DiskursReview | Arbeitspapiere

Relativieren – kontextualisieren – differenzieren:

Beobachtungen zum gegenwärtigen interdiskursiven Gebrauch dreier Tätigkeitsverben

Autor: Friedemann Vogel
Version: 1.0 / 26.08.2024

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen. Diese Gebrauchsweisen finden sich auch in leicht zugänglichen Online-Wörterbuchausgaben: relativieren etwa wird in der Onlineausgabe des Duden als »zu etwas anderem in Beziehung setzen und dadurch in seinem Wert o. Ä. einschränken« paraphrasiert; die beim DWDS zugängliche Onlinefassung des Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache (eWDG) erläutert relativieren als »etw. in seiner Gültigkeit einschränken, vor allem dadurch, dass man es mit anderem in Beziehung setzt, in einem übergeordneten Zusammenhang betrachtet«. Zu kontextualisieren gibt Duden Online zwei Bedeutungsvarianten an: 1) die fachterminologische Verwendung im Umfeld pragmatischer Sprachtheorien (»eine sprachliche Äußerung unter Berücksichtigung ihres [sprachlichen] Kontexts […] interpretieren«) und 2) die bildungssprachliche Verwendung im Sinne von etwas oder jemanden »durch Einbindung in einen [zeitlichen, politischen, ökonomischen, soziokulturellen usw.] Kontext […] interpretieren«. In beiden Fällen aber fehlt meines Erachtens eine Gebrauchsvariante, die nicht erst in neuerer Zeit, sondern teilweise schon sehr viel länger im Interdiskurs beobachtet werden kann: nämlich eine deontisch-politische, also kommunikationsstrategische Verwendung, die mal affirmativ, mal distanzierend und sozialdisziplinierend erfolgt. Vor allem in den gegenwärtigen Konflikt- und Kriegsdiskursen rund um Pandemie, Ukraine-Krieg und Israel-Palästina-Konflikt fällt diese deontische Gebrauchsvariante zunehmend auf. Doch im Einzelnen:

Relativieren findet sich in den Zeitungstextkorpora des DWDS schon seit vielen Jahrzehnten; die relative Häufigkeit nimmt ab den 1960er Jahren etwas, in den 1990er Jahren deutlich zu und hält sich seitdem im öffentlichen Diskurs. Peaks der Verwendungshäufigkeit finden sich in den Jahren 1994/95 und in der nominalisierten Form Relativierung deutet sich ab 2023 erneut eine starke Häufigkeitszunahme an. Hintergrund ist zum einen der binnendeutsche Erinnerungsdiskurs, der in den 90er Jahren zu einer Verschärfung des Volksverhetzungsparagraphen führt und die Billigung, Leugnung oder Verharmlosung von NS-Verbrechen unter Strafe stellt (§130 Abs. 3 StGB). Der Ausdruck Relativierung knüpft an diesen Verbotsdiskurs an, erweitert aber (als nicht-Gesetzesausdruck) metonymisch die extensionale Bedeutung. Vor allem in den 2010er Jahren markiert die Wendung Relativierung des Holocausts (inkl. metonymischer Varianten: Relativierung der NS-Verbrechen / Shoa usw.) oft die Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Provokationen von (neu)rechten Akteuren wie Alexander Gauland (Vogelschiss, 2018), Björn Höcke (Denkmal der Schande, 2017) und anderen (Bombenholocaust, 2022). Sieht man in die Textkorpora des IDS (mit mehr als 86 Tausend Belegen), findet man mithilfe einer computergestützten Kookkurrenzanalyse jedoch noch weitere Gebrauchsmuster des Lemmas Relativieren, die nicht alle an den NS-Bewältigungsdiskurs anknüpfen: Als Objekte relativiert werden alle möglichen Formen kommunikativer, bedeutungsbedürftiger Praxis (Aussage, Äußerungen, Zahlen, Satz, Begriff, Kritik, Vorwürfe u.ä.), Wahrnehmungsinhalte (Eindruck, Betrachtung), aber auch Fußballergebnisse. An Umständen sind vor allem temporale und graduelle Bedingungen der Relativierung relevant: es wird stark, sogleich, später, schnell, sofort relativiert. Relativierung ist etwas, das mehr oder weniger glaubwürdig (versuchte, bemühte) und in affirmativer Verwendung extrinsisch motiviert sein kann (Modalverb müssen; man muss relativieren). Anlass für Relativierung ist oft Kritik. Relativierungen grenzen nicht nur wertneutral den Geltungsanspruch von Behauptungen ein (das vor allem in affirmativem Gebrauch); im politischen Diskurs markieren sie illegitime Aussagen, Vergleiche und die Grenze zum akzeptierten Common Sense, zu im öffentlichen Erinnerungsdiskurs unhintergehbaren Denk- bzw. Deutungsschablonen. Besonders deutlich wird das beim nominalisierten Gebrauch, also der Einordnung einer vom Sprecher oder vom Autor abgelehnten Zuschreibung Dritter als unzulässige, solche [Distanzmarker], inakzeptable, unerträgliche Relativierung. Auch Doppelformen wie Verharmlosung / Historisierung / Gleichsetzung / Aufrechnung / Rechtfertigung / Beschönigung und Relativierung stehen meist im Kontext diskursdisziplinierender Praktiken. In sozialen Medien – zum Beispiel auf Twitter/X oder auch auf den Diskussionsseiten der Wikipedia – finden sich unzählige Belege dieser Ordnungsrufe, die nicht auf Deliberation, sondern auf Diskreditierung und/oder (latenten bis offenen) Diskursausschluss von der Relativierung bezichtigten Akteuren oder ihrer Sympathisanten zielen. Gerade in der Verhandlung von Unterstützungsmaßnahmen für oder gegen Konfliktpartner bzw. Kriegsopfer (Ukraine, Russland, Israel, Palästinenser) hat diese Praktik Hochkonjunktur, erwartbar angesichts kriegs- und verdachtsrhetorischer Polarisierung der öffentlichen Debatte.

Vieles von dem, was für den deontischen Gebrauch von relativieren gilt, trifft auch auf die Diskursfunktion von kontextualisieren zu. Allerdings ist mir keine Verknüpfung des Ausdrucks kontextualisieren/Kontextualisierung mit diskurshistorisch vorbelasteten Ereignissen bekannt (wie im Falle von Relativierung des Holocaust et al.). Im Gegenteil gilt die Fähigkeit zur Kontextualisierung in bildungsbürgerlichen Kreisen und ihren Publikationsmedien eher als wünschenswerte analytische Qualität,

a) vordergründig Unzusammenhängendes in einen hintergründigen Zusammenhang bringen, und im engeren Sinne
b) Sachverhalte ›fachlich‹ (z.B. soziologisch, juristisch, historisch, ethnologisch u.a.) ›einordnen‹ und ›in ihrer Komplexität beurteilen‹ zu können.

Diese in den oben zitierten Wörterbüchern erfasste Bedeutung wird aber seit einigen Jahren zunehmend überlagert bzw. verdrängt von zwei deontischen Gebrauchsweisen, nämlich zum einen

a) im Sinne einer geforderten oder zumindest wünschenswerten ›Richtigstellung‹ von (sprachlichen) Sachverhaltszuschreibungen, zum anderen
b) und darüber hinausgehend pejorativ zur Bezeichnung oder Markierung von ›illegitimen‹, als ›amoralisch zurückzuweisende‹ und ›darum aus dem Diskurs zu verbannenden‹ Zuschreibungen.

Das folgende Beispiel illustriert durchaus prototypisch die Variante c): in dieser Variante steht Kontextualisierung für die politisch-präferierte Praktik, zeichenhafte Spuren von illegitimen Konzepten, Normen oder Haltungen (oftmals Objekte mit ›umstrittener‹ historischer und/oder künstlerischer Bedeutung: Kunstwerke, Denkmäler u.ä.) nicht lediglich zu tilgen, sondern durch Hinzufügung und Explizitmachen von (pejorativ attribuierenden) Informationen ›ins richtige Licht‹ zu rücken.

Vizebürgermeister Christian Matzka hält nichts von den Forderungen der jungen Grünen, das Weinheber-Denkmal zu entfernen: „Das Thema wurde drei Jahre lang in den entsprechenden Ausschüssen behandelt.“ Nach der Behandlung in den Ausschüssen stimmte der Gemeinderat mit einer Zweidrittel Mehrheit dafür, eine Plakette mit den Hinweisen auf die nationalsozialistischen Aktivitäten Weinhebers anzubringen. „Die Sache ist erledigt. Wir haben das Denkmal kontextualisiert, wie es in der modernen Wissenschaft heute üblich ist. (NON16/MAI.09109 NÖN, 13.05.2016)

Variante d) dagegen – kontextualisieren als Stigma- und Diffamierungsvokabel – entspricht im Grunde der diskursdisziplinierenden Verwendung von relativieren (und nicht zufällig findet sich in solchen Fällen auch mal die entsprechende Paarformel: kontextualisieren und relativieren). Eine so kritisierte Äußerung wird zum Ausweis personaler Amoralität: wer hier kontextualisiert, ist ›kein legitimer Diskursteilnehmer‹ und ›muss ausgeschlossen werden‹. Diese Verwendungsweise wird teilweise durch Distanzmarker konstituiert (›kontextualisiert‹; Abb. 1), es finden sich gerade in sozialen Medien aber auch vielfach unmarkierte Verwendungen (Abb. 2), ein Zeichen für die bereits fortgeschrittene Verbreitung dieser Bedeutungsvariante.

Abb. 1: Tweet auf X: kontextualisieren mit Distanzmarkern. Quelle:
https://twitter.com/MarcusPretzell/status/1765688154055442522, ; Zugriff: 10.03.2024
Abb. 2: Tweet auf X: kontextualisieren ohne Distanzmarker (Post zwischenzeitlich gelöscht).

Das Verb differenzieren schließlich scheint – für mich durchaus überraschend – von einer deontischen Verwendung bislang verschont geblieben zu sein. Selbst bei umstrittenen Sachverhalten – Debatte um Hamas, Israel, Russland, Ukraine – bleibt differenzieren ein Hochwert-Wort oder eine Hochwert-Praktik, die alle Konfliktpartien appellativ für sich reklamieren (muss man schon differenzieren u.ä.). Ziel ist dabei a) den Diskurs- und Sagbarkeitsraum zu öffnen für die eigenen Setzungen und zugleich b) die Prädikationen (Behauptungen) des antizipierten Diskursgegners als ›zu pauschal‹ zurückzuweisen. Eine pejorative Ausnahme bildet die Variante wegdifferenzieren (Wieviel willst du noch wegdifferenzieren?), mit der analog zum diskursdisziplinierenden Gebrauch von relativieren der Vorwurf erhoben wird, durch illegitime Sachverhaltsspezifizierung vom eigentlichen (moralisch verpflichtenden) Kern ablenken zu wollen.

Der Text ist in ähnlicher Form bereits erschienen in: kulturrevolution 86 (Mai 2024), online unter: https://zeitschrift-kulturrevolution.de/ausgabe-80-89 (12.08.2024).

Zitiervorschlag

Vogel, Friedemann (2024): Relativieren – kontextualisieren – differenzieren: Beobachtungen zum gegenwärtigen interdiskursiven Gebrauch dreier Tätigkeitsverben. Veröffentlicht am 26.08.2024. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/relativieren-kontextualisieren-differenzieren/.