DiskursReview | Beitragsreihe zur Corona-Krise

DiskursReview

New Normal / Neue Normalität

Autor: Clemens Knobloch
Version: 1.0 / 25.06.2020

1) Die Diskursgeschichte dieses Ausdrucks beginnt im zeitlichen Umkreis der Finanzkrise von 2008ff, und sie beginnt auch in der Finanzsphäre. New Normal steht für das Einpendeln finanzieller und ökonomischer Kurven und Erwartungen auf einem anderen Level, nach einem krisenhaften Umbruch. Das Ursprungsland des Ausdrucks sind die USA, der Ausdruck breitet sich aber rasch aus und wird so etwas wie ein Internationalismus.

Kodiert wird mit diesem Ausdruck eine Mischung aus Kontinuitätsversprechen und Diskontinuitätsdrohung. Was als Bruch und Krisenfolge bedrohlich wirkt, wird semantisch eingemeindet in den breiten und flexiblen Korridor des Normalen: Wir müssen uns eben daran gewöhnen. So findet man (nach wie vor im Finanzbereich) zahlreiche Belege im Zusammenhang mit der Nullzinspolitik, die diesen Zustand für das new normal (und damit für „andauernd“) erklären (Belege in Link 2018: 280f).

2) Für die Ausbreitung des Ausdrucks auf andere gesellschaftliche Funktionsbereiche findet man nach 2008 zahlreiche Belege. Link (2018: 280) berichtet von einem massenkulturellen TV-Format in den USA mit dem Titel New Normal, in dem Alltagsakteure erzählen, wie sie in Krisenzeiten ihre Normalität möglichst aufrechterhalten, und von einer Sitcom mit dem Titel „The New Normal“, in welcher die Flexibilisierung der „Normalfamilie“ (durch schwule Paare, Leihmütter, Patchworkfamilien etc.) auf die Schippe genommen wird. Inzwischen gibt es auch eine Armani-Kollektion, die sich New Normal nennt.

Mit der Coronakrise taucht der Ausdruck in der deutschen Medienszene frühzeitig auf, um die Bevölkerung darauf vorzubereiten, dass es (auf absehbare Zeit, wie es gerne heißt, oder „bis ein Impfstoff gefunden ist“) nicht in die “alte“ Normalität zurückgeht. Im Deutschen Ärzteblatt (117, Heft 21 vom 22. Mai 2020) lese ich beispielsweise: „Das Virus hat die Welt verändert, ein Zurück zum status quo ante kann es nicht geben. Was künftig ´Norm´ wird, muss eine Post-Corona-Gesellschaft neu definieren.“ Diesen Satz gibt es in zahllosen Varianten und Abwandlungen.

Die dramaturgische Kopplung eines Kontinuitätssignals (normal) und eines Diskontinuitätssignals (neu) ist darin ambivalent, dass sie es Benutzern und Rezipienten überlässt, ob der Ausdruck beruhigt oder beunruhigt. Taktisch kann er für beide Zwecke, für beide Wirkungen, eingesetzt werden. Er gleicht darin einer optischen Kippfigur, in der zwei konnotativ entgegengesetzte Bilder ineinander umschlagen (wie das berühmte Kippbild, in dem man eine alte oder eine junge Frau erkennen kann). Wer die eine Deutungsvariante in den Vordergrund schiebt, kann immer mit der anderen konfrontiert werden.

Vor dem Hintergrund einer diskursiven „Szene“, die von multiplen Denormalisierungsdrohungen umstellt ist, verwischt jede Verwendung des Ausdrucks Neue Normalität / new normal die ohnehin äußerst flexiblen Normalitätsgrenzen. Da kompakte ökonomische und politische Machtakteure Krisen nutzen (und inszenieren), um ihre Machtbereiche auszuweiten, um (bildlich gesprochen) die Pflöcke ein Stück weiter vorne neu einzuschlagen, wird der Ausdruck „Indikator und Faktor“ für die Gebiete, auf denen solche Machtexpansionen stattfinden. Es folgt eine Liste der Themenfelder, auf denen „Neue Normalität“ häufig programmatisch reklamiert wird:

    • Digitale Lehre und Schulen und Hochschulen
    • Beschleunigte Digitalisierung aller Lebensbereiche
    • Home Office
    • Online-Banking, kontaktlos bezahlen
    • Atemmaske, kein Handschlag, Abstand, keine Umarmung
    • Lebensmittel im Internet ordern
    • Flexible Arbeitszeiten statt starrer Routinen
    • Berufliche Prekarität
    • Priorität von Gesundheitsschutz für das Management
    • Telemedizin

Dass der Ausdruck zur verbalen „Begleitmusik“ radikaler Überwachungs-, Flexibilisierungs- und Digitalisierungspolitik werden könnte, erkennt man auch an den häufig belegten Generalformeln des Typs: „Transformation is the new normal“ oder „Change is the new normal“.

Im Gegenzug docken aber auch Ökologen, Wachstumskritiker, Klimaaktivisten gerne programmatisch am Begriff der Neuen Normalität an und fordern nach den Erfahrungen der Coronakrise ein Ende der zerstörerischen Wachstumsdynamiken.

3) Im Börsen- und Finanzbetrieb ist die Kurvensymbolik für Normalität und Neue Normalität zentral. Die „normale“ Börsen- und Wirtschaftswachstumskurve ist die „endlos wachsende Schlange“ (Link 2018: 164ff), die sich mit kleinen Dellen tendenziell nach oben verlängert.

Für tendenziell denormalisierende Krisenverläufe gibt es dann folgende Kurvenvarianten:

    • die V-Kurve, die nach kurzem und steilem Abstieg rasch wieder auf die alte Höhe (oder darüber hinaus: aus der Krise gestärkt hervorgehen) wächst; Sie steht für rasche Renormalisierung;
    • die L-Kurve, die nach steilem Absturz auf sehr viel niedrigerem Niveau verharrt und keine Neigung zeigt, wieder anzusteigen; Sie steht für dauerhafte Denormalisierung, für eine Neue Normalität auf deutlich niedrigerem Niveau, für „Crash und Depression“ (Link 2018: 165);
    • die W-Kurve, deren rasches Auf und Ab (Achterbahn) das Durcheinander der Krise, das Scheitern dauerhafter Renormalisierung symbolisiert;
    • die U-Kurve, die nach längerer Depression nur langsam wieder aufwärts führt und so etwas wie ein new normal unterhalb des „normalen“ Wachstums symbolisiert.

Diese Buchstabenformeln für Entwicklungskurven sind börsenüblich, dienen aber auch als Kollektivsymbole für De- und Renormalisierungen auf anderen gesellschaftlichen Gebieten.

Literatur

Link, Jürgen (2018): Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal. Populismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Zitiervorschlag

Knobloch, Clemens (2020): New Normal / Neue Normalität. In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/corona-ck-2/.