DiskursReview | Arbeitspapiere

„Remigration“
– Ein Riss im Schleier der Vagheit.

Diskursive Strategien rund um das Remigrationskonzept und die Correctiv-Recherchen

Autor: Floris Biskamp
Version: 1.0 / Manuskript vom 23.01.2024

Inhalt

(1) Eine grundlegende Spannung liberaler Ordnung
(2) Das Erfolgsrezept der AfD: die Spannung einseitig auflösen
(3) Die Herausforderung der AfD: zugleich rassistisch und nichtrassistisch wirken
(4) Der „Remigrations“-Diskurs als Strategie der Vagheit und Deniability
(5) Die Correctiv-Recherche zerschneidet den Schleier der Vagheit
(6) Die AfD versucht die Vagheit wiederherzustellen
(7) Folgen und Ausblick

Die am 10. Januar veröffentlichte Correctiv-Recherche über ein rechtes Vernetzungstreffen in Potsdam sorgte für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und die größten Demonstrationen gegen Rechtsaußen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Im Fokus der Kritik steht dabei der mit dieser Veröffentlichung erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gewordene Begriff der „Remigration“. Im Folgenden diskutiere ich die Diskursstrategien rund um das Remigrationskonzept und die Veröffentlichung der Recherche.

(1) Eine grundlegende Spannung liberaler Ordnung

Will man diese Reflexion ehrlich vollziehen, ist zunächst dem Eindruck zu widersprechen, dass die AfD das Gift der rassistischen Intoleranz von außen in eine ansonsten durch und durch offene und diversitätsbejahende Gesellschaft einbringt. Vielmehr ist die liberale Gesellschaft selbst von inneren Widersprüchen geprägt – und einige dieser Widersprüche bilden die Grundlage für den Rassismus und die Intoleranz, mit denen die AfD mobilisiert.

Relevant ist insbesondere die Spannung zwischen zwei Bestandteilen des normativen Fundaments liberaler Ordnungen: einerseits dem Universalismus der Menschenrechte sowie andererseits den partikularistischen Implikationen demokratischer Volkssouveränität im nationalen Rahmen. Einerseits sollen alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten sein, andererseits soll der Demos das Recht haben, über grundlegende Fragen des Zusammenlebens selbst zu bestimmen.

Diese Spannung wird zu einem manifesten Widerspruch, wenn auf der Welt extreme Ungleichheit vorherrscht und Menschen deshalb von einigen Ländern in andere flüchten. Nimmt man den Universalismus der Menschenrechte (und das damit implizit vorausgesetzte, von Hannah Arendt theoretisierte „Recht, Rechte zu haben“) ernst, ist es nicht rechtfertigbar, irgendwen an der Grenze zurückzuweisen, wenn dies Gefahr für Leib und Leben bedeutet. Nimmt man dagegen die Norm der demokratischen Volkssouveränität ernst, hat der Demos ein Recht, über grundlegende Fragen des Zusammenlebens selbst zu bestimmen, was in gewissem Maße auch die Frage umfasst, wer unter welchen Bedingungen ins Land kommen, politische und soziale Gerechte genießen und/oder Teil des Demos werden kann.

Wenn nun in einigen Ländern ein sehr hohes Maß an Sicherheit und Wohlstand vorherrscht, in anderen ein sehr niedriges, führt dies einerseits dazu, dass zahlreiche Menschen in die sichereren, wohlhabenderen Länder flüchten, andererseits dazu, dass zahlreiche Menschen in diesen Ländern Angst haben, dadurch an Wohlstand und Sicherheit zu verlieren. Diese Abwehrhaltung wird dann wiederum durch rassifizierende Diskurse legitimiert: Die Anderen sollen deshalb nichts ins Land kommen, weil sie ihrem Wesen nach anders und gefährlich seien – und solche Diskurse prägen das Bewusstsein von erheblichen Teilen der Wähler:innen.

Eine Partei, die die liberale Ordnung ernst nimmt, kann angesichts dieser paradoxen Normen kaum anders, als zu lavieren: Man muss sich einerseits zu Offenheit und Menschlichkeit sowie den internationalen menschenrechtlichen Konventionen bekennen und andererseits doch auch die nationalstaatliche Ordnung inklusive ihrer Grenzregimes und Abschiebepraxis stützen. Ein solches Lavieren kann man international in allen reichen liberalen Demokratien und in Deutschland bei fast allen Parteien von Die Linke bis zur CSU beobachten. Dabei zeigen sich freilich erhebliche Unterschiede in der Gewichtung sowie im Ausmaß der „Bauchschmerzen“ mit denen Abschottungspolitik verfolgt wird.

(2) Das Erfolgsrezept der AfD: die Spannung einseitig auflösen

Das Erfolgsrezept der AfD besteht seit 2015 darin, sich diesem Dilemma und dem damit verbundenen Lavieren zu entziehen, indem sie die Spannung zwischen Universalismus und nationaler Staatlichkeit einseitig zugunsten der letzteren auflöst. Die grundlegende Diskursstrategie der AfD besteht darin, Migration und Diversität allgemein als Übel und als Ursache aller Probleme zu proklamieren. Dadurch konnte sich die Partei die Teile der Wähler:innenschaft, in denen entsprechende Einstellungen vorherrschen, als sichere Basis erschließen. Zugleich zwingt sie alle anderen Parteien, sich in Fragen zu positionieren, in denen sie sich nicht paradoxiefrei positionieren können.

Zu sagen, dass die AfD eine vergleichsweise eindeutige Position bezieht, wo die anderen Parteien nur lavieren, heißt keineswegs die erstere zu legitimieren. Das Gegenteil ist der Fall. Einer der Unterschiede zwischen demokratischen und faschistischen Parteien besteht eben darin, dass die ersteren versuchen, irgendwie durch die Paradoxien und Spannungen moderner Gesellschaften zu navigieren, während letzteren versuchen, alle Widersprüche mit Gewalt zu einer Seite aufzulösen – und zwar in Richtung der Fiktion eines homogenen nationalen Kollektivs.

(3) Die Herausforderung der AfD: zugleich rassistisch und nichtrassistisch wirken

Jedoch hat diese Widerspruchsfreiheit auch bei der AfD ihre Grenzen. Solange sie noch als demokratische Partei wahrgenommen werden will, darf sie den Menschenrechtsuniversalismus nicht allzu offen ablehnen, nicht allzu offen rassistisch argumentieren. Dabei gibt es zwei Arten von Grenzen, bei deren Überschreitung die AfD vorerst vorsichtig sein muss:

Die erste, sehr viel härtere Grenze, wird durch die rechtlichen Regeln der wehrhaften Demokratie gezogen. Wenn die AfD sich in ihrem Parteiprogramm offen dazu bekennen würde, einen grundlegenden Unterschied zwischen deutschen Bürger:innen mit und ohne Migrationshintergrund zu machen und einen erheblichen Teil der ersteren diskriminieren oder gar aus dem Land werfen zu wollen, könnte sie auch direkt ihren eigenen Verbotsantrag schreiben.

Die zweite  Grenze ist deutlich weicher und unschärfer, weil sie eher moralischer Natur ist: Wenn die AfD bei Wahlen erfolgreich sein will, muss sie auch Wähler:innen ansprechen, die sich selbst als bürgerlich und demokratisch betrachten und fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen wollen. Zudem ist die AfD zumindest kurz- und mittelfristig auch darauf angewiesen, dass Organisationen des politischen und gesellschaftlichen Mainstreams keine zu scharfe Grenze ihr gegenüber ziehen. Entsprechend muss sie es vermeiden, ein „Bürgerschreck“ zu sein.

Somit steht auch die AfD vor einer widersprüchlichen Herausforderung. Einerseits muss sie sich in auf dem Themenfeld Migration, Integration und Diversität möglichst deutlich rassistisch und grausam positionieren, um den entsprechend eingestellten Wähler:innen zu versprechen, weiter rechts zu stehen als alle anderen Parteien – gerade im Bereich der Fluchtmigration wird dies nach den Entwicklungen von Ampel und Union in den letzten Monaten zunehmend schwierig. Andererseits muss die AfD aber darauf achten, weiterhin den Eindruck zu erwecken, fest auf dem Boden des Grundgesetzes und der liberalen Demokratie zu stehen.

(4) Der „Remigrations“-Diskurs als Strategie der Vagheit und Deniability

Der Diskurs rund um das Stichwort „Remigration“, den die Partei schon 2023 mit zunehmender Intensität führte, erfüllt eben diese Doppelfunktion: Einerseits spricht der Begriff die Phantasie an, alle Menschen, die dem eigenen ethnischen Volksverständnis zufolge keine Deutschen sind, aus dem Land zu werfen – ebenso wird er in Teilen der extremen Rechten schon länger konzipiert. Dann ist der bedeutungsidentisch mit der klassischen Neonazi-Parole, die AfD-Politiker anscheinend kürzlich in einer Disco gröhlten: „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ (Wobei „Deutsche“ und „Ausländer“ freilich nicht nach Staatsangehörigkeit, sondern ethnisch/völkisch verstanden werden.)

Andererseits ist der Begriff so abstrakt und wirkt verglichen mit der genannten Parole so seriös, dass man sich stets darauf zurückziehen kann, nur sehr viel weniger zu meinen: Personen ohne legalen Aufenthaltstitel sollen konsequenter abgeschoben werden, Kriegsflüchtlinge sollen nach dem Ende des Krieges wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren usw.

Daher kombiniert der Remigrationsdiskurs einerseits rassistische Verheißung, bietet aber andererseits auch deniability: Man kann immer bestreiten, wirklich etwas Verfassungswidriges gemeint zu haben.

(5) Die Correctiv-Recherche zerschneidet den Schleier der Vagheit

Das Signifikante an der Correctiv-Recherche besteht eben darin, dass sie diesen Schleier der Vagheit an einer Stelle zerschnitten hat. Dafür sind zwei Momente entscheidend. Erstens ist es die Tatsache, dass offen über das eindeutig verfassungswidrige Vorhaben diskutiert wurde, Millionen von deutschen Staatsbürger:innen aus dem Land zu vergraulen oder zu deportieren – z.B. in eine „Musterstadt“ in Nordafrika. Zweitens ist es die Tatsache, dass relevante Repräsentant:innen der Partei an dem Treffen beteiligt waren.

Für die Wirkungskraft der Recherche war es entscheidend, dass nicht nur irgendwelche Einzelpersonen in der AfD für entsprechende Positionen offen sind (dies wissen ohnehin alle und es gilt anscheinend auch für die CDU), sondern sich auch eine direkte Linie zum Machtzentrum der Partei nachweisen lässt – daher die Betonung der Rolle von Roland Hartwig als „rechte Hand“ der Parteisprecherin Alice Weidel.

Sowohl für ein potenzielles Verbotsverfahren als auch für die öffentliche Stigmatisierung ist es ein entscheidender Unterschied, ob irgendwelche Personen in der Partei verfassungswidrige Ziele verfolgen, oder ob sich diese Ziele der Partei selbst zurechnen lassen. Ein Übergang vom einen zum anderen wird unter anderem dann möglich, wenn die beteiligten Personen besonders relevant sind. (Ein anderes Beispiel sind die vielzitierten Äußerungen über „wohltemperierte Grausamkeit“ und „Volksteile […], die zu schwach oder nicht willens sind“ aus Höckes Buch Nie zweimal in denselben Fluss.)

(6) Die AfD versucht die Vagheit wiederherzustellen

Entsprechend lassen sich Reaktionen der AfD auf die Recherche vor allem als Versuche interpretieren, das Loch im Schleier zu flicken und die alte Vagheit wiederherzustellen. Dafür werden verschiedene Strategien bemüht.

  1. Die Partei versucht die Recherchen selbst zu delegimieren, indem sie die Vertrauenswürdigkeit von correctiv in Frage stellt. Dies geschieht z.B. durch den Verweis darauf, dass die Plattform „in Teilen staatsfinanziert“ sei, also von der politischen Konkurrenz dafür bezahlt werde, die AfD schlecht dastehen zu lassen. Es geschieht auch, indem die journalistische Rechercheweise als „Geheimdienstmethode“ bezeichnet wird. Dadurch werden einerseits Zweifel am Wahrheitsgehalt der Rechercheergebnisse gesät; zugleich inszeniert man sich als das eigentliche Opfer.
  2. Die Partei bekennt sich nun umso offensiver zum Schlagwort „Remigration“ – natürlich in seiner vagen Variante. Damit nutzt man einerseits die Aufmerksamkeit für politische Werbung und sät andererseits Zweifel daran, dass überhaupt etwas „enthüllt“ worden sei.
  3. Zugleich bestreitet die Partei, die wirklich strittigen Inhalte – nämlich die Abschiebung deutscher Staatsbürger:innen – wirklich zu vertreten. Remigration meine anderes. Dies kann als Versuch interpretiert werden, die alte Vagheit wiederherzustellen.
  4. Die Partei verweist darauf, dass ihre Positionen sich gar nicht so sehr von denen der anderen Parteien unterschieden, man lediglich konsequent umsetzen wolle, was die anderen bloß versprächen („im großen Stil abschieben“). Auch dies kann als Versuch interpretiert werden, sich selbst als „normal“ und nicht verfassungswidrig darzustellen und so die Grenze zu verwischen.
  5. Roland Hartwig verlor seine Position als Alice Weidels Referent, ohne dass eine Begründung genannt wurde. Auch dies kann als Strategie der Selbstverharmlosung gedeutet werden, mit dem die durch die Recherche etablierte Verbindung zwischen offen verfassungswidrigen Inhalten und dem Machtzentrum der Partei gekappt werden soll, ohne dabei irgendein Fehlverhalten eingestehen zu müssen.
  6. Wenn Björn Höcke die Demonstrant:innen gegen die AfD mit „den Fackelträgern von 1933“ vergleicht, sollte dies vor allem als Trolling-Strategie und als Nebelkerze interpretiert werden: Durch aufmerksamkeitsheischende Statements wird eine substanzlose Ablenkung geschaffen.

Eine differenziertere Betrachtung müsste beachten, dass die AfD kein homogener Akteur ist, sondern innerhalb der Partei und ihres unmittelbaren Umfeldes erhebliche Differenzen bestehen. Die einen (u.a. Maximilian Krah, Martin Sellner, Götz Kubitschek usw.) haben eher ein Interesse daran, dass die Partei jede (auch jede nur taktische) Abgrenzung zur extremen Rechten aufgibt, andere haben ein stärkeres Interesse an Vagheit.

Zudem darf in solchen Angelegenheiten nie die Dimension des Grift vergessen werden. Mit diesem englischen Wort für „Gaunerei“ wird das Verhalten bezeichnet, mit scheinbaren und realen politischen Skandalen Geld zu verdienen. Zu den finanziellen Profiteuren der Angelegenheit dürften mit Sicherheit Götz Kubitschek und Martin Sellner zählen. Kubitscheks antaios-Verlag kündigte für Februar ein von Sellner verfasstes Buch mit dem Titel „Remigration“ an, das man nun schon vorbestellen kann. Eine bessere Marketingumgebung als die aktuelle Aufmerksamkeit kann es kaum geben.

(7) Folgen und Ausblick

Bislang ist unklar, in welchem Maße die Recherche zum Potsdamer Treffen der AfD schaden und nutzen wird. Es wird nicht zuletzt davon abhängen, was besser verfängt: Die Versuche der AfD, die Aufmerksamkeit zu nutzen und den Schleier der Ambiguität wiederherzustellen, oder die Versuche ihrer Gegner:innen, ihn zu zerreißen und darzulegen, dass die AfD eine im Kern antidemokratische Partei ist.

Dabei ist schon jetzt abzusehen, dass es kein einheitliches Ergebnis geben wird. Die meisten AfD-Unterstützer:innen lassen sich bisherigen Umfrageergebnissen nach zu urteilen von der Recherche nicht von ihrer AfD-Unterstützung abbringen – sei es, weil sie den „Mainsteam-Medien“ ohnehin nicht glauben, oder sei es, weil sie die verfassungswidrigen Ideen gutheißen. Zahlreiche Gegner:innen der AfD haben diese schon vorher als antidemokratische Partei erkannt: Die aktuellen Massendemonstrationen sind wahrscheinlich weniger dadurch zu erklären, dass die Rechercheergebnisse eine massive Überraschung gewesen wären, als vielmehr dadurch, dass sich nun endliche eine Gelegenheit zum Handeln ergibt, das vielen vorher schon notwendig erschien.

Entscheidend sind die mittel- und langfristigen Auswirkungen auf die Welt zwischen diesen Polen. Dabei geht es nicht nur darum, ob ein paar Prozent derjenigen, die in den letzten Monaten bei Umfragen angaben, AfD wählen zu wollen, davon nun wieder abrücken. Es geht auch darum, wie sich andere Organisationen zur AfD verhalten: Wenn sich Verbände, Vereine und Parteien sich konsequent gegen die AfD stellen, wenn die CDU ihre „Brandmauer“ wieder etwas ernster nähme und wenn Menschen, die sich zur AfD bekennen in ihrem Alltag unter stärkeren Rechtfertigungsdruck geraten, könnten sich die mittelfristigen Erfolgsaussichten der AfD eintrüben.

Zitiervorschlag

Biskamp, Floris (2024): „Remigration“ – Ein Riss im Schleier der Vagheit. Diskursive Strategien rund um das Remigrationskonzept und die Correctiv-Recherchen. Veröffentlicht am 23.01.2024. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/remigration-diskursive-strategien-und-die-correctiv-recherchen