DiskursReview | Beitragsreihe zur Corona-Krise

DiskursReview

Satzsemantik von Vorhersage und Nutzen-Risiko-Abwägung: Die STIKO-Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige vom 19. August 2021

Autor: Katja Leyhausen-Seibert
Version: 1.0 / 21.02.2022

 “Die Forschung muss… sich in die Lage versetzen, die politischen Implikationen, die sie hat, anzunehmen und auszuforschen, um nicht beim ersten Knall der Peitsche durch alle ihr vorgehaltenen Reifen zu springen. Diese Integrität kann die Wissenschaft gerade dadurch unter Beweis stellen, dass sie dem herrschenden Druck, praktische Tabus in theoretische umzuwandeln, widersteht” (Beck 1986, 283)

 

1. Ausgang von Wissenschaft und Gesellschaft aus ihrer selbstverschuldeten Risikounmündigkeit

1986 hatte Ulrich Beck aus soziologischer Perspektive angenommen, dass uns die Modernisierungs- und Globalisierungsrisiken (Atomkraft, Treibhauseffekt, Klimawandel) in eine selbstreflexive Moderne führen. In dieser zweiten Moderne nach dem industriellen Zeitalter würden – als Modernisierung der Modernisierung – die Risiken reflektiert werden müssen, die durch die Erfolge von Wissenschaft und Technik selbst produziert werden. Beck meinte (ebd. 13-15), die “Innen- und Außenbeziehungen der wissenschaftlichen Arbeit” in ihrem Verhältnis zu Politik, Praxis, Öffentlichkeit würden dynamisch. Denn obwohl Risikogesellschaften auf Wissenschaft notwendig angewiesen sind, so ist doch das, was in einer Gesellschaft als Risiko anerkannt wird, keine Frage, die mit Wissenschaft zu beantworten wäre: Es ist eine Frage von kulturellen Werten, gesellschaftlichen Normen und ökonomischer sowie politisch-medialer Macht. Man kann das satzsemantisch begründen, mit der Konstituierung von Aussagenbedeutung im Satzzusammenhang (Polenz 32008): Ein Risiko, eine Gefahr, eine Bedrohung ist immer ein Risiko, eine Gefahr, eine Bedrohung für jemanden oder etwas. Wer oder was dabei im Diskurs hinter dem für thematisiert wird, das bestimmen eben jene Werte, Normen und Akteure der Macht. Wenn eine gesellschaftliche Gruppe, die eine subjektive Bedrohung für sich und ihre Interessen ausmacht, die politische Macht und öffentliche Meinungsmacht in ihren Händen hält, dann geraten Gefahren für andere, unterrepräsentierte Gruppen gar nicht erst in den Bereich des Diskussionswürdigen, so sachlich sie von Wissenschaftlern auch begründet und empirisch aufgezeigt werden, so objektiv sie auf einem Nebengleis wissenschaftlicher Publikationen auch dargestellt werden. In Risikogesellschaften kann Wissenschaft jederzeit politisch instrumentalisiert werden, um Risiken zu verteilen, umzuverteilen, von sich selbst auf Schwächere wegzuverteilen.

Und wie bei der Reichtumslogik, mit der Ulrich Beck (1986, 17) die Logik der Risikoverteilung vergleicht, kann es von Sicherheit und Gesundheit gar nicht genug geben: Es gibt kein allgemeingültiges oder gar wissenschaftliches Maß dafür, weil auch Sicherheit und Gesundheit in ihrem Kontext ein für verlangen. Deshalb sind, beispielsweise in Zeiten einer weltweiten Epidemie, umfassende gesellschaftliche Risikoabwägungen nötig und damit auch eine selbstreflexive Wissenschaft, die ihren Anteil, ihre Voraussetzungen, Funktionen und Vorteile bei der gesamtgesellschaflichen Risikoproduktion, – diskussion und -distribution selbstkritisch “ausforscht”. Beck (ebd. 292, 298) prognostizierte den “Ausgang der Wissenschaft aus ihrer eigenen Risikounmündigkeit” und die Entwicklung der Gesellschaft hin zu einer “selbstkritischen Gesellschaft”.

 

2. Technizismus und Katastrophismus

Beck ahnte allerdings auch, dass sich vielleicht alles ändert – und doch gar nichts. In der Tat: Mehrheitlich und in den verantwortlichen Positionen (in Wissenschaft, Politik, Öffentlichkeit, Rechtsprechung) leben wir noch lange nicht im Bewusstsein einer reflexiven Moderne und Risikogesellschaft, sondern wir “igeln uns in Kernideologien ein” und “frönen einem über sich selbst hinaus verlängerten Ordnungsanspruch der Vergangenheit, dem die Gegenwart und die Zukunft entglitten ist” (Beck 1986, 17). Denn das “Schreckenspanorama einer sich selbst gefährdenden Zivilisation” provoziert in allen sozialen Bereichen “Verunsicherungen” darüber, was alles noch Schlimmes passieren kann, welche Maßnahmen dagegen gesetzt werden müssen, welche Lebensweisen wir noch erhalten dürfen, was andere so alles tun und beitragen sollen. Diese Verunsicherung ist selbst ein Problem und eine Gefahr für unser vielfältiges gesellschaftliches Zusammenleben. Beck erwartete einerseits Bestrebungen, sie “zu leugnen” und so zu tun, als könne eine Gruppe von Wissenschaftlern mit ihren neuen Technologien alles in der Hand haben. Die Verehrung des autoritären Expertentums und der Technomythos bleiben (Gorz 1992/2019; Fraser 2021), der risikounmündige Glaube wird nur von den energieerzeugenden Kohle- und Kernkraftwerken übertragen auf andere Technologien: grüne Energien, smarte Technologien, Künstliche Intelligenz, Genforschung, neue Impftechnologien, digitale Zukunftsmodellierungen, Technologien des Social Engeneering wie nudging, gamification, social distancing … Andererseits erwartete Beck Bestrebungen, der allgemeinen Verunsicherung “distanzlos zu folgen” und sie dadurch immer noch weiter anzuheizen. Solche katastrophistischen Diskurse treten mit dem Anspruch auf, Katastrophen vorwegzunehmen, um sie genau dadurch doch noch zu verhindern. Beide Diskurse – Technizismus und Katastrophismus – werden den Herausforderungen beim mündigen Umgang mit Epidemie und Klimawandel nicht gerecht. Die allgemeine Verunsicherung technizistisch zu “leugnen, das ist “zynisch”; sie katastrophistisch zu instrumentalisieren, “gefährlich”.

 

3. Sprachwissenschaft der Vorhersage am Beispiel der aktualisierten STIKO-Impfempfehlung für 12- 17-Jährige

Wenn Sprachwissenschaft die selbstreflexive Moderne mitgestalten will, dann sollte sie Nutzen-Risiko-Abwägungen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und  Politik “ausforschen”. Mit satzsemantischen Methoden (Polenz 32008) kann man Aussagen und Sprechakte erforschen, durch die Vorhersagen für die Zukunft getroffen und die dabei an Aussagen über Gegenwart- und Vergangenheit rückgebunden werden. Dabei könnten die Modalverben ins Zentrum geraten, mit folgenden Aussagen bspw. für können:

  1. Eher politische Aussagen, die mit warnender oder drohender (vielleicht katastrophistischer) Geste (schlimmste) Risiken und Gefahren für die Zukunft (als sicher) vorwegnehmen, um zu sagen, was uns noch alles Schreckliches passieren kann.
  2. Eher politische Aussagen, die (mit dem Verweis auf einzelne Erfolge in der Vergangenheit) Rettung aus der Gefahr versprechen, um (vielleicht mit technizistischem Unterton) zu verheißen, was uns aus welchen (neuen, digitalen …) Technologien an Rettung erwachsen kann.
  3. Allgemeine empirische Aussagen darüber, was – nach Maßgabe unseres Erfahrungswissens – überhaupt so alles geschehen bzw. getan werden kann.
  4. Eher wissenschaftlich beschreibende Aussagen, die besagen, wer oder was (mit welchen Mitteln, unter welchen Voraussetzungen, bei welchen Problemen) welche nützliche oder schädliche Wirkung hervorrufen kann.
  5. Praxisbezogene Vorschläge in der Öffentlichkeit darüber, wie Menschen zur Lösung ihrer gemeinsamen Herausforderungen miteinander kooperieren und sich im Rahmen demokratischer Institutionen gegenseitig unterstützen können.

Als Beispiel untersuche ich die “Aktualisierung der  COVID-19-Impfempfehlung” der Ständigen Impfkommission vom 19.8.2021, die sich auf die 12- bis 17-Jährigen bezieht: Die ursprüngliche STIKO-Empfehlung (vom Juni desselben Jahres), vorerkrankte Kinder und Jugendliche dieser Altersgruppe gegen diese Erkrankung mit einem der beiden zugelassenen Impfstoffe zu impfen, wurde auf gesunde Kinder und Jugendliche dieser Altersgruppe allgemein ausgedehnt, und zwar nicht als Standardimpfempfehlung, sondern als “Indikationsimpfempfehlung im Rahmen einer Pandemie” (STIKO, 3). Das ehrenamtliche Gremium aus 18 Medizinern ist per definitionem von der Politik unabhängig; es ist aber dem RKI und damit wiederum dem Bundesgesundheitsministerium zugeordnet. Wie das RKI, so soll auch die STIKO die politischen Entscheidungsträger in Fragen der Bevölkerungsgesundheit beraten. Außerdem richten sich Ärzte in der Regel nach ihren Empfehlungen, und in Zeiten der Epidemie auch die Öffentlichkeit. Allgemein geht es ihr nicht um die Vorwegnahme zukünftiger Gefahren. Die Schwere von Krankheit und Pandemie werden vorausgesetzt; und propagiert wird der durch Wissenschaft und Technologie vorangetriebene, rettende Ausweg aus der Gefahr durch Impfungen. Folgender Satz ist dort zentral; er weist diesen Ausweg und wird deshalb mehrfach (in Variation) wiederholt:

“Auch Impfungen können dazu beitragen, Infektionen und deren Folgen einschließlich Isolations- und Quarantänemaßnahmen zu reduzieren” (ebd. 26).

Der Satz steht mitten im Text, am Ende des 4. Kapitels; er hat dort eine überleitende Funktion. Denn der Text gliedert sich in zwei Teile: Die wissenschaftlich-beschreibende Darstellung von Erkrankung, Übertragbarkeit und ihren Folgen bei Kindern und Jugendlichen zum einen (Kap. 2 bis 4) sowie zum anderen die die Impfempfehlung stützenden Kapitel (Kap. 5 bis 7) mit dem Bericht über Wirksamkeit und Sicherheit der beiden Impfstoffe, mit einer Modellierung der positiven Effekte von Impfungen für das Gesundheitssystem und einer Darstellung des Zusammenhangs von STIKO-Impfempfehlung und der Impfakzeptanz bei Eltern und Jugendlichen. Drei um dasselbe Prädikat herum gruppierte Hauptaussagen konstituieren die Bedeutung des Satzes:

I) „Impfungen können dazu beitragen, Infektionen … zu reduzieren
II) „Impfungen können dazu beitragen, … Isolations- und Quarantänemaßnahmen zu reduzieren
III) „Impfungen können dazu beitragen, Infektionen und deren Folgen … zu reduzieren

Aussage I und II sind von gleicher Relevanz, auch wenn Aussage II an der Oberfläche des Satzes mit einschließlich eingeleitet, d.h. nur als syntaktischer, syntaktisch und semantisch nebenrangiger Zusatz zur Aussage I behandelt wird. Aussage III dient dazu, die beiden Hauptaussagen semantisch und logisch miteinander zu verbinden.

Satzsemantik geht analytisch vom Prädikat im Kern der Aussage aus, das hier syntaktisch aus mehreren Verben zusammengesetzt ist. Es drückt eine erhöhte Vorsicht der STIKO bei ihrer Festlegung auf die rettende Maßnahme aus, denn es heißt nicht (Impfungen) reduzieren, nicht einmal (Impfungen) können reduzieren, sondern (Impfungen) können beitragen … zu reduzieren: Sie wirken also nicht (sie reduzieren nicht), sondern sie wirken nur, um zu wirken (tragen bei zu reduzieren), und auch das können sie nur. Das inhaltlich (im Prädikat) zentrale Verb reduzieren ist semantisch vage und mehrdeutig, denn es regiert drei verschiedene Akkusativobjekte: Infektionen, deren Folgen sowie Isolations- und Quarantänemaßnahmen. Diese Akkusative bilden dreimal dieselbe semantische Rolle des affizierten, vom Reduzieren betroffenen Objekts (Polenz 32008, 170f.). Und mit dem jeweiligen Objekt wird auch die Bedeutung von reduzieren semantisch variiert. Es heißt: Impfungen hätten

in I) eine medizinische Reduktionswirkung zur Verhinderung von Infektionen und Infektionsfolgen (Erkrankungen der Kinder und ihrer Umgebung)
in II) die Wirkung einer gesellschaftlich-politischen Einflussnahme zur Reduktion und Verhinderung politischer Maßnahmen (die schädlich sind für die Kinder)
in III) eine allgemeine reduzierende Wirkung gegen Folgen von Ereignissen in Pandemie-Zeiten überhaupt.

Vom Modalverb können ist die Verb-Verbindung beitragen zu reduzieren syntaktisch abhängig, es modifiziert die Aussage und Sprachhandlung in I bis III jeweils anders (am übersichtlichsten laut Duden 41984).

 

3.1. Impfungen können Infektionen reduzieren: Allgemeinplatz und wissenschaftliche Evidenz

 

3.1.1. Der Allgemeinplatz der medizinischen Wirkung von Impfungen

In der Aussage (I) Impfungen können dazu beitragen, Infektionen … zu reduzieren hat können die objektive bzw. extrasubjektive Funktion (Duden 41984, § 131; vgl. auch Duden Duden 72005, § 818), derzufolge allgemeine Erfahrungssätze als Regeln formuliert werden, analog zu: Fische können schwimmen. Wasser kann Strom leiten. Frauen können Kinder gebären. Impfungen können Infektionen reduzieren …  Solche Erfahrungssätze sind satzsemantisch zu paraphrasieren als Ich weiß/Wir wissen: Fische, Wasser, Impfungen haben die Fähigkeit/die Wirkung/den Nutzen, Infektionen zu reduzieren, Strom zu leiten, zu schwimmen … Mit dem Prädikat wird die objektive, vom jeweiligen Sprecher unabhängige Fähigkeit/Möglichkeit/ Eignung des absoluten Objekts im Nominativ zu einer Wirkung ausgesagt. Es besteht dabei ein Unterschied zum jeweils analogen Satz mit dem einfachen Vollverb Fische schwimmen, Wasser leitet Strom, Impfungen reduzieren Infektionen: Bei Verwendung des Modalverbs wird keine bloße Aussage über den jeweiligen Sachverhalt getroffen, sondern zugleich (nicht zusätzlich oder gar nebenbei) eine positive Bewertung vorgenommen. Diese Verwendung des Modalverbs gehört in einen kommunikativen Kontext, wo die Fähigkeit von Fischen, die technisch nutzbaren Möglichkeiten von Wasser und der medizinische Nutzen von Impfungen positiv herausgehoben werden. Das Modalverb ist hier ein Zeichen dafür, dass die STIKO-Empfehlung nicht in einem wissenschaftlich-neutralen Kontext erfolgt, sondern in dem bekannten kommunikativen Kontext zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, wo Wirkung und Nutzen dieser Impfungen einerseits erwünscht, andererseits durchaus in Frage gestellt werden.

In der ersten Bezugsstelle des komplexen Verbalprädikats steht im Nominativ das Verbalabstraktum Impfungen. Es nimmt die semantische Rolle des Causativs ein (Polenz 32008, 171), welches die medizinische Wirkung (also: die Möglichkeit einer Wirkung bei der Wirkung) verursacht. Doch bezüglich des ausgesagten medizinischen Wirkungsszusammenhangs ist das Causativ semantisch vage. Denn es bleibt in dieser Formulierung in diesem Satz die Frage offen, wer wen (unter welchen Umständen) gegen was impft, wer von wem gegen was (unter welchen Umständen) geimpft wird. Die Doppeldeutigkeit von Nomen acti und Nomen actionis kommt hinzu, d.h., von Handlungsbezeichnung und Handlungsergebnisbezeichnung: Wenn einer einen anderen aktiv impft/geimpft hat, dann ist, im Ergebnis und von der umgekehrten Perspektive her, dieser andere geimpft (Polenz 32008, 290f.). Wenn besonders viele durch aktives Handeln geimpft werden, dann ist im Ergebnis sogar eine ganze Masse, Population oder Bevölkerung geimpft. Deshalb ist die vage Semantik von Impfungen sogar zur Interpretation als Vorgangsprädikat offen: Impfungen müssen als Handlungen vollzogen werden, aber mit Blick auf eine Masse vollzogener Impfungen in ihrem Ergebnis kann man sie – in diesem Satz der wissenschaftlichen Impfkommission – auch als Vorgang auffassen, der wie ein Naturereignis oder ein technisches Vorkommnis unwillkürlich passiert bzw. passiert sein wird. Dann wäre dafür niemand mehr verantwortlich zu machen.

Zu dieser unbestimmten Semantik trägt die fehlende Identifizierung durch ein Artikelwort bei sowie die unbestimmte Quantifizierung/Mengenbestimmung von Impfungen im unbestimmten Plural bei. Bei diesem Plural ist es denkbar, dass die totalisierende Bezeichnung einer Gesamtmenge mit dem All-Quantor mitgelesen wird (Polenz 32008, 146). Man versteht dann, dass alle Impfungen diese Wirkung (die Möglichkeit der Wirkung zur Wirkung) haben können. Diese Aussage ist freilich so uninformativ, dass sie kaum in einen wissenschaftlichen Text gehört – es sei denn zu rhetorisch-argumentativen Zwecken im Angesicht eines nicht-wissenschaftlichen Adressatenkreises. Im STIKO-Bericht wird mit ihr ein persuasiver Schluss vom Allgemeinen zum Besonderen hin angeregt, den die Leser aus Politik und Öffentlichkeit (Frauen, Männer, alle) selbst zu ziehen haben, weil er nicht explizit ausformuliert wird, und der heißt: Weil viele oder (noch überzeugender) alle Impfungen, unserer allgemein menschlichen bzw. wissenschaftlichen Erfahrung nach, beitragen können, viele oder (noch überzeugender) alle viralen Infektionen zu reduzieren, werden es auch diese spezifischen Impfungen bei dieser spezifischen Infektion tun.

Mit dem Philosophen des praktischen Schließens Charles S. Peirce könnte man einwenden, dass sich ein solcher deduktiv-analytischer Schluss leicht durch die sprachliche Anordnung seiner Voraussetzungen manipulieren lässt (Peirce 1878/1967, 368), indem man bspw. die neue präventive Behandlungsmethode gegen COVID-19 lexikalisch mit traditionellen Impfmethoden gleichsetzt und sie, wie diese, ganz unspektakulär Impfungen nennt. Der Beweis steckt dann schon im einzelnen Wort – das Wort selbst ist der Beweis für die Gültigkeit des Schlusses. In seiner Analytischen Philosophie der Geschichte spricht Arthur Danto (1974, 200f.) von “begrifflichen Beweisen”. Der deduktive Schluss ergibt sich nicht aus einer offen dargelegten Argumentation in der Sache, sondern aus den semantischen Präsuppositionen in ihrem Vorfeld – die in Frage zu stellen für den Leser einen viel größeren kognitiven und kommunikativen Aufwand bedeutet (Polenz 32008, 307f.).  Der von der STIKO hier angeregte Schluss vom (vergangenen) Allgemeinen bekannter, traditioneller Impfungen aufs (zukünftig) Besondere der neuen Corona-Impfungen ist in der Impfkampagne von Politik und Öffentlichkeit mindestens so allgegenwärtig wie das Virus selbst. Jeder, der nach (Beweisen für) Nutzen und Wirkung der Corona-Impfungen bei Kindern fragt, wird zuerst einmal darüber belehrt, dass wir – nach einer einzigartigen medizinischen Erfolgsgeschichte – wissen: Impfungen können Infektionen reduzieren. Würde in Politik, Medien und Öffentlichkeit genauso oft wiederholt werden, dass es sich bei den mRNA-Impfstoffen um eine neue medizinische, vor der Pandemie von den Behörden nicht zugelassene Präventionsmethode handelt, wie man dort wiederholt hat, dass es sich bei SARS-CoV-2 um ein neues Corona-Virus handelt, dann wäre dieser Satz in der Impfkampagne nicht so erfolgreich; und er würde auch in diesem STIKO-Bericht fehlen.

Durch diesen unausgesprochenen argumentativ-rhetorischen Zusammenhang in dieser Aussage (I) wird nicht nur eine empirisch vielfach bestätigte Erfahrung formuliert; im Sprechakt wird nicht nur die Feststellung/Behauptung einer wahren (Erfahrungs-)Tatsache über objektive Möglichkeiten vollzogen. Der Interpretationsspielraum bei solch allgemeinen Erfahrungssätzen mit können ist groß, weil mit können in seiner subjektiven, epistemischen Bedeutung zugleich eine unsichere Einstellung zum Wahrheitswert geäußert wird (Duden 41984, 133; Duden 72005, § 816; Polenz 32008, 214f.): Es wird zugleich ein hypothetischer Sprechakt im Bereich der Vorhersage zukünftiger Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten vollzogen. Die STIKO (weiß nicht, sondern) vermutet und stellt die Hypothese auf: Weil wir bisher die positive Erfahrung mit Impfungen im Allgemeinen gemacht haben, könnte und möge es auch bei diesen Impfungen so sein – und bei dieser Population. Aus der Hypothese geht die Impfempfehlung direkt hervor. Dieser spekulative Schluss von der Erfahrung bzgl. vieler/ aller bekannten Impfungen hin zu den Corona-Impfungen, vor allem zur Impfung Heranwachsender wird von vielen in der Gesellschaft nicht mit vollzogen. Aufgabe der STIKO-Empfehlung ist es deshalb, in einer “Wissenschaftlichen Begründung” und mit einer Nutzen-Risiko-Abwägung diesen Schluss genauestens nachvollziehbar zu machen.

 

3.1.2 Impfungen können politische Maßnahmen reduzieren. Können Sie?

Die Begründungspflicht gilt insbesondere für den ganzen Satz, dessen zweite Hauptaussage (II) heißt: Impfungen können dazu beitragen, … Isolations- und Quarantänemaßnahmen zu reduzieren. Das Modalverb hat in dieser Aussage noch mehr spekulative, hypothetische Funktion. Denn als Bezugsgröße, auf die sich die potentielle Reduktionswirkung von Impfungen richtet, fungieren hier politische Isolations- und Quarantänemaßnahmen. Erst durch diese Ausformulierung dieses affizierten Objekts (Polenz 32008, 170f.) ganz am Ende des ganzen Satzes wird deutlich, dass es hier um diese spezifischen Impfungen gegen COVID-19 geht. Denn die angesprochenen Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen sind geschichtlich einzigartig. Die Isolations- und Quarantänemaßnahmen sind keine medizinische Folge von Infektionen, auch nicht Folge dieser Infektionen, sondern eine Folge politischer Entscheidungen. Deshalb heißt beitragen zu reduzieren in dieser zweiten Hauptaussage (im Gegensatz zur ersten), nicht mehr medizinisch unterstützen, sondern sozial und politisch Einfluss nehmen. Der in (I) ausformulierte allgemeine empirische Erfahrungssatz und der deduktive Schluss werden dabei durchkreuzt: Man kann, der allgemeinen Erfahrung und wissenschaftlichen Erkenntnis entsprechend, sich nicht (passiv) gegen eine Isolationsmaßnahme wie z.B. gegen eine Gefängnisstrafe impfen lassen oder (aktiv) jemanden bspw. gegen soziale Vereinsamung impfen. Das sagt uns unsere geschichtliche Erfahrung; auch das Naturereignis solcher Impfungen ist bisher nicht beobachtet worden.

Wie also könnte sich der behauptete politisch-öffentliche Wirkungszusammenhang gestalten? Wenn man nicht annehmen will, dass die STIKO eine autoritäre Obrigkeitspolitik propagiert, wo diejenigen Heranwachsenden einen Nachlass bei Isolation und Quarantäne bekommen, die sich der allgegenwärtigen politischen Aufforderung zu Impfungen unterordnen, dann verweist dieser Satz auf einen noch viel komplexeren Schluss als den für (I) besprochenen Schluss vom Allgemeinen aufs Besondere. In der Formulierung wird er extrem verkürzt nur angedeutet; ich gebe ihm hier die ausführliche Form einer Deduktion:

Regel: Kinder und Jugendliche, die (in Bezug auf COVID-19) nicht gefährdet, nicht ansteckend und sachlich-medizinisch keine Gefahr für ihre Mitmenschen sind, müssen/sollen/dürfen/können nicht isoliert werden bzw. können/müssen/sollen/dürfen von der Quarantäne befreit werden.

Fall: Kinder und Jugendliche, die (gegen COVID-19) geimpft (worden) sind, sind nicht gefährdet, nicht ansteckend und keine Gefahr für ihre Mitmenschen. Aber Kinder, die nicht (gegen COVID-19) geimpft (worden) sind, sind gefährdet, ansteckend und eine Gefahr für ihre Mitmenschen.

Ergebnis: Kinder und Jugendliche, die geimpft (worden) sind, können von der Quarantäne befreit werden bzw. müssen/sollen/dürfen/können nicht isoliert werden. Aber Kinder, die nicht (gegen COVID-19) geimpft (worden) sind, können/dürfen nicht von der Quarantäne befreit werden bzw. müssen/sollen/dürfen/können weiterhin isoliert werden.

Die zentrale Aufgabe der Impfempfehlung ist es deshalb darzustellen, was eigentlich der Fall ist. Erst dann lassen sich beide Aussagen mit können – der Allgemeinplatz über die medizinische Wirkung wie auch die politische Aussicht  – interpretieren und bewerten.

 

3.1.3 Kinder können an COVID-19 erkranken, sie können schwer erkranken

Zum Fall äußert sich die STIKO in Kapitel 2 und 3 über “Krankheitsbild” und “Epidemiologie” von COVID-19 in dieser Altersgruppe. Da sie sich an Politik und Öffentlichkeit wendet, tut sie das in einem zwar spezialisierten, aber doch allgemein verständlichen Funktionalstil, der der üblichen satzsemantischen Textanalyse gut zugänglich ist. Einleitend heißt es, wie bei Fische können schwimmen, Impfungen können beitragen Infektionen zu reduzieren: “Kinder aller Altersgruppen können sich mit SARS-CoV-2 infizieren, an Covid-19 erkranken und zu Überträgern der SARS-CoV-2-Infektion werden” (STIKO, 11).

Das ist ein weiterer allgemeiner Erfahrungssatz, der in der Argumentation für die Impfempfehlung eine wichtige Voraussetzung bildet. Da dieser Satz über Kinder syntaktisch und satzsemantisch ähnlich gestaltet ist, antwortet er regelrecht auf Aussage (I) über Impfungen. Er weist allerdings einen entscheidenden Unterschied zu ihm auf: Alle Impfungen können Infektionen reduzieren; aber können auch alle Kinder an COVID-19 erkranken bzw. es weiterverbreiten? Impfungen sind von ihrer lexikalischen Semantik her dadurch definiert, dass sie Infektionen verhindern, aber Kinder sind semantisch nicht dadurch bestimmt, dass sie an Sars-CoV-2 erkranken oder es übertragen. Für den logischen Schluss gilt hier die umgekehrte, nicht die deduktive, sondern die induktive Richtung: nicht vom Allgemeinen zum Besonderen, sondern von beobachteten Einzelfällen auf weitere (oder alle) Fälle der Kinder: Wir haben erfahren: Es ist schon passiert, dass Kinder an COVID-19 erkrankten usw. Wir nehmen deshalb an, dass es wieder und vielleicht häufig passieren kann. Es handelt sich um ein ganz anderes Können: Nicht ein positiver Nutzen ist im Allgemeinen bestätigt und deshalb auch in diesem spezifischen Fall erwartbar. Sondern aufgrund der vorliegenden Fälle nehmen wir hypothetisch an, dass es ein Risiko für weitere Kinder gibt.

Um den Fall der nicht geimpften Kinder und Jugendlichen zu erörtern, nennt die STIKO die “wissenschaftlichen Daten und die Evidenz, die sie bei ihrer Entscheidung berücksichtigt hat” (ebd. 11), über Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit von Suszeptibilität und Transmissivität der Kinder und Jugendlichen dieses Alters: Sie haben „eine geringere Suszeptibilität für SARS-CoV-2- Infektionen als Erwachsene” (ebd. 12). “Im Vergleich zu Erwachsenen war die … Infektion bei Kindern 5mal häufiger asymptomatisch” (ebd.). Einer Studie zufolge gab es meistens “Fieber und Husten” (bei 40-60%), aber kaum Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit; einer anderen Studie zufolge waren die häufigsten Symptome Kopfschmerzen (62%) und Abgeschlagenheit (55 %)” (ebd. 11). “Länger andauernde Erkrankungen waren selten (ebd.). “COVID-19 ist in der Regel eine milde Erkrankung im Säuglings-, Kinder-, und Jugendalter” (ebd. 13). “Bei 12-17-jährigen Kindern und Jugendlichen hat COVID-19 meistens einen milden Verlauf” mit einer “Hospitalisierungsrate” bei den Betroffenen von 1 % bis “etwa 0,1%” (je nach ein Einbezug auch der nebenbefundlichen und asymptomatischen Fälle). Die “Letalität” liegt bei “0,001%. Zur “Immunantwort” bei “Infektion” heißt es: Kinder und Jugendliche weisen, noch etwas mehr als andere „ungeimpfte rekonvaleszente“ Personen, “eine breite B- und T-Zell-Immunantwort auf”, die auch “dauerhafter” ist, “trotz des häufigen asymptomatischen” Auftretens (ebd. 12; 25). “Die verfügbaren Studien zur Transmission weisen darauf hin, dass Kinder- und Jugendliche eine untergeordnete Rolle bei der Weiterverbreitung von SARS-CoV-2 spielen … Die sekundären Infektionsraten … von < 18-jährigen Indexfällen waren signifikant niedriger als die von erwachsenen Indexfällen … Haushalte mit Kindern und Jugendlichen waren signifikant seltener vollständig seropositiv als Haushalte ohne Kinder“ (ebd.). Es zeigte sich, “dass das Übertragungsrisiko … in Kitas und Schulen niedrig ist” (ebd. 13). “Die primäre Quelle von Infektionen sind Haushaltskontakte. Übertragungen in Schulen und anderen Betreuungseinrichtungen spielen eine untergeordnete Rolle” (ebd. 25).

Mit diesen Aussagen korrigiert die STIKO die Alltagserfahrung über Kinderinfektionen nach Maßgabe der wissenschaftlichen Evidenz ausdrücklich: Kinder können an der Epidemie beteiligt sein (es besteht diese Möglichkeit), doch sie tun es in einem geringen Maße. Diese relative Irrelevanz der Erkrankung für Kinder und ihrer Infektiosität für andere wird allerdings im Rahmen der Risikoabwägung von der STIKO selbst als irrelevant herabgestuft. Sie gibt ihren Aussagen ein Risiko-Relief durch eine konzessive Aussagenverknüpfung mit jedoch/aber, um zu sagen, dass sich “aber … bei einem geringen Anteil der betroffenen Kinder und Jugendlichen ein schwerer Krankheitsverlauf entwickeln … kann … mit einer kardialen Beteiligung” und mit “chronischer Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen” in der Folge (ebd.11-13, 15). Bei den bisherigen Erhebungen seien die Fallzahlen nicht ausreichend, um diese “seltenen Komplikationen zu erfassen” (ebd. 16). Dennoch wird aus dem sehr seltenen und noch kaum erkennbaren Krankheitsbild ausdrücklich eine Schlussfolgerung bzgl. der Impfempfehlung gezogen: “Hieraus folgt, dass bei der Bewertung des Nutzens der Impfung … auch seltenere …  Komplikationen relevant sind” (ebd. 12).

 

3.1.4.  Wir können nicht viel über Wirkung und Sicherheit der Impfungen für Kinder sagen, aber… : Unsicherheiten bei der Nutzen-Risiko-Abwägung

Bzgl. der Wirkung und Sicherheit der Impfungen/Impfstoffe berichtet die STIKO aus den Studien der Hersteller selbst (ebd. 26-30; 30-35): Es habe sich eine “Nicht-Unterlegenheit der Serokonversionsrate der 12-17-Jährigen gegenüber den 18-25-Jährigen” gezeigt (ebd. 31f.; 28). Bei beiden Impfstoffen habe sich “rein rechnerisch eine Vaccination efficiency von 100 %” ergeben (ebd. 28, 32). Für jeden der beiden Impfstoffe heißt es im Wortlaut einzeln, aber identisch: “Schwere Erkrankungen und Hospitalisierungen wurden weder in der Impfstoffgruppe noch in der Placebogruppe beobachtet” (ebd.). Die 100 % Wirksamkeit beziehen sich also auf die asymptomatischen und milden Infektionen. Über die Sicherheit der Impfstoffe heißt es, den Zulassungsstudien entsprechend: “Impfreaktionen … waren größtenteils mild bis moderat ausgeprägt” (ebd.). Das Fazit der STIKO heißt: “Die Zulassungsstudien belegen eine sehr gute Wirksamkeit … gegen leichte bis mittelschwere Erkrankungen (ebd. 35).

Man darf davon ausgehen, dass die STIKO zur Stützung ihrer Impfempfehlung den allgemeinen Erfahrungssatz über Impfungen (Impfungen können Infektionen reduzieren) gerne spezifizieren würde, um zu sagen: Die schweren COVID-Erkrankungen in der Altersgruppe können effektiv in Zahl und Schwere durch diese Impfungen verhindert werden, und schaden können sie den Kindern nicht. Doch diese Aussage geben die Zulassungsstudien nicht her. Deshalb verwendet die STIKO das Modalverb stattdessen in Aussagen auf der Metaebene. Wiederum mit der objektiven bzw. extrasubjektiven Funktion des Modalverbs formuliert sie (keine allgemeinen Erfahrungssätze, sondern) sehr konkrete empirische Aussagen (nicht über Fische, Kinder, Impfungen, sondern) über sich und die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit (unpersönlich, mit dem Handlungspassiv): In Bezug auf die Wirkung gegen milde Verläufe “kann über die Schutzdauer noch keine Aussage getroffen werden” (ebd. 35). “Die Wirksamkeit … gegen schwere Erkrankungen, Hospitalisierung und Tod konnte aufgrund der Seltenheit dieser Ereignisse nicht bestimmt werden” (ebd.).

Eine besondere Rolle spielen Herzerkrankungen. Als Folge einer COVID-19-Infektion bekommen sie ein besonderes Gewicht in der Abwägung zugunsten der Impfempfehlung. Über dieselbe Impffolge heißt es: “Bei kurzer Nachbeobachtung und relativ kleinen Studienpopulationen können sehr seltene Nebenwirkungen nicht sicher erkannt werden.” Sie sind “erst bei der breiten Anwendung der mRNA-Impfstoffe als sehr seltene wahrscheinliche Folge der Impfungen aufgefallen” (ebd. 36). Diese kardialen Risiken der Impfung für Kinder und Jugendliche lauten folgendermaßen: “Die Behandlungsdaten sind noch vorläufig und unvollständig” (ebd. 34). Die höchste Melderate von Herzerkrankungen nach Impfung bei allen (die Erwachsenen eingeschlossen) liegt bei 12- bis 17-jährigen Jungen (ebd. 32), und die “beobachtete Zahl übersteigt die erwartete Anzahl deutlich” (ebd. 34). Das sei ein “eindeutiges Sicherheitssignal”, das aber in den USA wegen der höheren Krankheitslast von COVID-19 bei Jugendlichen dort übergangen worden ist (ebd. 35). (Dort wurde also die Abwägung vorgenommen). Die STIKO erwähnt unabgeschlossene, noch nicht genesene Fälle, außerdem mangelnde Behandlungsdaten und unvollständige Meldedaten überhaupt (ebd.). Es gäbe in den USA lediglich ein „passives Meldesystem“ für Nebenwirkungen. Daher “ist eher mit einer Untererfassung zu rechnen” (ebd. 34).

Bei der Darstellung dieser “unerwünschten Ereignisse” lässt sich die STIKO nicht auf eine souveräne Risikoabwägung ein. Stattdessen verläuft sich ihre Argumentation ab hier in Unsicherheit. Aus dem konzessiven jedoch/aber der Profilierung von Risiken wird unwillkürlich ein Unsicherheitssignal: Auf jedes aber folgt ein weiteres aber, und eines widerspricht dem anderen; paraphrasiert und zusammengefasst etwa folgendermaßen: Es gibt in der Folge der Impfungen ein Risiko für Herzerkrankungen besonders für diese Altersgruppe (bei Jungen), das wir in seinen Ausmaßen nicht kennen und das wir gegen den Nutzen der Impfung nicht abwägen können. Diese Erkrankungen sind aber sehr selten (ebd. 4), und ihr Verlauf ist milde (ebd. 34). Aber wir können nichts über die Langzeitfolgen einer solchen Erkrankung sagen (ebd. 36). (Dieses Risiko wird mit jedoch und durch mehrfache Wiederholung besonders gewichtet). Aber die Impfungen sind sehr sicher, und wir empfehlen sie. Als Leser ergänzt man noch: Aber wir haben nur ein passives Meldesystem, unvollständige Meldedaten und eine Untererfassung (ebd. 34f.). Bei diesen Unsicherheiten in der medizinisch-wissenschaftlichen Abwägung ist die Impfempfehlung für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine Wette auf die Zukunft.

 

3.2 Impfungen können und sollen zudem noch dazu beitragen, zusätzliche politische Folgen zu reduzieren. Magisches Denken zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Impfkampagne

Der Oberbegriff/ das Hyperonym für alles, was laut Aussage (III) durch Impfungen reduziert werden kann, ist das unscheinbare Wort Folgen: Impfungen können dazu beitragen, Infektionen und deren Folgen zu reduzieren. Folgen sind wieder – wie Impfungen – hinsichtlich ihrer Ereignisqualität unbestimmt. Sie können aus aktiven, menschlich zu verantwortenden Handlungen resultieren oder aus Naturereignissen, die niemand verantwortet. Als Langzeitfolgen bespricht die STIKO Long-COVID, das im abwägenden Relief der Krankheitsrisiken – wie schon die Herzerkrankungen – als besonders wichtig herausgestellt wird (ebd. 4). Allerdings lässt sich “die Häufigkeit von Long-COVID bei Kindern nicht erfassen” (ebd. 17). Die “Datenlage … ist noch sehr limitiert”, denn die diesbezüglichen Studien hatten entweder gar keine Kontrollgruppe (ebd. 16), oder es ließ sich auch mit einem vergleichenden “Ansatz die Häufigkeit von Long-COVID bei Kindern nicht verlässlich erfassen (ebd. 17). Es gäbe nämlich “eine hohe Hintergrundaktivität an Pandemie-bedingten psychosomatischen Manifestationen” desselben Krankheitsbildes (ebd.). Aus diesem Daten- und Wissensmangel bzgl. der Unterscheidung von Politik- und Virusfolgen schlägt die STIKO rhetorischen Profit: Sie addiert die beiden unterschiedlichen Langzeitfolgen kurzerhand und suggeriert, dass sie die gleiche Ursache hätten und dementsprechend auch mit denselben Mitteln bekämpft werden könnten. In einer überblicksartigen Zusammenstellung ihrer “Impfziele” verbindet und vermischt sie Medizin und Politik, indem sie “die Einschränkungen der sozialen und kulturellen Teilhabe von Kindern und  Jugendlichen” wortwörtlich, mit dem extra ausformulierten Terminus technicus, als “indirekte Folgen von Severe Acute Respiratory Syndrome Corona Virus 2-(SARS-CoV-2-) Infektionen” bezeichnet und wiederholt behauptet, sie als “zusätzliches Ziel zudem” noch verhindern zu wollen (ebd. 3). Die zudem verkündeten zusätzlichen Impfziele der Verhinderung zusätzlicher Folgen überbieten und steigern sich in ihrer Relevanz und Größe gegenseitig. Sogar die “Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen und des öffentlichen Lebens” soll durch die Kinderimpfung erreicht, die ganze Pandemie soll bekämpft werden (ebd. 5; 38).

Um den von der STIKO hier aufgerufenen Kausalzusammenhang zu verstehen, müsste man in eine umfassende Analyse des öffentlich-politischen Diskurses um Kinder in der Pandemie, Impfungen und Kinderimpfungen einsteigen. Die beiden wichtigsten intertextuellen Bezüge sollen hier genügen: Anfang Mai erregte der Beschluss vom 124. Deutschen Ärztetag großes Aufsehen, der ohne ein abschwächend wirkendes Modalverb sogleich im Indikativ Präsens mit Zukunftsbedeutung drohte: “Die soziale Teilhabe bekommen Familien mit Kindern nur mit geimpften Kindern zurück” (Bundesärztekammer (Hg.) 2021, 32). Die STIKO wendet sich in ihrem Bericht wiederholt “explizit” dagegen, “dass der Zugang von Kindern und Jugendlichen zur Teilhabe … vom Vorliegen einer Impfung abhängig gemacht wird” (STIKO 2; 3). Mit diesem Appell an die Politik schloss sie sich dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) an, der ihn auch schon formuliert hatte. Am 14. Mai 2021 hatte der Verband auf den Deutschen Ärztetag reagiert; er hatte dabei einen ganz anderen empirischen Fall bzgl. der Kinder und Jugendlichen diagnostiziert und aus ihm bereits seine eigene Impfempfehlung, ganz ohne eine wissenschaftliche Begründung der medizinischen Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe, abgeleitet:

“Kinder sind zum Erhalt ihrer seelischen Gesundheit, der Förderung ihrer emotionalen, sozialen und intellektuellen Entwicklung und ihrer gelingenden sozialen Integration in besonderem Maß auf soziale Kontakte und die kontinuierliche Einbindung in Peergroups, Sport-, Bildungs- und Förderungsinstitutionen sowie ein lebendiges soziales Leben angewiesen. Gleichzeitig werden sie durch den unvermeidlichen Besuch von Gemeinschaftseinrichtungen und ihre alters- und reifungsbedingten Bedürfnisse und Verhaltensweisen immer wieder in der Öffentlichkeit als Infektionsverbreiter stigmatisiert. Vor diesem Hintergrund kann eine Impfung gegen Covid-19 dazu beitragen, Kinder und Jugendliche vor diesen Zuschreibungen zu schützen und ihnen einen ungehinderten Zugang zu der ihnen zustehenden Lebenswelt zu ermöglichen” (BVKJ 2021).

Die STIKO wiederholt genau diese Formulierung und variiert sie: Impfungen können dazu beitragen, das in der Gesellschaft weit verbreitete falsche Denken über Kinder zu reduzieren und dadurch auch die Isolations- und Quarantänemaßnahmen. Dieses hypothetisch-subjektive können in den Aussagen von STIKO und BVKJ gehört in den Bereich eines sozialtechnologisch-magischen, nicht wissenschaftlichen oder politischen Denkens: Wenn die Kinder erst einmal geimpft sind, dann wird man sie als ungefährlich wahrnehmen und dann können die Maßnahmen reduziert werden.

Im Kontext der Verkündung dieser großen gesellschaftlichen und politischen Impfziele der Reduktion falschen Denkens und schädlicher Maßnahmen wird aus Impfungen im Plural der Singular gemacht (ebd. 3). Das Verbalabstraktum Impfungen ändert unter dem Einfluss dieses zusätzlichen affizierten Objekts (der Isolations- und Quarantänemaßnahmen) – gewissermaßen vom Ende des Satzes und dem eigentlichen Ziel der Impfungen her rückwirkend –  seine lexikalische Bedeutung und sogar seine semantische Kategorie. Denn die Impfung (ebd. 3), die die politischen Wirkungen zeitigen sollen, bezeichnet nicht mehr (bei weitem nicht mehr nur) den medizinischen Eingriff. Die Impfung wird zum plakativen Etikett zur Bezeichnung aller ums Impfen herum angeordneten Handlungen, Akteure, Institutionen, Vorgänge. In dem maßlos überhöhten Ziel-Kontext bekommt das Wort selbst eine in die Abstraktion maßlos erhöhte Bedeutung. Denn mit Impfung ist hier ganz vieles gemeint, z.B. dass Ärzte impfen, Menschen sich impfen lassen oder Kinder zum Impfen gebracht werden, dass Impfstoffe erforscht, hergestellt, verkauft … werden, dass Politiker eine Impfstrategie ausklügeln und zusammen mit den Medien auf den Markt der Öffentlichkeit bringen, dass Institutionen sie mit ihrer Gewalt durchsetzen usw. usf.

Die Impfung bekommt dabei den semantischen Status eines Wortes wie Kunst oder Wissenschaft: Das Wort wird zu einem Abstraktwort für viele an sich zusammenhanglose Prädikate und Sachverhalte (Polenz 32008, 147). Bei Kunst ist mitverstanden: Jemand schafft Kunst, jemand betrachtet Kunst, jemand versteht Kunst, lehrt Kunst, finanziert Kunst, fördert Kunst, verkauft Kunst … Durch den bestimmten Artikel wird der Zusammenhang zudem noch verdinglicht: Die Impfung wird zum passepartout für alles, was um diesen medizinischen Eingriff herum politisch, gesellschaftlich, medial organisiert wird – und zwar einschließlich genau dieser STIKO-Empfehlung und ihrer Ziele selbst. Das Themawort die Impfung ist also nicht die Spezialbezeichnung für einen bestimmten aktiven und bewusst verantworteten medizinischen Eingriff: Es ist ein politisches Schlagwort für die ganze Impfkampagne und so allgemein, dass es die STIKO-Empfehlung semantisch selbst mit umfasst.

 

3.3 Politisches Eingreifen: Wer kann wodurch beitragen, Isolations- und Quarantänemaßnahmen zu reduzieren?

In dem politischen Kontext der Reduktion politischer Maßnahmen (laut Aussage II) geht es um die Frage, wer was tun, wer wie politisch Einfluss nehmen kann. Hier muss man den zentralen Satz über Impfungen grammatisch-satzsemantisch lesen als einen Satz mit Subjektschub (Polenz 32008, 187f.): In der Position des syntaktischen Subjekts (mit der Frage WER kann beitragen zu reduzieren) steht nicht das persönliche Agens der politischen Handlungen (ebd. 170). Vielmehr wird in diese Subjektposition im Satz das Handlungs- und Wirkungsmittel bzw.  das Causativ “geschoben”: Wo ein Messer tötet, da ist es der Messerwerfer, der mit dem Messer tötet. Wo Impfungen, Impfung und Impfkampgage helfen sollen, soziale Stigmatisierung und Isolation zu beenden, da sind es all diejenigen, die impfen und die durch Impfungen oder einen Beitrag zur Impfkampagne dazu beitragen können. In Zeiten der Epidemie handeln Ärzte, die impfen, politisch und nicht mehr (nur) medizinisch. Sie wollen politisch etwas Gesellschaftliches bewegen. Dasselbe gilt für alle, die an der Impfkampagne beteiligt sind: Die STIKO selbst kann mit ihrer Impfempfehlung dazu beitragen, politische Maßnahmen zu reduzieren.

In diesem politischen Kontext hat das Modalverb können nicht mehr objektive, sondern eine spezifische intrasubjektive Bedeutung (Duden 72005, § 818 bildet das nicht ab; vgl. aber Duden 41984, 132). Bei der Aussage, dass Impfungen beitragen können, politische Maßnahmen zu reduzieren, handelt es sich nicht mehr um eine extrasubjektive Aussage darüber, was ein absolutes Objekt (Wasser, Impfungen, Fische) so alles vollbringen, bewirken, ermöglichen oder was Handelnde (die STIKO) mit dem Mittel von Impfungen/Impfung/Impfkampagne/Impfempfehlung selbst tun können. Diese Aussage dient nicht mehr (wie in I) dem Ausdruck des Aussagegehalts in einem die Welt nur nachvollziehend beschreibenden (sog. repräsentativen) Sprechakt (Polenz 32008, 197). Vielmehr ist das Modalverb können  hier der Illokutionsindikator zum Vollzug einer kommissiven Sprechhandlung (Polenz 32008, 197f., 205, 220). Mit ihm vollzieht die STIKO erstens einen selbstverpflichtenden Sprechakt, mit dem sie zweitens zugleich ihre Adressaten in Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit verpflichtet. Analog zu einem Satz wie: Ich kann dich morgen mit dem Auto von der Arbeit abholen, vollzieht sie erstens das Versprechen bzw. verbindliche Angebot: Wir versprechen hiermit: Indem wir, die STIKO, die Impfempfehlung geben und damit die Impfkampagne selbst vorantreiben, können wir zu den Impfzielen beitragen. Und zweitens vollzieht sie einen verbindlichen Appell an Politik, Gesellschaft, Öffentlichkeit: Wir fordern von euch hiermit: Treibt die Impfkampagne voran und impft die Kinder, dann könnt auch ihr dazu beitragen.

Die intrasubjektive Bedeutung von können liegt dabei darin, dass zugleich mit dem grammatischen Subjekt im Satz (Impfungen im Nominativ) auch die semantische Rolle des Agens der ausgesagten Handlung (wer impft oder trägt zur Impfung/Impfkampagne bei, Polenz 32008, 170) und der Akteur des Sprechakts der Impfempfehlung selbst – die STIKO nämlich – in eins fallen: Die Sprecherin – die STIKO – spricht mit diesem Satz über sich selbst als Agens, sie spricht über sich in der grammatisch-syntaktischen Position des Subjekts (mit Subjektschub) und gibt sich dadurch performativ die Rolle einer politisch einflussreichen Institution. Dass sie in diesem zentralen Satz wie an vielen anderen Stellen im Bericht (über Langzeitfolgen bspw.) politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge medizinisch verbrämt, untermauert den Anspruch des medizinischen Gremiums auf politisches Eingreifen mit verbindlicher Wirkung.    

In ihrem Kapitel (7) über die Impf- ”Akzeptanz bei den Eltern und Jugendlichen” thematisiert die STIKO ihre politische Rolle. Dort heißt es, wieder mit dem Modalverb, in einem konditionalen Satzgefüge: “Eine Impfstrategie kann nur erfolgreich sein, wenn sie allgemein akzeptiert und implementiert wird” (ebd. 40). Der Zusammenhang wird wissenschaftlich erläutert: Eine Studie zeige, dass bisher 48%-50%  der Eltern bzw. Jugendlichen zu Impfungen bereit seien, aber nur 32 % der Altersgruppe einmal geimpft. Die Eltern zögern; und in der Studie kam heraus, dass für die Impfentscheidung der Betroffenen und besonders für die Umsetzung der latenten Impfbereitschaft zweierlei besonders wichtig ist: “Die Bereitschaft der Eltern zur Impfung ihrer Kinder nimmt zu, je höher das Vertrauen in die Impfung (bzgl. Sicherheit und Wirkung) ist” (ebd.).  Sie sei auch abhängig von der “Veränderung bei der Impfempfehlung” der STIKO selbst (ebd.). Ihre Impfempfehlung – auch die für Kinder und Jugendliche – sei “für viele Menschen von unmittelbarer Relevanz” dafür, dass sie sich bzw. ihre Kinder impfen lassen (ebd.), für ihre Impfakzeptanz, Impfbereitschaft und Impfinanspruchnahme, für die Impfung also, für die Impfkampagne und die Impfziele.

Dieser öffentlich-politische Wirkungszusammenhang ist an Einfachheit und Selbstbezüglichkeit kaum zu übertreffen: Weil die Eltern eine positive Impfempfehlung von der STIKO wollen,  bekommen sie eine positive Impfempfehlung. Die Eltern wünschen sich die Impfung ihrer Kinder, weil sie sich und ihnen die Pandemie wegwünschen und offenbar daran glauben, dass Impfungen Infektionen und deren Folgen reduzieren. Deshalb gibt die STIKO ihnen die Impfempfehlung und bestärkt sie genau dadurch in diesem Glauben. Eine souveräne medizinische Nutzen-Risiko-Abwägung erübrigt sich dabei, sie ist sogar hinderlich: Es reicht, auf diesen Allgemeinplatz zu vertrauen. Denn wer an Impfungen glaubt und auch an diese Impfungen, der wird die Kinder mit stigmatisierenden Zuschreibungen und politischen Isolationsmaßnahmen in Ruhe lassen, sobald sie geimpft sind – oder derselbe Eindruck öffentlich erweckt werden kann.

Zur argumentativen Untermauerung ihrer Fürbitte und großen Versprechen an Politik und Öffentlichkeit bringt das medizinische Beratungsgremium noch eine computerisierte “Modellierung des dynamischen Transmissionsgeschehens” im Laufe der 4. Welle vor (36-40). Gemäß der oben angeführten Umfrage seien 50 % der Eltern zur Kinderimpfung bereit, wenn die STIKO die Empfehlung dazu gäbe. Deshalb nimmt die Modellierung einmal diesen Fall an und einmal den anderen Fall, dass nur 20 % der Eltern ihre Kinder zum Impfen bringen und – unter Berücksichtigung noch anderer Parameter – “mehr Impfstoffdosen verimpft” werden (ebd. 36; 38). Der Wortwahl zufolge werden dabei nicht Folgen und Wirkungen berechnet (wie bei Krankheit und Impfung/en), sondern positive Effekte, die im Sinne von Politik, Öffentlichkeit und STIKO als Nutzen der Impfung gelten können: Die positive Bewertung zusätzlicher Impfungen wird schon mit dieser Wortwahl von Anfang an vorweggenommen (ebd. 36). Das gilt auch in der Sache: Denn eine Menge, zu der man etwas dazu zählt, wird größer. Bei 50% “Impfinanspruchnahmen können” (im Ergebnis der komplizierten Modellrechnung) mehr Fälle “verhindert werden” als bei einer Inanspruchnahme von 20 %. (ebd. 38). Diese Modellierung gehört nicht zur Nutzen-Risiko-Abwägung; ihre Funktion im Text ist es, den Allgemeinplatz zu stützen: Impfungen können Infektionen und deren Folgen reduzieren, in diesem Fall Hospitalisierungen. Parameter, die sich negativ auf die positiven Effekte auswirken könnten, werden immerhin erwähnt: Da der Modellierung die IfSG-Meldedaten zugrundegelegt werden, geht die Anzahl der nebenbefundlichen COVID-Diagnosen und -Hospitalisierungen nicht in sie ein (ebd. 23; 38), auch nicht die Hospitalisierungen wegen (kardialer) Impfschäden. Ohnehin ist das “Fazit” der STIKO ernüchternd: “Die Impfung von Kindern und Jugendlichen (12 – 17 Jahre, ohne Vorerkrankung) hätte ohne Verbesserung der Impfquoten in der Altersgruppe der 18-59-Jährigen keinen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der bevorstehenden vierten Welle” (ebd. 38). Ein rhetorisch gewichtendes jedoch über einen gewonnen “direkten Schutz in dieser Altersgruppe” (mit i.d.R. milden Verläufen) folgt, und dann ein weiteres explizites jedoch: Die STIKO leistet sich abschließend die Subversivität, auf den beschränkten wissenschaftlichen Nutzen der Modellierung selbst hinzuweisen und diesen Mangel als besonders wichtig herauszustellen:

“Im Modell werden verschiedene Parameter und Annahmen berücksichtigt, die gewissen Unsicherheiten und Dynamiken unterliegen. Daher eignen sich Szenarien auf Grundlage derartiger Modelle zwar gut zum Vergleich von Impfquoten, die konkrete Höhe der genannten Fallzahlen und Effekte ist jedoch mit Vorsicht zu interpretieren” (ebd. 39).

Die Modellierung kann also an der geschichtlichen und sozialen Realität scheitern; diese Möglichkeit besteht objektiv. Denn alle mathematischen Modellierungen, deren politisch und öffentlich gewünschtes Ergebnis schon vorher feststeht, können scheitern. Sie sind mit Vorsicht zu interpretieren. Dazu kommt, dass ein Ärztegremium wie die STIKO objektiv nur sehr begrenzte Möglichkeiten hat, politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge einzuschätzen, mitzugestalten oder sogar vorherzusagen. Ihr fehlen die soziologische Expertise sowie die politische Legitimation und Machtbasis dafür. Ist es schon schwer für sie, angesichts der großen politischen und gesellschaftlichen Erwartungen die medizinischen Risiken unvoreingenommen gegeneinander abzuwägen, so kann sie noch viel weniger die politischen Kalküle und gesellschaftlichen Rückkopplungen überblicken. Ihr Appell an Politik und Öffentlichkeit ist nur ein Wunsch, und das eigene Versprechen riskant.

Aus dem gewagten politischen Zusammenhang, der zweifelhaften Modellierung und der unsicheren medizinischen Indikation (wie sie im Bericht formuliert wird) erklärt sich das komplexe Verbgefüge im Zentrum des Satzes und vor allem die Vorsicht in der Formulierung mit dem Modalverb. Zu versprechen, dass die Impfempfehlung zur Reduktion politischer Isolationsmaßnahmen beitragen kann, hat nichts als die epistemische Funktion von können zur Voraussetzung. Bezüglich ihres eigenen politischen Beitrags kann die STIKO nichts als eine bloße Vermutung, Hypothese, Spekulation äußern (Duden 41984, §133; Polenz 32008, 215), die in einem potentialen Konjunktiv zu paraphrasieren ist (Duden 42005, § 752): Wir, die STIKO, vermuten und wir wünschen uns: Es könnte sein, dass wir mit Impfungen – und mit dieser Impfempfehlung hier – einen Beitrag zur Reduktion der gesellschaftlichen Stigmatisierung der Kinder und ihrer psychosozialen Schädigung leisten können –  dass wir aber womöglich wegen irrealer Bedingungen in dem Wunsch fehlgehen. Die STIKO hat es nicht in der Hand, ob “der Zugang von Kindern und Jugendlichen zur Teilhabe an Bildung, Kultur und anderen Aktivitäten des sozialen Lebens” im Ergebnis ihrer Empfehlung nicht doch “vom Vorliegen einer Impfung abhängig gemacht wird” (STIKO 2; 3). Das Risiko, mit diesem Wunsch politisch und gesellschaftlich zu scheitern, wird von den Wissenschaftlern selbst produziert und, wie andere Pandemie-Risiken auch, auf die Minderjährigen abgeleitet und wegverteilt.

 

4.  Zeit für die Diskussion der Gegenhypothese

Für die wissenschaftlich beratenen Risikoabwägungen in der Risikogesellschaft schlägt Ulrich Beck (1986, 297) ein genuin politisches Konzept vor: “Wenn es richtig ist, dass die Gegenwart nichts als eine Hypothese ist, über die wir noch nicht hinausgekommen sind, dann ist heute die Zeit der Gegenhypothese”. Die Sozialtechnologie des Katastrophismus lehnt demokratische, kommunikative Prozesse des Aushandelns und Abwägens ab. Demokratie und Debatte seien für uns nur ein “Alibi”, um uns vor den moralisch richtigen Entscheidungen zu drücken (Dupuy 87, 204). Vom Zögern und Zweifeln befreit uns der technizistische Diskurs, denn er liefert uns schnell die passenden Technologien zur effektiven Gefahrenabwehr für alle (Sadin 2021). Katastrophismus und Technizismus wägen nicht ab; sie tun einfach gleich das Richtige. Das ist eine Art, mit Verunsicherung in Zeiten der Epidemie umzugehen. Beck (1986, 293) dagegen hatte gesehen, was gerade im Angesicht großer Gefahren und bei aller Verunsicherung ganz sicher immer bleiben wird: die Sicherheit, dass Menschen sich irren und Fehler machen. Man kann sich diese “Fehler- und Irrtumsbehaftetheit menschlichen Denkens und Handelns” (1986, 293) wegwünschen, man kann sie tabuisieren. Man kann in ihr aber auch eine Chance sehen: die Chance nämlich, dass Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit durch einen selbstreflexiven Überschuss ihrer Wissenschaften mit den Wissenschaften zusammen ihre Zweifel kultivieren und dass sie dadurch gemeinsam lernfähiger werden.

Wie wäre es deshalb mit der Gegenhypothese, dass die Kinder und Jugendlichen nicht durch Impfungen auf magische Weise vor sozialer Diskriminierung und politischen Übergriffen geschützt werden, sondern durch eine umfassende Aufklärung? Wie wäre es mit der Gegenhypothese, dass Politik, Öffentlichkeit und Gesellschaft viel aktiver werden müssen bei der wissenschaftlich beratenen Abwägung der Risiken, die sie ihren Kindern zumuten wollen? Es ist empfehlenswert, die Selbstreferentialität der STIKO-Impfempfehlung anders zu lesen: nicht als Aufforderung zum Glauben an Allgemeinplätze, sondern als Aufforderung und Empfehlung zur genauen Lektüre der Impfempfehlung dieses respektablen und gewissenhaft arbeitenden wissenschaftlichen Gremiums.

 

5.  Literatur

Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. (Suhrkamp).

Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (2021): Stellungnahme Präsidium und Bundesvorstand zur Covid-19 Impfung für Kinder und Jugendliche vom 14.05.2021. https://www.bvkj.de/politik-und-presse/nachrichten/152-2021-05-14-stellungnahme-des-praesidiums-bundesvorstands-zur-covid-19-impfung-fuer-kinder-und-jugendliche

Danto, Arthur (1974): Analytische Philosophie der Geschichte (1965). Aus dem Engl. von Jürgen Behrens. Frankfurt.

Bundesärztekammer (Hg.) (2021): 124. Deutscher Ärztetag (online). Beschlussprotokoll. Berlin 04 – 05. Mai 2021 https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/124.DAET/Beschlussprotokoll_Stand_06.05.2021.pdf

Duden. Die Grammatik (41984). Unentbehrlich für richtiges Deutsch. 4., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Hgg. u. bearb. Günter Drosdowski in Zus.arbeit mit Gerhard Augst u.a. Mannheim / Wien / Zürich (Dudenverlag; Duden Band 4).

Duden. Die Grammatik (72005). Unentbehrlich für richtiges Deutsch. 7., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Hgg. von der Dudenredaktion. Mannheim / Leipzig / Wien / Zürich (Dudenverlag; Duden Band 4).

Dupuy, Jean-Pierre (2002): Pour un catastrophisme éclairé. Quand l’impossible est certain. Paris (Editions du Seuil).

Fraser, Pierre (2021): L’écologisme. Ou le succès d’une écologie politique. Montréal (Liber).

Gorz, André (1992/2019): L’éloge du suffisant. Présenté par Christophe Gilliand (= L’écologie, ce matérialisme historique 1992) Paris (PUF).

Larrère, Catherine / Raphaël (2020): Le pire n’est pas certain. Essai sur l’aveuglement catastrophiste. Paris (Premier Parallèle).

Peirce, Charles Sanders (1878/1967): Deduktion, Induktion und Hypothese. In: Ders.: Schriften I. Zur Entstehung des Pragmatismus. Mit einer Einführung. Hgg. vonKarl-Otto Apel. Frankfurt/Main. 368-372.

Polenz, Peter von (32008): Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe-des-Zwischen-den-Zeilen-Lesens (1985). Berlin / New York (de Gruyter).

Sadin, Eric (2021): L’intelligence artificielle ou l’enjeu du siècle. Anatomie d’un antihumanisme radical (2018). Paris (L’échappée).

Ständige Impfkommission (STIKO): Beschluss der STIKO zur 9. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung und die dazugehörige wissenschaftliche Begründung. In: Epidemiologisches Bulletin. Hgg. vom Robert-Koch-Institut (RKI). Nr. 33/2021 vom 19. August 2021. S. 3-46.

 

Zitiervorschlag

Leyhausen-Seibert, Katja (2022): Satzsemantik von Vorhersage und Nutzen-Risiko-Abwägung: Die STIKO-Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige vom 19. August 2021 In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/corona-kls-1.