DiskursReview

DiskursReview

Rasse und Rassismus.

Ein Kommentar anlässlich der Debatte um die Streichung des Rassebegriffs aus der Verfassung

Autoren: Clemens Knobloch
Version: 1.0 / 18.12.2020

1) Zu Beginn drei exemplarische Medienereignisse aus der jüngsten Vergangenheit, in denen es um den Komplex Rasse, Rassismus ging:

(a) In den gehobenen Feuilletons, in philosophischen Seminaren und Fakultäten wird (schon seit etlichen Jahren) über die Frage gestritten, ob der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant (1724-1804) ein „Rassist“ war.

(b) In der politischen Öffentlichkeit des Parlaments und der Medien wird darüber diskutiert, den Begriff Rasse aus dem Grundgesetz zu streichen. Da steht nämlich im Art. 3 (3), niemand dürfe „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat oder Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen, benachteiligt oder bevorzugt werden“.

Zwei komplementäre Motive werden für den Streichungswunsch angegeben: Einmal zeuge der Begriff Rasse im Grundgesetz vom unbedingten Willen der Verfassungsgeber, den NS-Staatsrassismus für alle Zukunft auszuschließen, das sei gut und verständlich. Zum anderen sei aber die Humanbiologie heute einig, dass es keine ‚Menschenrassen‘ gebe, sondern lediglich ein Kontinuum phänotypisch unterschiedlicher Populationen, das in unserer Wahrnehmung typisierend eingeteilt werden kann. Also (und dieses „Also“ ist wichtig), müsse die Rasse aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Dass es im biologischen Sinne keine ‚Menschenrassen‘ gibt, ist aufgeklärten Wissenschaftlern seit über 100 Jahren bekannt – was aber natürlich völlig irrelevant ist für den Gebrauch des Wortes Rasse in der öffentlichen und politischen Kommunikation.

(c) Die Philosophin Hannah Arendt, nach 1933 selbst mit knapper Not rassistischer Verfolgung und Ermordung entgangen und Autorin einer der scharfsinnigsten Analysen der NS-Ideologie, wird neuerdings von äußerst sprachsensiblen Mitmenschen beschuldigt, selbst ‚rassistische‘ Formulierungen in ihren Texten verwendet zu haben.

Markant ist in allen drei Fällen die Tatsache, dass der Begriff der Rasse und des Rassismus mit all den Prägungen, Inferenzen und Konnotationen, die er in unserer Gegenwart akkumuliert hat, mit analytischem Anspruch auf Zeiten und Verhältnisse bezogen wird, in denen seine Verwendung ganz anderen Regeln folgte. Was kennzeichnet den augenblicklich in den Medien vorherrschenden Gebrauch des Rassismus-Vorwurfs?

2) Momentan dominieren zwei Tendenzen den Gebrauch des Rassismus-Vorwurfs. Zum einen ist Rassismus (zusammen mit Verschwörungstheorie und Antisemitismus) ein Beispiel für das, was man als Kontaminationsbegriff bezeichnet hat: D.h. der Vorwurf des Rassismus kontaminiert alles, was erfolgreich mit ihm in Verbindung gebracht werden kann, selbstverständlich darum, weil der Ausdruck selbst kontaminiert ist mit der Erinnerung an den NS-Völkermord an Juden, Zigeunern, Slawen und anderen in der NS-Ideologie für ‚minderwertig‘ geltenden Ethnien. Wer mit dem Begriff Rassismus verbunden wird, ist selbst ansteckend und wird aus dem Diskurs ausgeschlossen. Niemand möchte als Rassist bezeichnet werden und niemand bezeichnet sich hierzulande selbst als Rassist oder beruft sich affirmativ auf irgendein Rasse-Prinzip.

Die andere, auf den ersten Blick entgegengesetzte Tendenz in der Verwendung von Rassismus ist die massive und einigermaßen leichtfertige Ausweitung des Vorwurfs auf alle Formen der (symbolischen oder institutionellen) Diskriminierung von ‚Fremdgruppen‘, auf verweigerte Anerkennung oder Wertschätzung für Religionen, Ethnien, Kulturen, Identitätsgemeinschaften etc. (hierzu Geulen 2007). Als rassistisch gilt bisweilen bereits die Frage nach der Herkunft von dunkelhäutig, asiatisch oder sonstwie ‚fremd‘ aussehenden Personen. Tendenziell wird Rassismus ein Synonym für alle von einer Mehrheitsgesellschaft ausgehenden Formen des Othering. Konkurrierende Wir-Gruppen, mehr oder minder organisiert und repräsentiert, bilden aber den Kern aller politischen Auseinandersetzungen. Und wo es Wir-Gruppen gibt, da gibt es auch die anderen.

Der Unterschied zu einer staatlich administrierten und ideologisch propagierten und pseudobiologisch unterfütterten Ausrottungs- und Vernichtungspolitik gegen ‚minderwertige Rassen‘ könnte kaum größer sein. An dieser Stelle wird dann gewöhnlich ein ‚Wehret-den-Anfängen‘-Argument gebraucht, um die besondere Empfindlichkeit auch gegenüber allen bloß sprachlichen Manifestationen von ‚Fremdenfeindlichkeit‘ und Abneigung gegen ‚andere‘ zu rechtfertigen. Aber beginnt mit der Frage nach der Herkunft der ‚anderen‘ wirklich der Völkermord?

Parallel zur horizontalen Entgrenzung des Rassismus-Vorwurfs im Gegenwartsdiskurs kann man auch eine vertikale Entgrenzung beobachten: Die Anwendung des solchermaßen entgrenzten Rassismus-Begriffs auf Epochen der näheren oder ferneren Vergangenheit, in der das öffentliche Reden über Rassen ganz andere Konnotationen mitführte. Wenigstens (1a) und (1c) gehören ganz in diese Abteilung, (1b) zumindest teilweise. Dass eine biologisch aufgeputzte und mörderisch durchgesetzte Lehre von der Überlegenheit der ‚nordischen‘ oder ‚arischen Rasse‘ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so modern und zustimmungsfähig war wie heute vielleicht die enthusiastischen Predigten von der ‚digitalen Zukunft‘, das können wir uns  erst dann vorstellen, wenn sich diese ‚digitale Zukunft‘ vielleicht in absehbarer Zeit als Kontroll- und Überwachungsdystopie geoutet hat.

Hannah Arendt (1986 [1951]) erzählt die Geschichte der Herausbildung der aggressiv-imperialistischen Rassenideologie, die zur Shoa, in den Zweiten Weltkrieg, in den multiplen NS-Völkermord geführt hat, und sie analysiert, warum dessen Lehren selbst in den Ländern viele Kollaborateure fanden, die (anders als Deutschland) über lange demokratisch-egalitäre Traditionen verfügten. Über das, was den diskurssensiblen Heutigen bereits als Rassismus imponiert (zumal bei Kant!), hätte sie vermutlich nur lachen können. Dass sich in der Gesellschaft konkurrierende Wir-Gruppen und Wir-Identitäten begegnen, ist unvermeidlich. Demokratie bedeutet, dass all diese Gruppen die gleichen politischen Vertretungsrechte haben müssen. Mehr ist nicht drin.

Hannah Arendts Rassismus beginnt da, wo (vermeintliche) Unterschiede der Ethnien biologisiert, hierarchisiert und staatlich in Entrechtungspolitik (und ultimativ in Vernichtung) umgesetzt werden. Staatlichen Rassismus in diesem Sinne gibt es gegenwärtig in keinem europäischen Staat. Residuen staatlicher Rassenpolitik gibt es dagegen auch heute noch z.B. in den USA, wo die Ämter von den Bürgern verlangen, dass sie sich selbst rassisch klassifizieren (in ‚caucasian‘, ‚asian‘, ‚colored‘, ‚latino‘ etc.), wobei diese ‚Klassen‘ einen Mix aus ethnischen, sprachlichen und ‚farblichen‘ Kategorien darstellen. Und, fatalerweise auch in Israel, wo die staatsbürgerlichen Rechte ethnisch dosiert werden, und Nicht-Juden, Palästinenser, stark reduzierte Bürgerrechte haben.

Im vorbiologischen Gebrauch von Rasse (also etwa bei Kant) waren die Rassen Chiffre für die schwarze Population Afrikas, die weißen Europäer, die amerikanischen Indianer und einige andere ethnische Herkunftstypen. Ihnen wurde eine mehr oder weniger hoch entwickelte Kulturfähigkeit zugesprochen, und selbstverständlich haben die europäischen Welteroberer die eroberten Ethnien nicht als ebenbürtig, sondern als unterlegen (und exotisch) wahrgenommen. Die Typisierungs- und Klassifizierungslust der Aufklärung ist sprichwörtlich und machte bei den Rassen nicht Halt. Die moderne, nicht mehr ‚in terms‘ von evolutionärer Höherentwicklung denkende Ethnographie, ist weitgehend ein Kind des 20. Jahrhunderts; Franz Boas ist vielleicht ihr wichtigster Gründervater. Es ist womöglich kein Zufall, dass Boas´ egalisierende US-Ethnographie ihre (ebenfalls deutschen) Wurzeln bei Adolf Bastian und Rudolph Virchow hat. Beide zählen zu Boas‘ Lehrern.

Im Dienste programmatischer Selbsterhöhung finden wir die Rasse erstmals beim europäischen Adel, der sich übernational als (überlegene) Rasse gegen den nationalen Pöbel absetzt (‚die Adelsrasse gegen die Bürgernation‘, so Hannah Arendts Formel). Es gibt, wie Hannah Arendt ausführt, eine französische und eine englische Variante dieser Selbsterhöhung des Adels. Nach der Französischen Revolution konnten diese Lehren politisch-programmatisch werden im (durchaus übernationalen) Kampf des europäischen Adels gegen die Folgen der Französischen Revolution.

Ganz anders stellen sich die Verhältnisse dar, wo die Kolonisatoren und weißen Eroberer (in Afrika, Australien etc.) auf indigene Kulturen treffen. In diesem Zusammenhang schreibt Hannah Arendt Sätze, die den sensiblen gegenwärtigen Rassismus-Witterern selbst ‚rassistisch‘ vorkommen. Diese Passagen schreibt sie (wie das gesamte Elemente und Ursprünge-Buch: Arendt 1986 [1951]) aus der historischen Erfahrungswelt der jeweiligen Epoche, sei es die des untergehenden Adels oder die der Imperialisten und Kolonisatoren. Darum ist es nicht verwunderlich, dass ein Passus wie der folgende den Trägern der modernen Empörungskultur sauer aufstößt:

Der biblische Mythos von der Entstehung des Menschengeschlechts wurde auf eine sehr ernste Probe gestellt, als Europäer in Afrika und Australien zum ersten Male mit Menschen konfrontiert waren, die von sich aus ganz offenbar weder das, was wir menschliche Vernunft noch was wir menschliche Empfindungen nennen, besaßen, die keinerlei Kultur, auch nicht eine primitive Kultur, hervorgebracht hatten, ja, kaum im Rahmen feststehender Volksgebräuche lebten und deren politische Organisation Formen, die wir auch aus dem tierischen Gemeinschaftsleben kennen, kaum überschritten (Arendt 1986 [1951]: 295).

Wer weiterliest, muss eigentlich merken, dass es die Erfahrungsvignetten der Kolonisatoren sind, die hier wiedergegeben (und im folgenden Passus mit den Lehren der zeitgenössischen Theoretiker abgeglichen werden, mit Buffons nicht-hierarchischer Aufstellung der Menschenrassen, mit Tocquevilles Satz von der Verschiedenheit der Rassen und der Einheit des Menschengeschlechts, mit Herders Weigerung, das Wort Rasse auf Menschen anzuwenden etc.). Wer den oben zitierten Passus ins Auge fasst, merkt freilich auch, dass Vernunft und Kultur für Hannah Arendt hoch besetzte und exklusive Wertkategorien waren. Hannah Arendt ist ein Kind des deutschen Bildungsbürgertums, dessen Welt gerade im Krieg und im NS-Völkermord untergegangen ist. Für den ethnographisch ernüchterten Kulturbegriff der Gegenwart qualifizieren sich alle sozial-symbolischen Ordnungen als Kultur – Stammesrituale und Regentänze ebenso wie der Eurovision Song Contest, und keineswegs bloß die hoch exklusive Höhenkamm-Kultur der deutschen Bildungsreligion (Bollenbeck 1994).

Das 19. Jahrhundert denkt in seiner zweiten, ethnodarwinistischen Hälfte freilich ganz überwiegend ‚in terms‘ von Wildheit – Barbarei – Zivilisation als den Stationen, die von allen Ethnien pseudoevolutionär durchlaufen werden müssen, bevor sie in das Reich der Zivilisierten aufgenommen werden. Sie koppelt das Verhältnis der Rassen an eine Fortschrittsgeschichte. Die kolonisierten Rassen sind selbstverständlich alle ‚wild‘ oder ‚barbarisch‘, die kolonisierenden ‚zivilisiert‘. Was das Verhältnis von ‚wissenschaftlichem‘ und ‚ideologischem‘ Rassismus betrifft, so genügt es erneut, auf Hannah Arendt (1986 [1951]) zu verweisen. Über die politisch in allen imperialistischen Nationen um 1900 herum durchgesetzten quasi-wissenschaftlichen Rassenideologien schreibt Hannah Arendt:

Ihre Glaubwürdigkeit erwerben sie nicht durch den Schein wissenschaftlich bewiesener Tatsachen oder historischer Gesetze, wie das von ihnen ergriffene und ihnen dienende Intellektuellen- und Literatenproletariat uns glauben machen möchte, sondern nur durch ihre politische Treffsicherheit. Jede Ideologie ist eine politische Waffe gewesen, bevor sie zu einer theoretischen Doktrin entwickelt wurde. […] Ihr pseudowissenschaftlicher Aspekt ist sekundär und entstammt einmal dem allgemeinen Wissenschaftsaberglauben des neunzehnten Jahrhunderts  und andererseits einfach der Tatsache, dass Wissenschaftler dem Druck der öffentlichen Meinung und ihrer jeweiligen Überzeugungen nicht weniger ausgesetzt und manchmal für sie sogar anfälliger waren als irgendwer sonst (Arendt 1986 [1951]: 269).

Dieser hellsichtigen Diagnose ist 70 Jahre später nur hinzuzufügen, dass sich der Wissenschaftsaberglaube des 19. Jahrhunderts in unserer massendemokratischen Gegenwart zu einer veritablen Wissenschaftsreligion ausgewachsen hat. Die letzten akzeptablen politischen Gewissheiten scheinen die zu sein, die den Segen ‚der Wissenschaft‘ haben. ‚Follow the Science‘ mahnen uns derzeit die bei den Eliten so ungemein beliebten jugendlichen Klimaaktivisten.

3) Wir haben also gegenwärtig einen enthistorisierten, grenzenlos ausgeweiteten und äußerst ‚ansteckenden‘ Rassismusbegriff, der schon das geringste ethnische, religiöse oder sonstige Fremd-Stereotyp mit den schweren Waffen eines NS-konnotierten Ausdrucks beschießt, und der gleichzeitig völlig ahistorisch auf Verhältnisse angewandt wird, zu denen er passt wie die Faust aufs Auge. Ein Begriff wohlgemerkt, der gleichwohl wirklich noch gebraucht wird – wie sollte man sonst Neonazis identifizieren, die Waffen horten, Feindeslisten anlegen und von einem neuen arisch-germanischen Reich träumen?  Wie sollte man das schießwütige Verhalten der US-Sicherheitskräfte gegenüber Schwarzen benennen? Und wie die systematische Verfolgung und Vertreibung ethnischer und religiöser Minoritäten in vielen Ländern?

Die (mittlerweile fast konventionelle) Reihung Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, bisweilen auch bereits abgekürzt als RSA, illustriert den Umstand, dass es diskurstaktisch um die geballten Kontaminationsbegriffe geht, mit deren Hilfe jedwede Andeutung stereotyper gesellschaftlicher Abwertung von Gruppen (und sei es bloß in sprachlich verweigerter Anerkennung) stigmatisiert werden soll.

Es ist aber gerade diese semantische und historische Überdehnung, die den Begriff Rassismus (nebst seinen Begleitern) langfristig auch für die Analyse der Gegenwart unbrauchbar macht. Mancher wird sich mit Recht fragen: Wenn Immanuel Kant und Hannah Arendt nicht frei von Rassismus sind, bin ich dann nicht in guter Gesellschaft mit meinen Vorurteilen? Die Verbindung von hoch ansteckend, stigmatisierend und zugleich grenzenlos ausgeweitet und bündig in jedem banalen Stereotyp, ist so weit gespannt, dass kein politischer Begriff sie aushalten kann, keine Klammer kann auf Dauer einen ultimativen und ‚vernichtenden‘ Stigmabegriff mit banalen Vorurteilen engführen, wie wir sie alle haben. Wenn wir alle Rassisten sind, dann ist es bald keiner mehr.

Hinzu kommt, dass der progressiv-liberale Mehrheitsdiskurs der Gebildeten, der den Rassismus auch in feinsten Dosierungen noch zu erschnuppern vermag, selbst ein mehr als ambivalentes Verhältnis zu identitären Wir-Gemeinschaften, den natürlichen Keimzellen der Auf- und Abwertung von ‚anderen‘, hat. Manche von diesen Gemeinschaften werden gehegt und gefördert, das programmatische Hochwertwort heißt Diversität/Vielfalt. Einzelne Angehörige von bestimmten Wir –Gruppen mit Diskriminierungs- und Benachteiligungsgeschichten werden selektiv und demonstrativ in die Machteliten kooptiert. Wenn der Gesundheitsminister schwul ist, dann ist die progressiv-liberale Welt in Ordnung. Diese Gruppen unterhalten oft hoch moralisierte pseudoethnische Wir-Identitäten und beanspruchen demonstrativ Anerkennung, ohne sie gegenüber den anderen zu erwidern. In erster Linie ist es freilich die privilegierte liberale Mehrheitsgesellschaft selbst, die für ihre ausgewählten Opfergruppen spricht und überall Rassismus wittert, wo ihre Gesslerhüte nicht gegrüßt werden (als ob Frau Klatten, Frau Merkel und Frau Von der Leyen gegen frauenfeindliche Vorurteile geschützt werden müssten!). In einer solchen Szene muss der Rassismus-Vorwurf gedeihen und sich ausbreiten. Alle Wir-Identitäten, die eine Unterdrückungsgeschichte für sich reklamieren, gebärden sich als Rassismusopfer – und dürfen aus diesem Grunde Fremdstereotype gegen andere Wir-Gruppen haben – und seien es nur die notorischen alten weißen Männer. Die Macht der liberalen Mehrheitsgesellschaft zeigt sich da, wo sie entscheidet, wer Anspruch auf diese demonstrative Anerkennung hat und wer nicht. Wo nämlich nach dem Modell dieser gehegten Wir-Identitäten unbequeme Ansprüche auf die Anerkennung des eigenen Status´ entstehen, da reden wir rasch von Separatismus, Rechtspopulismus, Fundamentalismus und Terrorismus: Katalanen und Basken haben zweifellos in Spanien eine Geschichte der ethnischen und sprachlichen Unterdrückung und Verfolgung, Kurden im Nahen Osten etc.

4) In der öffentlichen Auseinandersetzung um die Streichung des Wortes Rasse aus dem Grundgesetz (1b) ist zwischen Politik und Wissenschaft eine Konstellation entstanden, die interessant und aufschlussreich ist. Eine Gruppe prominenter Biologen, Zoologen und Evolutionsforscher fordert in der Jenaer Erklärung die Streichung des Begriffs Rasse aus dem Grundgesetz, weil es für die Verwendung des Begriffs mit Bezug auf Menschen keinerlei Grundlage gebe (und auch nie eine gegeben habe). Der Begriff sei ein fatales Konstrukt, das allein der pseudowissenschaftlichen Legitimation von Rassismus und Diskriminierung diene (vgl. Holl 2020, der aus dieser Erklärung zitiert). An der Wahrheit dieser Aussage wird man kaum zweifeln. Die Frage ist nur, was daraus folgt, und ob die Streichung des Wortes Rasse im Grundgesetz eine geeignete Maßnahme ist. Der Soziologe Wulf D. Hund (ebenfalls zitiert bei Holl 2020;  vgl. auch Hund 2007) unterstreicht zwar auch, dass die „Menschenrassen“ soziale Gruppierungen sind, die durch den europäischen Kolonialismus und Imperialismus entstanden sind, hält sie aber gerade darum für real. Wenn man das Wort Rasse im Grundgesetz und anderswo streicht, verschwinden weder die US-amerikanischen Schwarzen noch schwindet ihre gesellschaftliche Unterdrückung noch die Geschichte dieser Unterdrückung und des Widerstands gegen sie. Im Zuge dieses Widerstands sei der Begriff Rasse eben auch zu einer kollektiven Identität derjenigen geworden, die im Namen der Rasse versklavt, unterdrückt, ausgebeutet worden sind:

Vor gut 20 Jahren, so erinnert sich Hund, kam es bei einer UN-Konferenz in Südafrika gegen Rassismus fast zu einem Eklat. Als europäische Staaten forderten, das Wort „Rasse“ aus den Abschlussdokumenten zu streichen, sei das von Vertretern aus Afrika und Lateinamerika als „infamer Schachzug“ gegen all jene gewertet worden, die unter Rassismus am meisten zu leiden hätten (Holl 2020).

Wenn dieses Beispiel etwas zeigt, dann dass wissenschaftliche Tatsachen kaum geeignet sind, politisches Handeln anzuleiten oder gar zu ersetzen. Aus der Tatsache, dass es biologisch keine Menschenrassen gibt, folgt weder, dass sie in Diskurs, Geschichte und Gegenwart keine Rolle spielen, noch dass ein Worttabu nicht genau das Gegenteil von dem erreichen würde, was seine Befürworter angeblich beabsichtigen. Man fühlt sich erinnert an den Aphorismus des Aufklärers Lichtenberg: „Dass es wahr ist, das hätte nichts zu bedeuten, allein: die Leute glauben’s, das ist den Teufel!“. Oder, etwas zeitnäher, an das soziologische Thomastheorem, das lautet: „If men define situations as real they are real in their consequences“. Oder, noch zeitnäher, an Hannah Arendts Satz, der sinngemäß lautet: „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen“….

 

Literatur

  • Arendt, Hannah (1986 [1951]): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper [zuerst New York 1951].
  • Bollenbeck, Georg (1994): Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M., Leipzig: Insel.
  • Geulen, Christian (2007): Geschichte des Rassismus. München: Beck.
  • Hund, Wulf D. (2007): Rassismus. Bielefeld: transcript.
  • Holl, Thomas (2020): „Gefährlicher Mythos Rasse“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. November 2020, S. 8.
  • Taguieff, Pierre-André (2016): „Wie lässt sich das Problem des Rassismus heute stellen?“. In: Soziopolis 2016 (https://soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/wie-laesst-sich-das-problem-des-rassismus-heute-stellen/)

Zitiervorschlag

Knobloch, Clemens (2020): Rasse und Rassismus. Ein Kommentar anlässlich der Debatte um die Streichung des Rassebegriffs aus der Verfassung. In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/rasse-rassismus.