weisse-rose-gedenkvorlesung-lmu-steinmeier-1.5746110, Zugriff 06.04.23. Auch er bezog sich dabei fälschlicherweise auf Karl Loewensteins Konzept einer „militant democracy“ (s. FN 8): https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2023/02/230206-LMU-Weisse-Rose.html, Zugriff 06.04.23

[6] https://www.deutschlandfunkkultur.de/angst-vor-der-gefahr-von-links-102.html

[7] Karl Loewenstein: „Militant Democracy and Fundamental Rights, I /II, in: American Political Science Review , June/Aug.1937, Vol. 31, No.3/4 (June/Aug.1937), pp  417–433/ 638-658

[8] Karl Mannheim: Diagnose unserer Zeit, Zürich 1951

[9] Zur Figur des Delegitimierers: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/verfassungsschutz-kritik-extremismus-delegitimierung-verfassung-bericht/, Zugriff 6.4.23

[10] So im Titel einer Broschüre der Konrad-Adenauer-Stiftung:

[11] https://www.bayerische-staatszeitung.de/staatszeitung/politik/detailansicht-politik/artikel/wehrhafte-demokratie.html#topPosition, Zugriff 06.04.23

[12] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/annalena-baerbock-kriegserklaerung-ukraine-krieg-russland-100.html,  Zugriff 06.04.23

[13] https://www.deutschlandfunk.de/nationale-sicherheitsstrategie-regierung-will-neuaufstellung-bundestag-ber-dlf-bc02b963-100.html, Zugriff 06.04.23

Zitiervorschlag

Weber, Susanna (2023): Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft! In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Veröffentlicht am 17.04.2023. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/antitotalitaer-antiextremistisch-wehrhaft.