DiskursReview | Beitragsreihe zur Corona-Krise

DiskursReview

Systemrelevant! – Zum politischen Gebrauch eines neu(er)en Schlagwortes in der öffentlichen Kommunikation

Autoren: Fabian Deus, Clemens Knobloch
Version: 1.0 / 09.07.2020

0) Das Adjektiv systemrelevant wird verwendet, um eine Sache als wichtig für ein System auszuweisen. Meist soll durch den Ausdruck darüberhinausgehend festgestellt werden, dass der Fortbestand des Systems ohne die mit ihm markierte Sache nicht möglich oder jedenfalls gefährdet ist. Mit diesen allgemeinen lexikalischen Bedeutungsbeschreibungen ist jedoch noch nicht viel gewonnen, wenn man bedenkt, dass der Ausdruck praktisch exklusiv in bestimmten thematischen (Handlungs-)Kontexten verwendet wird. Hierbei unterliegt sein Gebrauch jeweils spezifischen Konventionen und ist in verschiedene politische Konstellationen und Handlungsmuster eingebettet, und er hat auch jeweils bestimmte Konsequenzen. Zu diesen verschiedenen politischen Gebrauchsvarianten wollen wir hier einige Beobachtungen sammeln.

1) Grundsätzlich sind die „grammatischen“[1] Möglichkeiten des Ausdrucks insofern beträchtlich, als er dazu verwendet werden kann, außergewöhnliche Vorrechte zu erteilen und zu legitimieren (bis hin zu bizarren Syntagmen wie systemrelevante Schattenbanken in der Finanzkrise!), aber auch außergewöhnliche moralische Pflichten aufzuerlegen.

2) Die öffentliche Beanspruchung von Systemrelevanz beruht immer auf einer (oft unausgesprochenen) Unterscheidung: Wo man die Unverzichtbarkeit von bestimmten Menschen herausstellt, muss es auch diejenigen geben, die entbehrlich sind, und vielleicht sogar nutzlos. Und wenn alle (Berufsgruppen, Unternehmen, Menschen…) für das Fortbestehen des ‚Systems’ relevant wären, müsste niemand diesen Status öffentlich einfordern und mit anderen darum konkurrieren, wie es gerade überall zu beobachten ist: Wer für sich Systemrelevanz beansprucht, setzt voraus, dass andere das gerade nicht sind – und somit auch keinen Anspruch auf die indirekt eingeforderte Privilegierung haben (sei es in Form von finanziellen Nothilfen, Kinderbetreuung oder schlicht Aufmerksamkeit). Der Satz „alle sind systemrelevant!“, der hin und wieder zu hören ist, wendet sich gerade gegen die Einteilungen, die dem Systemrelevanzdenken ansonsten zugrunde liegen (vgl. z.B. https://www.nzz.ch/meinung/systemrelevant-sind-wir-alle-ld.1556374).

3) Eingeführt in der Finanz- und Spekulationskrise der Jahre 2008 ff. wurde der Ausdruck zunächst ausschließlich für Finanzinstitute verwendet, deren Bankrott (nach Ansicht der ‚sprechenden‘ staatlichen Stellen) den Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems nach sich gezogen hätte. In diesem Zusammenhang legitimiert der Ausdruck den massiven Einsatz von Steuermitteln zur ‚Rettung‘ privater Geldinstitute, die sich verspekuliert haben. Aus der Zeit vor der Finanzkrise gibt es nur wenige Belege für den Ausdruck. Sie gehören überwiegend ins technische Feld von Computersystemen.

Dabei wurde systemrelevant im deutschsprachigen Raum nach dem Vorbild der Formel too big to fail gebildet, mit der im amerikanischen Diskurs in der Krise 2008 ff. das Problem benannt wurde, dass einige der wankenden Großbanken im Falle ihres Ausscheidens durch die vielfachen gegenseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten das gesamte Banken- und Finanzwesen zum Einsturz gebracht hätten. Dieses Szenario konnten und wollten die Staaten nicht zulassen, so dass sie sich dazu gezwungen sahen, die größten Institute unter allen Umständen am Leben zu erhalten – und damit bestehende Strukturen des entfesselten Finanzkapitalismus zu erhalten. Der Ausdruck (bzw. sein amerikanisches Pendant) ist damit von Anfang an untrennbar mit der praktischen Durchsetzung der staatlich-politischen Krisenmaßnahmen verschränkt, die er mit einem massiven normalistischen Drohpotenzial auflädt und legitimiert.

Die diskursive Fassade der staatlichen Rettungsmaßnahmen ist hierbei erkennbar  selbstwidersprüchlich: Denn die Markierung einer Bank als systemrelevant (oder too big too fail) durch staatliche Stellen kommt ja dem praktischen Versprechen gleich, das Unternehmen im Notfall unter allen denkbaren Umständen aus einer Notsituation zu retten, wie und warum auch immer es in die missliche Lage gekommen ist. Nur verstößt das massiv gegen die proklamierten Regeln des Systems, zu dessen Sicherung diese Maßnahme dienen soll: Denn zu diesen Regeln gehört ja, dass die Akteure, die nicht mehr mithalten können, aus dem Rennen genommen werden. Wo diese Gefahr nicht mehr droht, sind die Spielregeln des Systems (partiell) außer Kraft gesetzt und die Akteure werden zu umso riskanterem Verhalten eingeladen, das erst zu dem Problem geführt hat. Diese Widersprüchlichkeit hat niemand geringeres als der damalige Chef der FED, Ben Bernanke, bereits im März 2009 selbst herausgestellt.[2] An der politischen Durchsetzung der Maßnahmen änderte das bekanntlich nichts; und auch das rhetorische Potenzial des Ausdrucks zur symbolischen Erzeugung von Sachzwängen scheint davon nicht berührt zu werden.

4) In der gegenwärtigen Coronakrise wird der Ausdruck deutlich anders verwendet: für Gewerbe, Berufsgruppen, Einrichtungen, ohne die es (nach Ansicht der „sprechenden“ staatlichen Stellen) unmöglich ist, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben aufrechtzuerhalten. In zahlreichen Belegen bezieht sich das Adjektiv systemrelevant jetzt auf Medizin-, Gesundheits- und Pflegeberufe, auf die Beschäftigten im Einzelhandel, auf Paketboten, auf Kinderbetreuung etc. – kurz: auf die neuen Helden des Alltags.

5) Die Attraktivität der gegenwärtigen Aneignung des Ausdrucks durch andere gesellschaftliche Gruppen beruht gerade auf der konnotativen Verknüpfung des Ausdrucks mit der Finanzsphäre. Seine Beanspruchung durch andere Gruppen impliziert die symbolische Herausforderung der zuvor exklusiv der Finanzwirtschaft zukommenden Anerkennung und Privilegierung durch staatliches Handeln (konkret: der einseitig auf sie bezogenen staatlichen Mittelzuweisungen). Gerade hierin liegt der kommunikative Gebrauchswert des Ausdrucks in der gegenwärtigen Krise: Wer heute beispielsweise auf die prekäre Lage der Beschäftigten im Kulturbetrieb aufmerksam macht und staatliche Hilfsprogramme mit der Herausstellung ihrer Systemrelevanz beansprucht, nutzt die konnotative Koppelung an die Finanzindustrie für seine Zwecke: Mit der Beanspruchung für die Eigengruppe erfolgt unausgesprochen die Aberkennung der Systemrelevanz der Banken und Börsenwelt. „Wir sind eigentlich systemrelevant, und nicht (nur) die Börsenspekulanten“, so der Tenor vieler gegenwärtiger Verwendungen des Ausdrucks. Wer den Ausdruck in dieser Form verwendet, kann sich auf die Zustimmung allderjenigen verlassen, die die implizite Kritik an der (staatlichen Bevorzugung der) Finanzsphäre teilen.

6) Der Ausdruck gehört insofern zum Repertoire der öffentlichen Begründung und Legitimierung ausnahmestaatlicher Aktionen und Maßnahmen, als er mit der Zuweisung besonderer Rechte und/oder besonderer Pflichten an die als systemrelevant markierte Gruppe verbunden ist. Die Zugehörigkeit zu einer für systemrelevant erklärten Gruppe gilt neuerdings als Aufwertung und Anerkennung (und oft auch als symbolischer Ersatz für geringe Bezahlung und schlechte Arbeitsbedingungen).

Ähnlich wie zuvor in der Finanzkrise ist der Ausdruck auch gegenwärtig eng mit staatlicher Maßnahmendurchsetzung und ihrer Lenkung und Legitimierung verbunden. Nur anders als 2008 ist mit dem Label in der aktuellen Konstellation nicht mehr die (erhoffte) Zuwendung der staatlichen Hand verbunden, sondern ganz im Gegenteil der Vorzug, nicht oder nicht vollständig von staatlichen Krisenmaßnahmen betroffen zu sein: In beiden Varianten resultiert eine unterschiedliche Privilegierung aus der Systemrelevanz: Aktive Bevorzugung oder Verschonung von allgemeinen Restriktionen.

7) Weiterhin ist bemerkenswert, dass der Gebrauch des Adjektivs systemrelevant eine Instanz impliziert, die berechtigt ist, dieses Prädikat bestimmten Bereichen zu- und anderen abzusprechen, eine Instanz, die aber selbst stets im Hintergrund bleibt. Für gewöhnlich stehen wertende Adjektive für den jeweiligen Sprecher als wertende Instanz, aber systemrelevant suggeriert im Gebrauch einen Standpunkt, von dem aus ‚das Ganze‘ überschaut werden kann.

8) Mit etwas mehr Abstand betrachtet, gehört das Adjektiv systemrelevant als Symptom zu einer massiven Verschiebung diskursiver Deutungsmuster und Gewichtungen: Einzelne und gesellschaftliche Gruppen sind gehalten, sich selbst und ihre Identitäten durch den Beitrag zu definieren, den sie zur „Erhaltung des Systems“ leisten (vgl. Vobruba 1994) – anstatt eben dieses System selbst in Frage zu stellen. Die immer dichtere Folge systemischer Krisenzustände könnte ja ebenso gut auch zum Anlass genommen werden, die Funktionalität des Systems selbst in Frage zu stellen. Eine solche Perspektivierung wird durch den Gebrauch von systemrelevant jedoch ausgeschlossen. Es geht nach der gängigen Formel immer darum, das System ‚gestärkt aus der Krise hervorgehen‘ zu lassen. Durch die angesprochene Verschiebung wird aber langfristig die „Systemverantwortung“ dezentriert und auf Gruppen verlagert (und damit diffus und nicht mehr adressierbar; vgl. Fischer 2006).

Da Krisenzeiten Stabilitäts- und Sicherheitsbedürfnisse der Einzelnen verständlicherweise  massiv verstärken, bieten sie eine günstige Gelegenheit, Systemstabilität als Imperativ im Wertsystem der Individuen zu verankern. In der Krise mobilisiert das Gefühl, systemrelevant zu sein, auch opferfreudige Gesinnungen. Es wertet symbolisch auf.

Anders gesagt: Der Ausdruck etabliert den Imperativ zur Systemerhaltung als Sachzwang und als moralische Verpflichtung für den Einzelnen. Im Effekt initiiert er einen Wettbewerb um die Zuerkennung des Prädikats systemrelevant an die jeweilige Eigengruppe.  Munitioniert werden Neid- und Konkurrenzdiskurse des Typs: Tattoo-Studios und Muckibuden dürfen wieder öffnen, aber Theater und Kinos nicht – sind die etwa systemrelevant?

Wer sich Systemrelevanz als Imperativ auf die Fahnen schreiben lässt, der verzichtet nicht nur auf die organisierte Vertretung eigener Gruppeninteressen – die würden ja das System gefährden und werden zusehends auch so kodiert in der Öffentlichkeit: man denke an einen Streik des Gesundheitspersonals!  – er verzichtet auch auf die Frage, ob das System nicht vielleicht sogar gegen seine Interessen operiert.

Fußnoten

[1] „Grammatisch“ ist hier nicht im konventionellen Sinne zu verstehen, sondern im Sinne der pragmatischen und dramaturgischen Einsatzmöglichkeiten sprachlicher Ausdrücke, die im Einzelfall „rhetorisch“ variiert werden können (vgl. Burke 1969).

[2] “In a crisis, the authorities have strong incentives to prevent the failure of a large, highly interconnected financial firm, because of the risks such a failure would pose to the financial system and the broader economy. However, the belief of market participants that a particular firm is considered too big to fail has many undesirable effects. For instance, it reduces market discipline and encourages excessive risk-taking by the firm. It also provides an artificial incentive for firms to grow, in order to be perceived as too big to fail. And it creates an unlevel playing field with smaller firms, which may not be regarded as having implicit government support.” Bernanke 2009.

Literatur

Bernanke, Ben S.: Financial Reform to Address Systemic Risk. Rede gehalten am 10. März 2009, online abrufbar unter: https://www.federalreserve.gov/newsevents/speech/bernanke20090310a.htm.

Burke, Kenneth (1969): A Grammar of Motives. Berkeley, L.A.: University of California Press.

Fischer, Karsten (2006): Moralkommunikation der Macht. Politische Konstruktion sozialer Kohäsion im Wohlfahrtsstaat. Wiesbaden: VS.

Vobruba, Georg (1994): Gemeinschaft ohne Moral. Theorie und Empirie moralfreier Gemeinschaftskonstruktionen. Wien: Passagen Verlag.

Zitiervorschlag

Deus, Fabian; Knobloch, Clemens (2020): Thesen zum politischen Gebrauch von systemrelevant. In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/corona-fd-ck-1/.