DiskursReview | Arbeitspapiere

Die Unordnung des Diskurses?

Thesen zur semantischen Desorientierung in der gegenwärtigen medio-politischen Öffentlichkeit

Autoren: Friedemann Vogel und Fabian Deus
Version: 1.1 / 14.04.2022

Disclaimer I: Die nachfolgenden Zeilen sind das Zwischenergebnis kontinuierlicher gemeinsamer Beobachtungen und Diskussionen in der „Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention“ zu Debatten in Presse, Politik und sozialen Medien. Auch wenn diese Beobachtungen fachlich orientiert sind, liegen ihnen bisher keine systematischen Datenanalysen zugrunde. Wir erheben also keinen Anspruch auf empirische Sättigung oder Vollständigkeit, sondern möchten gerne zum kritischen Nach- und Weiterdenken über diese Thesen und die gegenwärtige Diskurssituation anregen. Für Hinweise dazu wie auch kontroverse Kommentare sind wir offen und dankbar.

Disclaimer II: Die Kernthesen beziehen sich auf die Diskurssituation vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Seit der Eskalation des Konfliktes hat sich die Diskurskonstellation bereits wieder verändert – inwiefern dies der Fall ist, ist Gegenstand des letzten, später hinzugekommenen Abschnitts 5.

__________________

(1)

Die Verhandlung und Durchsetzung von politischen Programmen setzt voraus, dass diese Programme und die damit verbundenen sozialen Interessensgruppen sowohl für ihre Anhänger als auch für Gegner öffentlich sichtbar sind und wiedererkannt werden können. Diese öffentliche (Wieder-)Erkennbarkeit stellen die Gruppen typischerweise durch die wiederholte, oft strategische Verwendung von sprachlich-kommunikativen Zeichen her, etwa mithilfe fahnenartiger Symbole (z.B. Logos, Farben, sog. „Corporate Design“), Schlagwörter, Slogans, aber auch durch gruppenspezifische Dresscodes oder Praktiken. Mit anderen Worten: politisch-mediale Diskurse sind üblicherweise durch eine Ordnung der Symbole geprägt, die es Bürgerinnen und Bürgern erlaubt, sich zu Programmen, Parteien usw. zu positionieren. Demgegenüber glauben wir, dass die gegenwärtige mediale und politische Diskurslandschaft und die in ihr agierenden Interessensgruppen mit einer zunehmenden diskurssemantischen Desorientierung und Verunsicherung konfrontiert sind. Ursache für diese Desorientierung ist, dass der gemeinsame, gruppenübergreifend bekannte sozialsymbolische Code zur Identifizierung und Abgrenzung von sozialen Gruppen, politischen Lagern und ihren Positionen, Wertungen und Themen verloren geht oder zumindest gehörig durcheinandergeraten ist. Bisherige sprachlich-symbolische Ordnungs- und Orientierungsschemata ‚funktionieren‘ nicht nur in der öffentlichen Massenkommunikation, sondern teilweise auch schon in der privaten Interaktion immer schlechter: angefangen bei relationalen Ordnungsbegriffen wie links, rechts, Mitte bis hin zu politischen Klassifizierungsvokabeln wie rassistisch, antisemitisch, populistisch, solidarisch u.v.a. Mit anderen Worten: Es wird für Kommunikanten immer schwieriger, die präferierte „Wir“- oder Eigengruppe („Freund“) und die (warum auch immer) abzulehnenden Fremdgruppen („Feinde“) sprachlich zu markieren und Gruppenmitglieder an ihrem Sprachgebrauch sozial zuzuordnen.

(2)

Diese diskursive sozialsemiotische Unordnung von Diskursakteuren wird außerdem durch eine über die letzten Jahre zunehmende Moralisierung öffentlicher Diskurskultur verschärft: Damit ist gemeint, dass politische und soziale Konflikte weniger entlang programmatischer (oder interessensbasierter) Trennlinien interpretiert, sondern vermehrt entlang der ‚moralischen‘ Position beteiligter Akteure kodiert werden. Auch der Anteil an Metadiskursen ist kontinuierlich gewachsen und hat die Austragung von Konflikten um politische Programme („Wie sollen wir leben?“) teilweise verdrängt durch die Austragung von Konflikten um öffentliche Sagbarkeit („Wie sollen wir kommunizieren? Wer darf was sagen?“). Diese Entwicklung führt bei vor allem sich akademisch definierenden Teilen der Diskursakteure zu einer ständigen Beobachtung und Korrektur der öffentlichen Positionierung („Verhalte ich mich akzeptabel?“). Das könnte einerseits zu sensiblerem Sprachgebrauch anleiten, in politischen Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Gruppen aber zugleich auch hemmen und verunsichern (während diese Tendenz opponierende Gruppen wiederum zur Provokation und kommunikativen Enthemmung einladen könnte) und die Konflikte gleichzeitig radikalisiert: Mit denjenigen, die sich für das moralisch Falsche entschieden haben, kann es keinen Ausgleich geben und ihre Ziele können nicht nachvollziehbar sein. Sie müssen bekämpft werden. Auf diese Weise wird selbst die Metakommunikation zur Klärung der Unterschiede von politischen (und sozialen Feld-) Positionen erschwert oder gar unmöglich gemacht[1].

(3)

Sollte die These von einer zunehmenden diskurssemantischen Desorientierung zutreffen, so könnte dies verschiedene Folgen nach sich ziehen, zum Beispiel:

  • Mit dem Verschwimmen von Gruppengrenzen könnten auch ganz generell die diskursiv wahrnehmbaren Grenzen zwischen manifesten Freund-Feind-Konstellationen verwischen. Es würde schlicht unklar, wer wie zu adressieren ist: Gehört er oder sie zur Eigengruppe oder holt man sich versehentlich ein Mitglied der ansonsten abzulehnenden Fremdgruppe ins Haus?
  • Die damit verbundene Unsicherheit dürfte sich in einer Expansion des Tabu- und Verdachts-Terrains auf dem diskurssemantischen Feld bemerkbar machen. Zugespitzt formuliert: Kommunikanten stünden fortwährend unter Legitimationsvorbehalt, lauernd, ob sich hinter dem beobachtbaren Sprachgebrauch des Gegenübers nicht doch die Denke des Feindes oder zumindest von moralisch abzulehnenden Gruppen verbirgt.
  • Korrespondierend zur Verdachtslogik könnten Debatten selbst unter vergleichsweise politisch verwandten Gruppen sehr viel schneller eskalieren: Vorwurfssequenzen würden zunehmen, Anzahl und Dauer von Eskalationsstufen sich verkürzen, Diskursrückzug von kommunikativ Unsicheren zunehmen (bis hin zur „Schweigespirale“, vgl. Noelle-Naumann 1980/2001).
  • Wenn die sprachlich-kommunikative Aushandlung von politischen Divergenzen zunehmend erschwert und Freund-Feind-Grenzen zeichenhaft nicht mehr geklärt werden könnten, stiege die Gefahr für eine gewaltförmige Klärung dieser Grenzen – sei sie in Form staatlich-autoritärer Maßnahmen und/oder in Form von Straßenkämpfen.
  • Wer von dieser semantischen Desorientierung profitiert, ist nicht ganz klar: Einerseits könnten jene politischen Bewegungen (insb. autoritär, nationalistisch orientierten Gruppen) profitieren, die sich infolge der verschlechterten Identifizierbarkeit auf dem diskursemantischen Feld leichter einer staatlichen und/oder zivilgesellschaftlichen Kontrolle entziehen könnten. Darüber hinaus schaffte die sozialsemiotische ‚Unordnung‘ eine hervorragende Grundlage dafür, gleich dem Wolf im sprachlichen Schafspelz sich die Lämmer anzueignen. Und/oder es profitierten solche Gruppen, die das Spiel am konsequentesten betreiben („rechts“ und „links“?) und identitätspolitisch zu Nutze machen, bis hin dazu, dass der Staat darauf akkommodierend (durch Repression oder Förderung) reagierte.
  • Teile der hier genannten Folgen wären ihrerseits auch selbst Konstituenten für diskurssemantische Desorientierung, es drohte eine sich selbst-verstärkende Spirale.

(4)

In den ersten drei Abschnitten postulieren und skizzieren wir globale Diskursstrukturen aus der Vogelperspektive. Woraus aber speisen sich diese Strukturen? Wir beobachten (teils in qualitativen und teils in quantifizierenden Analysen) seit einigen Jahren vermehrt verschiedene strategische Diskurspraktiken und emergente semantische Prozesse, die sich teilweise gegenseitig bedingen und verstärken, und von denen wir annehmen, dass sie in ihrer Gesamtheit die gegenwärtige Verunsicherung in öffentlichen Diskursen hervorbringen. Die nachfolgende Liste ist nicht vollständig.

  1. Wechselseitige Übernahme und semantische Diffundierung (inkl. partieller Umdeutung) von einstigen Programmvokabeln zu parteiübergreifenden, oft moralisch aufgeladenen Hochwertwörtern; beispielhaft: nachhaltig / Nachhaltigkeit, inklusiv / Inklusion, divers / Diversität, Demokratie / Demokratisierung (u.a. zur Legitimierung von Angriffskriegen).
  2. Massive Bedeutungserweiterung von zumindest teilweise terminologisierten Stigmawörtern zu omnipotenten Kontaminationswörtern vor allem im sich bürgerlich-linksliberal verstehenden Diskursmilieu: zum Beispiel rassistisch, antisemitisch, Verschwörungstheoretiker.
  3. Generelle Zunahme an Fällen der Politisierung (vor allem Abwertung) von Wörtern und Formulierungen aus dem nicht-politisierten Alltag, zum Beispiel Spaziergang, Hamstern.
  4. Verschiedene teilweise bewusst gewählte (strategische) Praktiken von Gruppen mit rechtsnationalistischer Selbstpositionierung (Parteien, Vereine u.ä.) mit dem Ziel, eigene Positionen zu popularisieren und wählbar zu machen: einerseits durch Aufmerksamkeitsprovokation und andererseits durch diskursive Unkenntlichmachung inszenierte ‚Normalisierung‘. Zu diesen Praktiken zählen unter anderem:
      • Rechtsnationalistische Übernahme von Kontaminationswörtern, die vor allem in sich akademisch oder linksliberalen verstehenden Milieus verwendet wurden; damit zugleich die Übernahme (bzw. das Vortäuschen) von bürgerlichen Identifikationscodes und semantische Entwaffnung des Gegners (indem ihm sein politisches Distinktionsvokabular genommen wird):

        Beispiel: Rassismus-Vorwurf der AfD gegenüber der Bundeszentrale für politische Bildung:
        Pure Hetze und plumper Rassismus gegen uns Deutsche von einer staatlichen Institution, die wir, ‚rassistischen Kartoffeln‘, jährlich mit 65 Millionen Euro Steuergeldern finanzieren müssen.
        (https://www.afd.de/stephan-brandner-bundeszentrale-stellt-deutsche-unter-rassistischen-generalverdacht/, 08.03.2022)

       

      • Rechtsnationalistische Übernahme von akademischem (linksliberalem) Alltags- und Beschreibungsvokabular oder Nachahmung von bürgerlich-akademischem Sound: diffamieren, Ethnopluralismus, bürgerlich, Spaziergang, Querdenker / querdenken u.a.

        Beispiel: Konfusion der Beobachter (siehe Kommentare) durch semantische Dissonanz von Postersprache (kritische Bürger, diffamieren) und Reichsflaggen-Kontext (https://twitter.com/sduwe/status/1480657942504484868, 08.03.2022):

Beispiel: Rechtskonservative Demo-Ordner verkleiden sich als Polizisten, übernehmen also die Repräsentationscodes der legitimen staatlichen Gewalt, und stiften damit Irritation (https://twitter.com/allesmittelgrau/status/1482366742311616519, 08.03.2022):

      • Rechte Camouflagepraktiken, das heißt Vermeidung von offensichtlichen rechtsnationalistischen Identifikationscodes:

        Beispiel: Twitter-Account „Analyse_report“, der vermeintlich neutrale Informationen und Analysen zum Krieg in der Ukraine postet, hinter dem sich aber (zunächst erfolgreich) Akteure der (ehemaligen) „Identitären Bewegung“ verbergen (Quelle: https://twitter.com/analyse_report?lang=de, 15.03.2022):

      • Zunehmend beobachten wir, dass auch die Zuordnung von Teilen des politischen Ideologievokabulars fragil geworden ist. Insbesondere versuchen neurechte Akteure, sich Teile der Sprache des politischen Gegners anzueignen und diesen damit kommunikativ und ideologisch zu entwaffnen, z.B. Kapitalismus (Kapitalismuskritik, Antikapitalismus), Arbeit* (Arbeiterklasse, Arbeiterpartei) oder soziale Frage
      • Damit einher geht auch die Inszenierung der Neupositionierung von Parteien oder Bewegungen im politischen Raum: Während die AfD sich als ‚neue Arbeiterpartei‘ zu positionieren versucht, inszenieren sich neurechte Gruppen als systemoppositionelle Protestbewegungen, während beide linken Parteien und Gewerkschaften vorwerfen, dass sie ihre Wurzeln bzw. ihre (ehemaligen) Wähler und Mitglieder verraten hätten, um Politik im Dienste der ökonomischen Kapitalinteressen und politisch Herrschenden zu machen. Oft zu beobachtende Argumentationsmuster und Selbstbeschreibungen behaupten: Heute bearbeiten Rechte die Politikfelder und vertreten die Interessen derjenigen Menschen, die vor nicht allzu langer Zeit das Anliegen der politischen Linken waren. 
      • Derartige Desorientierungen resultieren auch aus diskursstrategischem Kalkül: So empfahl der neurechte Autor und Verleger Götz Kubitschek 2017 der AfD zur weiteren Ausweitung des Diskurses kommunikative „Verzahnungstechniken“ und die gezielte „Auflösung klarer Fronten“: „Sprachlich kann man dadurch verzahnend vorstoßen, daß man zitiert und auf Sprecher aus dem Establishment verweist, die dasselbe schon einmal sagten oder wenigstens etwas Ähnliches. Verzahnen bedeutet auch: eine provozierende Sache nie ungeschützt zu unternehmen und nie alleine zu weit vorzustoßen, sondern stets darauf zu warten, daß diejenigen, die nicht weit entfernt sind, den Anschluß halten.“

        Rechte Aneignungsversuche lassen sich nicht allein auf der Ebene der politischen Lexik beobachten. Auch als „traditionell links“ geltende guerilllakommunikative Praktiken, Parolen, Ikonographie oder Theorie(fragmente) oder kanonisierte Intellektuelle werden von rechts okkupiert. Aktuell bewirbt z.B. die „GegenUni“, ein neurechter Online-Lesekreis, eine Veranstaltung zu „Rechtem Lesen“ mit Portraits des marxistischen Autors Bertolt Brecht und des Sozialisten George Orwell. Und die rechtsextreme Gruppe „Der Dritte Weg“ wirbt zum Todestag mit einer Plakataktion: Heute wäre Rudi Dutschke einer von uns! (Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus 2020).

    Sharepic der GegenUni (https://gegenuni.de/courses/sommersemester-22-seminar-rechtes-lesen, 03.04.2022)

    Auch die strategische Aneignung von Opfer-Identifikationssymbolen durch Rechte sind zu beobachten, möglicherweise weniger mit dem Ziel der Selbstviktimisierung (à la Bombenholocaust), sondern zur diskurssemantischen Desorientierung von nicht-akademisch-bürgerlich geprägten Gruppen: Vergleiche mit Anne Frank, Tragen des Davidsterns.

    Die Nachahmung bzw. der Einsatz von eigentlich als ‚linksliberal-emanzipatorisch‘ codierten Guerillakommunikationstechniken dient häufig der Aufmerksamkeitsgenerierung, der Selbstviktimisierung und zuweilen der (auch rechtlichen) Selbst-Banalisierung (wie im Falle des Wahlwerbeplakates der neurechten Gruppe „Der dritte Weg“ mit dem Slogan Hängt die Grünen!; vgl. RP Online vom 16.09.2021).

    Beispiel: Besonders die neurechte Gruppe „Identitäre Bewegung“ ist dafür bekannt, guerillakommunikative Techniken einzusetzen, um ihre Positionen zu popularisieren. 2018 störte eine Regionalgruppe an der Universität Greifswald eine Vorlesung von Eric Wallis und inszenierte Sprechverbote bzw. im Nachhinein (auf sozialen Medien) einen gewaltsamen Rausschmiss, der aber durch Videoaufnahmen schnell widerlegt wurde. Die Aktion misslang, weil Wallis entgegen der von der IB erwarteten Empörung das argumentative Gespräch anbot und die Gruppe letztlich unverrichteter Dinge abzog.

    Ausführliche Schilderung (einschl. Videoszenen) des Lehrerenden Eric Wallis auf seinem Blog „Wortgucker“ (https://www.wortgucker.de/how-to-neue-rechte-auflaufen-lassen-2/, 25.11.2018)
     

    1. Diskurshistorische Desorientierung: Vor allem ein Verblassen der aktiven (insb. durch Zeitzeugen belebte) Erinnerungsarbeit mit der NS-Vergangenheit führt zu zunehmender Unklarheit über Sagbarkeitsgrenzen und die Modi der Vergangenheitsbearbeitung. Beispielhaft gehören hierzu die Inszenierung von Opferstatus und Wehrhaftigkeit durch Kritiker der Pandemie-Regierungspolitik durch Selbstvergleiche mit Opfern (Judenstern tragen, Verweise auf Anne Frank) oder verfolgten Widerstandskämpfer (z.B. Sophie Scholl; vgl. etwa https://twitter.com/MdBdesGrauens/status/1330227516632657923, 08.03.2022) des Nationalsozialismus. Auch die populärkulturelle, dramaturgisch mit Social Media vermittelte Darstellung von Widerstandskämpfern gehören wohl hierher (vgl. dazu kritisch die skandalisierende Sendung Böhmermanns vom 18.02.2022). Die Grenzen zwischen diskurshistorischer Verirrung und strategischer Praktik sind dabei zuweilen fließend.
    2. Schließlich haben alle Praktiken diskurssemantische Verschiebungen in jeweils angrenzenden Wortfeldern zur Folge: Erfährt der Ausdruck Spazieren eine politische Konnotation und macht sein Gebrauch je nach Kommunikationssituation verdächtig, werden alternative bedeutungsverwandte Ausdrücke gesucht und/oder in Mitleidenschaft gezogen (erfahren also ebenso eine Umdeutung).

      Beispiel: Kommentar zu einer Meldung über eine unangemeldete Demonstration („Spaziergang“) in nzz-online (https://www.nnz-online.de/news/news_lang.php?ArtNr=305043, 08.03.2022)

    1. Ein Indiz für diskurssemantische Desorientierung ist die auch quantitativ erkennbare Zunahme an direkten oder indirekten Sprach- und Perspektiv-Thematisierungen. Wenn die Kommunikanten sich über die Zeit hinweg häufiger von sprachlichen Ausdrücken distanzieren (z.B. durch Distanzmarker wie sogenannt), signalisieren sie damit, dass sie auf einen Ausdruck zurückgreifen (müssen), dessen assoziative Mitbedeutungen ihnen nicht behagt. Ähnliches gilt für Relativierungen durch Heckenausdrücke (z.B. meines Erachtens) oder Adverbien (sozusagen). Im größeren diachronen Vergleich fällt auf, dass diese Ausdrücke vor allem in Zeiten größerer gesellschaftlicher Debatten (großes Schweigen und beginnende Aufarbeitung nach dem dritten Reich) und/oder allgemeiner Verunsicherung (z.B. in den späten 1970er Jahren oder dann über die Pandemie-Zeit hinweg) häufiger gebraucht werden. Oder umgekehrt formuliert: Ein vergleichsweise seltener Gebrauch von Sprachthematisierungen und Geltungsanspruch relativierenden Formulierungen ist ein Indiz für eine relativ stabile gesellschaftliche Hegemonie mit etablierten, konsensuell-wirksamen Deutungsschablonen für die Wirkungszusammenhänge in der Welt.

    Die relative Gebrauchshäufigkeit des Ausdrucks sogenannt inkl. Flexionsformen und Komposita seit 2020 im COWID-Monitorkorpus (https://www.owid.de/plus/live-2021/; *sogenannt*)

    Die relative Gebrauchshäufigkeit des Ausdrucks sogenannt inkl. Flexionsformen seit 1946 im DWDS-Zeitungskorpus; (https://www.dwds.de/r/plot/?q; sogenannt*)

    Die relative Gebrauchshäufigkeit des Ausdrucks Diskurs seit 1946 im DWDS-Zeitungskorpus; (https://www.dwds.de/r/plot/?q=; Diskurs*)

    Die relative Gebrauchshäufigkeit der Bigramme meiner Meinung und meines Erachtens seit 1946 im DWDS-Zeitungskorpus; (https://www.dwds.de/r/plot/?q=; meiner Meinung, meines Erachtens)

    Die relative Gebrauchshäufigkeit der Ausdrücke sozusagen und quasi seit 1946 im DWDS-Zeitungskorpus; (https://www.dwds.de/r/plot/?q; sozusagen, quasi)

    (5)

    Die hier postulierte Entwicklung des öffentlichen Diskurses hat bereits vor Beginn der Pandemie eingesetzt. Unter den neuen gegebenen Krisenbedingungen – dem eskalierten Konflikt innerhalb Europas und dem russischen Angriff auf die Ukraine – hat sich die Entwicklung teilweise verschärft, weil die Informationslage nunmehr allgemein prekär ist (Folgen von Propaganda, leichtfertiger Übernahme ungeprüfter Nachrichten, mangelnde Recherchemöglichkeiten usw.). Andererseits hat die neue Lage zumindest im deutschsprachigen Raum zu einer einenden Freund-Feind-Orientierung beigetragen. Kaum eine Stimme wagt derzeit offen für Putin und/oder den kriegerischen Angriff Partei zu ergreifen, im Gegenteil: selbst konfligierende Gruppen innerhalb der Eigengruppe (zum Beispiel Deutschland/Frankreich vs. Polen, Ukraine, GB mit Blick auf Pressefreiheit, Gewaltenteilung, Brexit u.a.) versammeln sich unter der strategischen Konsensfiktion der „westlichen Werte“. Ob die Einnordung des diskursmoralischen Kompasses anhand des gemeinsamen Feindes die bisherige, hier postulierte diskurssemantische Desorientierung verdrängt oder nur zeitweise überdeckt, bleibt abzuwarten. Die allgemeine, vor allem durch die Pluralisierung der Medienlandschaft (Etablierung von Social Media, alternative Medienangebote usw.) beförderte Tendenz zur Fragmentierung öffentlicher Diskurse könnte für letzteres sprechen.

     

    Fußnoten

    [1] Auf diesen Punkt hat Stephan Packard (Köln) aufmerksam gemacht.

    Literatur

    Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus (2020): „Rudi Dutschke wäre heute einer von uns!“: Der Dritte Weg provoziert mit Plakataktion. Online zugänglich: https://www.bige.bayern.de/infos_zu_extremismus/aktuelle_meldungen/rudi-dutschke-ware-heute-einer-von-uns-der-dritte-weg-provoziert-mit-plakataktion/ (30.03.2022).

    Kubitschek, Götz (2017): Selbstverharmlosung. In: Sezession 76. Online zugänglich: https://sezession.de/wp-content/uploads/2018/10/Sez76-Selbstverharmlosung.pdf (30.03.2022).

    Lamm, Annika (2021): „Zwickau: Aktion gegen ‚III. Weg‘, Grüne hängen Wahlplakate auf“. RP ONLINE, 16. September 2021. Online zugänglich: https://rp-online.de/politik/deutschland/zwickau-aktion-gegen-iii-weg-gruene-haengen-wahlplakate-auf_aid-62788903 (14.04.2022).

    Noelle-Neumann, Elisabeth ([1980] 2001): Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. 6. Aufl. München: Langen Müller.

    „OWIDplusLIVE“. OWID. Online zugänglich: https://www.owid.de/plus/live-2021 (14.04. 2022).

    Wallis, Eric (2018): „Identitäre stürmen meine Vorlesung und laufen auf“. Wortgucker, 25. Novermber 2018. Online zugänglich: https://www.wortgucker.de/how-to-neue-rechte-auflaufen-lassen-2 (14.04.2022).

    Zitiervorschlag

    Vogel, Friedemann; Deus, Fabian (2022): Die Unordnung des Diskurses? Thesen zur semantischen Desorientierung in der gegenwärtigen medio-politischen Öffentlichkeit. In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/arbeitspapiere-fv-fd-1/.