DiskursReview
DiskursReview
Review-Rückblick (1-2021)
Autoren: DiMo-Redaktion
Version: 1.0 / 27.07.2021
In dieser Rubrik veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen kurze Notizen zu Ereignissen oder Phänomenen, die in den vergangenen Wochen in der strategischen und öffentlichen Kommunikation zu beobachten waren. Die Texte kommentieren subjektiv, unsystematisch, teils widersprüchlich und hoffentlich pointiert. Sie erheben keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, beobachten ihren Gegenstand aber von einer diskursanalytischen und -interventionistischen Position aus und sollen zum Widerspruch einladen. Sie repräsentieren nicht die Position der Redaktion des Diskursmonitors, sondern ihrer jeweiligen Autorinnen und Autoren.
Vom Ende einer wunderbaren Freundschaft, oder: Inder statt Kinder? (Clemens Knobloch)
Über lange Zeitstrecken während der Coronapandemie passte zwischen die machtpolitischen Akteure und „ihre“ offizialisierten Experten kein Blatt Papier. Erste Risse wurden sichtbar, als es um die Anpassung des AstraZeneca-Impfstoffes an die politischen Gegebenheiten ging. Da war freilich die STIKO (fachlich gewiss korrekt) noch selbst vorangegangen und hatte, nachdem sie den Impfstoff zunächst nur für die unter 65-jährigen empfohlen hatte, nach dem Auftreten von Thrombosen bei eben diesen jüngeren, das Steuer herumgerissen und den Impfstoff nur noch für die über 65-jähirgen empfohlen. Das war für die Politik ein Signal, den Impfstoff fortan immer dann zu empfehlen, wenn es um in- oder ausländische Gruppen mit niedriger und wenig zahlungsfähiger Priorisierung ging. Am Ende sollte jeder ihn haben, der ihn wollte. Selbst als Mutprobe hat die Politik den Impfstoff vermarktet. Das Signal für die Öffentlichkeit dürfte nicht gerade vertrauensbildend für das Verhältnis von Politik und Expertentum ausgefallen sein.
Offen ausgebrochen ist der Konflikt zwischen Expertenkommissionen und Politikern dann erst jüngst in der Frage, ob Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren überhaupt geimpft werden sollten. Da sind, verblüffenderweise, CDU-Spahn und SPD-Lauterbach so etwas von einig! Die STIKO indessen hat (wir loben sie!) die verfügbaren Studien gesammelt und ausgewertet, mit dem Ergebnis, dass flächendeckende Impfung von Jugendlichen nicht gerechtfertigt sei, schon gar nicht im Lichte der Tatsache, dass etliche Risikogruppen immer noch auf Impfungen warten. Die Risiken und Nebenwirkungen für Kinder seien unbekannt, der Nutzen für sie ebenfalls. Die STIKO empfiehlt Impfungen nur für Kinder mit Vorerkrankungen. Die Politik hatte definitiv etwas anderes erwartet. Sie wollte (zum Auftakt des Wahlkampfes) alles verhindern, was geeignet sein könnte, die Position von Impfskeptikern zu stärken.
Aus der großen politischen Coronakoalition hört man, die Wiederaufnahme des Präsenzbetriebs an den Schulen sei gefährdet, wenn die Kinder nicht geimpft würden (was die STIKO ausdrücklich verneint). Alles abdecken möchte einmal mehr der SPD-Politvirologe Karl Lauterbach: Im ersten Satz seiner (an diversen Stellen verbreiteten) STIKO-Schelte betont er, wir hätten mehr dafür tun müssen, dass auch die ärmeren Länder mehr Impfstoffe bekommen. Es sei aber keine gute Lösung, den Impfstoff an andere Länder zu verschenken, „der sonst für unsere Kinder gedacht wäre“. Nach allen Regeln der Rhetorik legt das den Schluss nahe, die STIKO habe keine allgemeine Empfehlung gegeben, Kinder zu impfen, damit der eingesparte Impfstoff an ärmere Länder verschenkt werden könne – eine ziemlich infame Unterstellung. Da schlägt der gute Lauterbach sich natürlich auf die Seite der deutschen Kinder, die durch Corona ohnehin schon so viel verloren haben. Pardon: durch die Coronapolitik.
Da denkt man glatt an die „Kinder statt Inder“-Parole von Jürgen Rüttgers (CDU) im NRW-Wahlkampf des Jahres 2000. Damals ging es um den Import indischer IT-Experten für die deutsche Industrie, den Rüttgers mit der Ausbildung eigener deutscher Programmierer an den Schulen kontern wollte.
Nach dem EbM-Netzwerk (einem Zusammenschluss der evidenzbasierten Mediziner) hat sich damit bereits die zweite Wissenschaftsorganisation gegen politische Vereinnahmungsversuche auf die Hinterbeine gestellt. Das EbM-Netzwerk hatte in der ersten Phase der Pandemie massive Kritik am irreführenden medio-politischen Umgang mit ständig neu errechneten Fall-, Erkrankungs- und Todeszahlen geübt.
#allesdichtmachen – Hashtags im Coronadiskurs (Fabian Deus)
In den letzten Monaten konnte man aus der groben Draufsicht grundsätzliche Verschiebungen im Corona-Diskurs beobachten, die sich exemplarisch anhand unterschiedlicher Hashtags nachvollziehen lassen. Dass Hashtags nicht nur technische Funktionen erfüllen und Einfluss auf die ‚Usability‘ sozialer Netzwerke haben, sondern vielmehr auch kommunikatives Funktionselement in politischen Diskursen sind, ist inzwischen kein großes Geheimnis mehr. Mit Hashtags verbundene oder aus diesen entstandene Bewegungen wie #blm (black lives matter) oder #unteilbar zeigten dies ganz deutlich, aber auch Parteien und viele andere politische Akteure haben längst gelernt, dass der gezielte Einsatz von Hashtags Aufmerksamkeit in sozialen Medien effektiv lenken oder erst generieren kann (#flattenthecurve). Grundsätzlich können Hashtags entweder überparteilich verwendet werden und dabei diskursstrukturierende Funktionen realisieren, indem zu einem Diskurs gehörige Beiträge mit entsprechenden Hashtags versehen werden (Verschlagwortung, Tagging). Andererseits lässt sich häufig ein Gebrauch von Hashtags beobachten, der aus politolinguistischer Sicht dem Schlagwortgebrauch stark ähnelt – zum Beispiel, wenn Hashtags, wie in den genannten Beispielen, für Bewegungen in die Rolle von Fahnenwörtern schlüpfen.
Ein weiteres auffälliges Beispiel hierfür stellt das Hashtag #allesdichtmachen dar, das ab Ende April einige Wochen lang die sozialen Netze erregte. Die Funktion des Hashtags für die Aktion der 50 Filmemacher ähnelt der eines Fahnenwortes, die der Sprachwissenschaftler Fritz Hermanns als verdichtete „Erkennungszeichen von Parteiungen“ charakterisierte (vgl. Schlagwort). Das ironische Hashtag hatte initial (zusammen mit weiteren Hashtags #niewiederaufmachen, #lockdownfürimmer) die Funktion, die zur Aktion beitragenden Tweets zu bündeln und ihnen durch die koordinierte zeitgleiche und massenhafte Verwendung Aufmerksamkeit zu verschaffen, wozu der Twitter-Algorithmus einen für die Initiatoren nützlichen Beitrag leistete. Dies funktionierte so gut, dass insbesondere infolge der direkt einsetzenden Empörungswelle, zu der insbesondere auch viele Medienschaffende beitrugen, das Thema für die folgenden Wochen gesetzt war. Dass die Video-Aktion derartig heftige Reaktionen hervorrief, mag für einige Beteiligte überraschend gewesen sein (was sich an den diversen Distanzierungen und Entschuldigungen zeigt, die in der Folge nicht ganz unwesentlich dazu beitrugen, die Aktion weiter auf den Titelseiten und in den Trends zu halten), erklärt sich aber primär aus dem Umstand, dass hier eine qualitative Abwendung vom hegemonialen Corona-Narrativ vertreten wurde, und diese – und das ist entscheidend! – nicht mehr einer stigmatisierten Fremdgruppe (Schwurbler, Verschwörungstheoretiker, Querdenker) zugeschrieben werden konnte, sondern von prominenten und (bis dahin) hoch angesehen Medienschaffenden vertreten wurde. Plakativ formuliert: Die Aktion wurde als Verrat im eigenen Team wahrgenommen. Terminologischer formuliert: Die koordinierte Durchführung von #allesdichtmachen durch prominente Vertreter des etablierten Medien- und Kulturbetriebes offenbarte eine agonistische Akteurskonstellation auch im hegemonialen Zentrum des Diskurses, die zuvor so nicht erkannt wurde.
Ganz dazu passend schrieb der Journalist Stefan Niggemeier am 22.April als direkte Reaktion auf die Veröffentlichung der Videos bei Twitter:
Bekannte, geschätzte Schauspielerinnen und Schauspieler kämpfen mit ekliger Ironie gegen #Corona-Maßnahmen. Ich kann das gar nicht glauben. […] Vielleicht ist es nur der Tatsache geschuldet, dass es gerade so frisch ist und alle so aufgeregt sind, aber – Es fühlt sich wie ein Dammbruch an. Der größte Erfolg der Querdenkerszene bisher. #allesdichtmachen
Die hier offenkundig gewordene Fragmentierung des Diskurses ließ sich in den folgenden Wochen vielfach wieder beobachten (man denke z.B. an #DiviGate). Zuletzt versuchte ein ‚interdisziplinäres Autorenkollektiv‘ um die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot mit dem Hashtag #coronaaussoehnung (und einer knapp 70-seitigen PDF) hier eine Intervention – mit wohl eher verhaltener Resonanz. Demgegenüber konnten sich die Initiatoren der Hashtag-Inititative #IchbinHanna bislang nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beschweren…
Die Twitter-Initiative #IchbinHanna – Kritik am Wissenschaftszeitvertragsgesetz (Friedemann Vogel)
Seit etwa Juni 2021 vernetzt sich auf Twitter unter dem Hashtag #IchBinHanna eine Initiative gegen den Ansatz des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) und seine Folgen vor allem für den nicht-professoralen Anteil des wissenschaftlichen Personals in Lehre und Forschung. Die neuerliche Kritik entzündete sich an einem „Erklärvideo“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), in dem am Beispiel einer weiblichen Figur namens Hanna die Befristungsregelungen nach dem WissZeitVG verteidigt wird. Befristungen an Universitäten seien notwendig, um auch für jüngere Generationen noch Qualifizierungsmöglichkeiten zu bieten und die Universität nicht mit Dauerstellen zu „verstopfen“ (so eine wortähnliche Formulierung im Video). Dem Aufruf, unter den Hashtags #IchbinHanna, #IchbinHannah, #IchbinReyhan, #WissZeitVG u.a. über die eigene akademische Befristungsbiographie zu berichten, folgten Hunderte quer zu den Disziplinen, vor allem aber aus dem Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften. ProfessorInnen haben sich – soweit wir sehen – bislang nur vereinzelt (wahrnehmbar) in sozialen Medien geäußert, die Initiative und ihre SprecherInnen (im Sinne von medial aufgegriffenen Stimmen) wurden jedoch mittlerweile massenmedial aufgegriffen, darunter im Deutschlandfunk sowie in den Tagesthemen. Auffällig – und von den ProtagonistInnen mit Verweis auf ihre Altersgruppen auch als eine Form der Infantilisierung zurückgewiesen – ist die anhaltende und auch massenmedial reproduzierte Rahmung der Akteure als ‚junge‘ (junge Frauen, wissenschaftlicher Nachwuchs). Schon vor Provokation massenmedialer Aufmerksamkeit sah sich das Ministerium zu einer Reaktion gezwungen, in dem es das kritisierte Video auf der Website deaktivierte und zudem durch einen Kommentar eines Staatssekretärs verteidigte. Sehr wahrscheinlich ist es vor allem der anlaufende Wahlkampf, der die Wahrnehmungsfähigkeit des Ministeriums für Kritik an seiner Politik schärft, und nicht allein die Aktivitäten in sozialen Medien bzw. die große Anzahl an betroffenen Stimmen. Entsprechend wird für mittel- und erst recht langfristige Perspektive der Initiative entscheidend sein, das Thema auf die Agenda des parteipolitischen Wahlkampfes zu bringen und sich über die Bundestagswahl 2021 hinaus auch außerhalb digitaler Medien (‚embodied‘) als soziale Bewegung zu organisieren. Ansätze hierzu sind bereits erkennbar – auf lokaler, universitärer Ebene haben sich zahlreiche Arbeitszirkel gegründet oder wurden neu belebt; auch die Gewerkschaft GEW tritt (v.a. über den stellvertretenden Vorsitzenden Andreas Keller) wahrnehmbar in der Diskussion auf und konnte im Kontext der Kritik Neumitglieder im Wissenschaftsbereich akquirieren. Wichtig wird es dabei, die ProfessorInnenschaft weiter einzubeziehen und für öffentliche Positionierungen zu gewinnen. Ansätze hierzu sind erkennbar in Form öffentlicher Stellungnahmen verschiedener Fachverbände, darunter der DHD-Verband, die Deutsche Gesellschaft für Amerikastudien (DGfA), der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V. (VHD), die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) sowie zuletzt (12.07.2021) auch die Gesellschaft für Hochschulgermanistik (DGV). Für die weitere Auseinandersetzung könnte vor allem auch hilfreich sein, die zeitlichen und finanziellen Kosten, die das akademische Befristungswesen infolge des WissZeitVG für die Universitäten (Praktiken in Forschung, Lehre und Verwaltung) allgemein und für das Professorium im Besonderen hervorrufen, zu kalkulieren und ins Verhältnis zu setzen mit den Kosten einer Entfristung aller Stellen mit Daueraufgaben.
Eine oberflächliche Auswertung von rund 76.000 Tweets von 10.939 Accounts, die bis zum 04.07.2021 unter den Hashtags #IchBinHanna und #HannaImBundestag (inkl. Schreibungsvarianten) auf Twitter veröffentlicht wurden[1], zeigt eine hochfrequente thematische Verknüpfung der Protagonisten mit:
- Bundespolitischen Institutionen und politischen Partien als Adressaten der Kritik am WissZeitVG (#Karliczek, #BMBF, #Bundestag, #Linke, #Gruene u.a.)
- Interessensvertretungen (v.a. die #GEW, Fachvertretungen wie #DGS, #DigitalHumanities u.ä.);
- wissenschaftsfeindlichen Arbeitsbedingungen (#Machtmissbrauch, #unbezahlt, #Klassismus, #acertaindegreeofflexibility u.ä.);
- Folgen durch die Befristungssituation (#frististfrust)
- politischen Aktivitäten jenseits digitaler Plattformen (#Hannastreikt, #Streik, #GeneralstreikWissenschaft)
45400 Tweets adressieren einen weiteren Account (den eigenen oder einen Fremdaccount); die meistverknüpften Accounts (einschl. Retweets) in insg. rund 120.000 Tweets sind BMBF_Bund, sebastiankubon, AnjaKarliczek, DrKEichhorn, AmreiBahr, AchimLandwehr, jenniferhenkeHB, gew_bund, mahaelhissy, t_winnerling, AKellerGEW, martin_hebart, NGA_Wiss, VHDtweets, UniHeidelberg, emdiplomacy, rosaluxstiftung, Fionnindy, NicoleGohlke, AnnikaSpahn, WirSindHanna, cemas_io, Linksfraktion, _verdi, lando_muc, hhu_de, zi_mannheim, Dori_Kiel, Kinofrau1, BMWi_Bund, HumboldtUni, N2PhDNet, DegnerAnja, C21Literature, schorn_stephan, dawwidd, gruenebundestag, HRK_aktuell, dorothee_goetze, uni_mainz, zettlr, chrismeyer2203, DGSoziologie, KITKarlsruhe, hkrichel, zeitonline, KonstanzLing, kieluni, NicoNolden, schuh_melissa.
Inklusiver Kapitalismus? (Susanna Weber)
Im Umfeld der Berichterstattung zum Wahl-Parteitag von Bündnis90/Die Grünen las man zum ersten Mal die Formulierung „Inclusive Capitalism“ und dass Joe Kaeser, vormaliger Siemens-Vorstand und jetzt Aufsichtsrat ebendort, sich im Rahmen seiner Rede vor dem Parteitagspublikum als „Believer in Inclusive Capitalism“ bekannt habe (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/kumpel-kaeser-nennt-es-inclusive-capitalism).
In den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg war es schon gelungen, den Kapitalismus als „soziale Marktwirtschaft“ in den Köpfen und Strategien auch der SPD und der Gewerkschaften zu verankern, ihr Ableger und Nachfolger, die „ökologisch-soziale Marktwirtschaft“ schaffte es schließlich bis in die Texte der Grünen wie auch der Konrad-Adenauer-Stiftung, jetzt darf es also wieder der Kapitalismus sein, aber eben „inklusiv“.
Nun gehören Glaubensbekenntnisse derzeit eigentlich nicht zu den wirkungsvollsten Manövern politischer Rhetorik, aber die Geste Kaesers hat einen handfesten Hintergrund: nach der Finanzkrise 2007/2008 hatte sich in den USA eine Art Think Tank und Lobbygruppe kapitalstarker Akteure zusammengefunden, die unter dem Namen „Coalition for Inclusive Capitalism“ ein Projekt vorantreiben will, die nach den „Exzessen“ der Finanzkrise angeschlagene Reputation des Kapitalismus wiederherzustellen. Als Ableger firmiert inzwischen ein „Council for Inclusive Capitalism“, das weltweit und offiziell unter der „moralischen Schirmherrschaft“ des Vatikan diese Aktivitäten begleitet. In schöner Eintracht arbeiten in diesem erlauchten Kreis hochrangige CEOs, Finanzmarkt-Akteure, einschlägige Beratungsunternehmen zusammen, moralisches und Geld-Kapital wird/wurde zur Förderung der „eigentlichen“ Stärken des Kapitalismus vereint, denn „done right“ würde dieser schon für eine „faire, dynamische und nachhaltige“ Welt sorgen, so die Überzeugung der „coalition“ (https://www.coalitionforinclusivecapitalism.com/epic/).
Nachdem das „Soziale“ verschlissen wurde, zuletzt als Deckbegriff für den Abbau sozialer Sicherungssysteme, wachsende Kommerzialisierung und Selbstausbeutung (Stichworte hier: Hartz IV-Gesetze, Ich-AGs etc.) und „ökologisch“ und „nachhaltig“ erfolgreich vom Mainstream gekapert wurden (der neueste Coup sind hier die sogenannten „nachhaltigen“ Finanzprodukte, die nicht nur Rendite, sondern auch ein gutes Gewissen abzuwerfen versprechen), um die Wandlungs- und Regenerationsfähigkeit der kapitalistischen Ökonomien zu demonstrieren, hat es nicht sehr lange gedauert, bis auch das aktuelle Fahnenwort „inklusiv“ auf ähnliche Weise im politischen Sprachgebrauch verwertet wurde. Wer sozial, ökologisch, nachhaltig und inklusiv klug zu verwenden weiß, braucht über Gleichheit, Gerechtigkeit oder ähnlich unangenehme Dinge nicht zu reden. Der moralisierte und moralisierende Gebrauch dieser vier semantischen Schwergewichte macht es leicht, dazu kritische Positionen abzuwehren und ins Unrecht zu setzen (vgl. Inklusion und Moralisierung).
Derzeit ist im Rahmen der Zurichtung der Programmatik der Grünen auf Regierungs-Optionen nach der Wahl im September zu beobachten, wie tendenziell kapitalismus-kritische Positionen innerhalb der Partei (weiter) marginalisiert werden.
Die Einladung Kaesers als Gastredner ist dabei ein deutliches Signal vor allem an die jüngeren Mitglieder der Partei, deren nicht regierungstaugliche Forderungen zum Beispiel zur Höhe eines vertretbaren Mindestlohnes oder der Vermögenssteuer in der Diskussion um das Wahlprogramm restlos vom Parteivorstand kassiert wurden. Der moralisch einwandfreie, weil „inklusive“ Kapitalismus (inhaltlich ja durchaus keine neue Idee, schon Adam Smith hat sie entwickelt), technologisch hochgerüstet bis an die Zähne, scheint die Zukunftsvorstellungen der Grünen gut abzubilden.
Der Wahlkampf hat begonnen (Friedemann Vogel)
Mit Beginn des Bundestagswahlkampfs haben die verschiedenen Parteien und Interessensgruppen ihre Werbe- wie auch Negativkampagnen gestartet. Auch wenn wiederholt behauptet wird, der Ton sei „rauer“ geworden, fügt sich das multimediale Geschehen und die beobachtbaren Formen strategischer Kommunikation weitestgehend in die politischen Praktiken vergangener Jahrzehnte ein. Hierzu zählt vor allem auch ein personalisierter Wahlkampf, in dem es darum geht, ‚Führungsfiguren‘ aufzubauen oder – je nach Perspektive – zu demontieren. Weniger die Form des Wahlkampfes als vielmehr die Tatsache ist interessant, gegen wen (Person wie Partei) in welcher Schärfe agitiert wird: Während die SPD als jahrelanger Kooperationspartner und mit historisch niedrigen Zustimmungswerten derzeit chancenlos darum ringt, sich in der werbenden Öffentlichkeit als Unionsalternative zu präsentieren und von den Unionskampagnen de facto als ‚Konkurrent‘ ignoriert wird, sind vor allem die GRÜNEN Ziel der Angriffe. Negativkampgen wie die des neoliberalen Think Tanks ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft‘ gegen die Grünen signalisieren, dass sie zumindest derzeit als ernstzunehmende ‚politische Gefahr‘ wahrgenommen und daher strategisch bearbeitet werden. Zugleich darf man bei dieser öffentlichen Konfliktrhetorik nicht übersehen, dass die GRÜNEN auf Bundesebene bei zahlreichen fundamentalen Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nur geringfügige politische Unterschiede zu den bisherigen Regierungsparteien aufweisen (etwa mit Blick auf gesellschaftliche Ressourcenverteilung, Rüstungs- und Außenpolitik).
Weißrussland (Belarus): der Fall Roman #Protasevich (Friedemann Vogel)
Ende Mai wurde ein ziviles Flugzeug in Weißrussland zur Zwischenlandung gezwungen, mutmaßlich um einen sich darin befindlichen politischen Gegner, Roman Pratassewitsch, zu inhaftieren. In sozialen Medien wie auch in Massenmedien entbrannte umgehend eine semantische Schlacht um die Einordnung des Protagonisten: Während die Mehrheit der deutschsprachigen Presse ihn als Regimekritiker, Freiheitskämpfer und Journalist / Blogger inszenierte, für den sich ‚der‘ Westen einzusetzen habe, kursierten in Teilen der sozialen Medien Hinweise auf eine neonazistische Vergangenheit von Pratassewitsch als Mitglied einer paramilitärischen Gruppe („Azov Battalion“). Es ist auffällig, dass diese Hinweise in der deutschsprachigen massenmedialen Berichterstattung fast gänzlich ignoriert wurden. Im Unterschied zur englischsprachigen Seite findet sich auch kein Hinweis im deutschsprachigen Wikipedia-Artikel . Für Außenstehende sind Kampagne bzw. wechselseitige Propaganda von seriöser Forschung kaum zu unterscheiden; Diskursfragementierung und latenter Krieg mahnen zur Skepsis in jede Richtung. Offensichtlich ist in jedem Fall die Diskrepanz in der medialen und politischen Konstruktion der Figur Pratassewitsch im Unterschied zu Julian Assange, der zahlreiche Menschenrechtsverletzungen publik machte und dafür ohne rechtsstaatliches Urteil seit fast 10 Jahren innerhalb der EU festgehalten und isoliert wird. Bei aller empörten Emphase für die Freiheit (die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einer attack on freedom of expression. An attack on European sovereignty) ist die öffentliche Haltung der EU auch insofern widersprüchlich, als sie im Falle einer von den USA indirekt erzwungenen Zwischenlandung der bolivianischen Präsidentenmaschine von Evo Morales in Wien (2013; Grund war die geheimdienstliche Fahndung nach Edward Snowden) weniger moralische Bedenken hatte.
Politisch Korrektes versus Korrekte Politik? (Friedemann Vogel)
Ebenfalls Ende Mai berichteten zahlreiche Medien, in Schleswig-Holstein werde die Umbenennung des Ortes Negernbötel gefordert. Ob eine Umbenennung tatsächlich und von wem genau gefordert wurde, ist hier nicht relevant: auffallend ist vielmehr die umgehend darauf einsetzende Debatte um politische Korrektheit, bei der sich die einen gegen die grüne Sprachpolizei (BILD vom 27.05.2021), die anderen als kultursensible Aufklärer profilieren konnten. Während die Debatte hierzu weitestgehend dem Muster vorhergehender sprachpolitischer Diskussionen folgte (etwa dem Fall Mohrenstraße in Berlin) und dennoch große mediale und politische Resonanz erzeugte, fand die zeitgleich geäußerte Kritik Namibias an dem Reparationsangebot für den Völkermord deutscher Besatzer Anfang des 20. Jahrhunderts praktisch kaum medialen Widerhall. Deutlicher wird das Auseinanderklaffen von inszenierter moralischer Haltung und moralischer Praxis bzw. Politik selten offensichtlich.
[1] Vielen Dank an Stefan Laser (Siegen) und das #IchBinHanna Research Collective 2021 für die adhoc-Überlassung der Daten.
Zitiervorschlag
Redaktion-Diskursmonitor (2021): Review-Rückblick (1-2021). In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/review-rueckblick-2021-1