DiskursReview | Beitragsreihe zur Corona-Krise

DiskursReview

PR, Punk oder Provinz:
Wie Corona-Forschung die Öffentlichkeit (nicht) erregt.

Autor: Hagen Schölzel
Version:
1.0 / 23.07.2020

Jeden Tag erreichen uns neue Nachrichten, neue Zahlen, neue Grafiken zur laufenden Corona-Pandemie. Wer erinnert sich da noch daran, was vor zwei oder drei Monaten oder vor einer Woche öffentlich diskutiert wurde? Vielleicht sind nur zwei Debatten wirklich in unserem öffentlichen Gedächtnis hängen geblieben, unter anderem, weil sie es zu eigenen Twitter-Hashtags gebracht haben: #HeinsbergProtokoll und #IchHabeBesseresZuTun. Beide wurden zuletzt mehr oder weniger direkt wieder in Erinnerung gerufen, nämlich einerseits durch die öffentlichkeitswirksame Präsentation von Zwischenergebnissen einer Coronastudie der TU Dresden zum Infektionsgeschehen an Schulen in Sachsen und andererseits durch die Veröffentlichung eines Christian-Drosten-Fan-Songs der Berliner Punk-Band ZSK mit eben dem Titel „Ich habe besseres zu tun“ [1]. Interessant sind diese Fälle aber vor allem auch deshalb, weil sie mit einem gewissen Erregungspotenzial das Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit greifbar werden lassen, und dabei Dysfunktionalitäten sichtbar werden. Um #Heinsbergprotokoll und #IchHabeBesseresZuTun entwickelten sich jedenfalls intensive Debatten, die jedoch seltsamerweise um die jüngste Sachsen-Studie ausblieben. Wie konnte das geschehen?

#HeinsbergProtokoll ist der Slogan einer PR-Kampagne der Agentur „Storymachine“, die u.a. vom ehemaligen Bild-Chef Kai Diekmann mit gegründet wurde [2]. Vordergründig ging es bei der Kampagne um eine öffentlichkeitswirksame Begleitung einer virologischen Studie, die eine Gruppe um Hendrik Streeck von der Uni Bonn in der Gemeinde Gangelt im besonders von Covid-19 betroffenen Landkreis Heinsberg durchführte. Sollte die Öffentlichkeit also über wissenschaftliche Arbeit aufgeklärt werden, wie es in der Selbstdarstellung des Kampagnen-Twitter-Accounts „@hbergprotokoll“ heißt? Vielleicht nicht oder jedenfalls nicht nur, denn vor allem konzentrierte sich die Kampagne auf die Vor- und Nachbereitung einer Pressekonferenz, die die nordrhein-westfälische Landesregierung mit und für Hendrik Streeck am 9. April 2020 veranstaltete, also Wochen bevor die wissenschaftliche Untersuchung zu einem Abschluss gekommen war. Offenkundig diente diese Pressekonferenz und die Präsentation von Zwischenergebnissen der Untersuchung mit viel Getöse vor allem dazu, eine Politik der weitgehenden Wiedereröffnung des gesellschaftlichen Lebens zu legitimieren. War die Wissenschaftskommunikation mit Hilfe der Agentur also nichts als ein Versuch der strategischen PR zur Unterstützung einer politischen Agenda, für die Armin Laschet sowieso trommelte? Streecks wissenschaftliche Arbeit rückte jedenfalls eher in ein bedenkliches Zwielicht, so dass in der Folge gesondert darauf hingewiesen werden musste, dass es sich um eine solide wissenschaftliche Untersuchung handelte. Sichtbar wurde aber auch, dass sich Wissenschaft nicht auf neutrale Sachaussagen beschränkt, sondern Evidenzen und Argumente erzeugt, die bestimmte gesellschaftliche oder politische Haltungen unterstützen – in diesem Fall, dass eine Wiedereröffnung des gesellschaftlichen Lebens vertretbar sei. Die gesamte, nicht-wissenschaftliche Inszenierung zog viel Kritik auf sich [3] und die PR-Aktion von „Storymachine“ wurde vom Deutschen Rat für Public Relations gerügt als eine „Rufschädigung des Berufsstands durch unprofessionelles Verhalten“ [4].

Auch #IchHabeBesseresZuTun steht in Zusammenhang mit wissenschaftlicher Arbeit, deren Seriosität und Stichhaltigkeit plötzlich öffentlich angezweifelt wurde und die in die Mühlen einer politischen Konfrontation geriet. Ende Mai hatte die Bild-Zeitung den Berliner Virologen Christian Drosten zu einer Stellungnahme zu einigen kritischen Anmerkungen anderer Forscher*innen aufgefordert, die das statistische Vorgehen seiner Untersuchung zur Viruslast bei Kindern hinterfragt hatten. Die Bild machte aus dieser wissenschaftlichen Kontroverse um methodische Details eine Kampagne gegen den Forscher und seine Studie, die bspw. die FAZ als „versuchte Vernichtung“ beurteilte [5].Drostens Reaktion auf Twitter, in der er die Anfrage der Bild öffentlich machte und mit den Worten „Ich habe besseres zu tun“ zurückwies, wurde im Netz ein viraler Hit, der viel Unterstützung für den Forscher mobilisierte – bis hin zu dem Fan-Song von ZSK Berlin. Über diesen Fun-Fact hinaus kann man anhand dieser Auseinandersetzung aber auch hier eine Dysfunktionalität von Öffentlichkeit erkennen. Was die Bild versuchte, war das künstliche Aufbauschen einer wissenschaftlichen Kontroverse, die sich um Details drehte, aber an der Sache im Kern wenig oder nichts änderte, um die wissenschaftliche Sachaussage und ihren Sprecher zu delegitimieren. Wir kennen dieses Muster aus der Klimakrise, in der seit Jahrzehnten mit einer künstlich erzeugten Kontroverse Zweifel an den Sachaussagen der Klimaforschung und an den Wissenschaftler*innen, die sie artikulieren, geweckt werden. Aus dieser Erfahrung wissen wir auch, dass der Zweck dieses Streuens von Zweifeln und der Angriffe auf Wissenschaftler*innen darin besteht, die öffentliche Meinung in Richtungen zu lenken, die das politische Bearbeiten bestimmter Sachprobleme verhindern oder wenigstens erschweren. Im Fall von #IchHabeBesseresZuTun ging es dabei um die Frage, inwieweit und unter welchen Umständen der Betrieb von Kindergärten und Schulen wieder normalisiert werden kann. Drostens Studie legte dafür eher ein vorsichtiges und überlegtes Vorgehen nahe, weshalb sie womöglich manchen, die für eine schnelle und umfassende Öffnung waren, ein Dorn im Auge war.

Um die Frage, inwieweit Schulen nach den Einschränkungen der letzten Monate wieder in einen Normalbetrieb übergehen können, dreht sich auch der dritte Fall. Der Kinder- und Jugendmediziner Reinhard Berner von der TU Dresden untersucht im Auftrag der sächsischen Staatsregierung das Infektionsgeschehen an Schulen seit der Wiederaufnahme eines eingeschränkten Unterrichtsbetriebs in Sachsen. Die Präsentation von Zwischenergebnissen der Studie (am 13. Juli), in der ein sehr geringes Infektionsgeschehen nachgezeichnet wurde, diente dem Sächsischen Bildungsministerium als Anlass, für Schulen in Sachsen einen fast vollständigen Normalbetrieb nach den Sommerferien anzukündigen. Da es sich um eine Auftragsstudie des Ministeriums handelt, ist eine solche Indienstnahme nicht verwunderlich. Doch stellt sich hier wie schon im Falle von #HeinsbergProtokoll die Frage, ob die Präsentation nicht in erster Linie einer politischen Agenda folgte, mindestens was ihren Zeitpunkt wenige Tage vor Beginn der Sommerferien in Sachsen angeht, aber auch in Hinblick auf ihre inhaltliche Aussage. Denn eine wissenschaftliche Studie im Sinne eines (vor-)publizierten Artikels, der es ermöglichen würde, die Untersuchung zu überprüfen, gibt es bisher nicht. In einer Pressemitteilung der TU werden lediglich einige Aspekte des Forschungsprozesses sowie die bisher ermittelten Ergebnisse dargelegt, der genaue Gang der Untersuchung lässt sich aber nicht nachvollziehen [6].Bemerkenswerter Weise erlangte die Präsentation aus Dresden nicht aufgrund dieser Unzulänglichkeit große Aufmerksamkeit, anders als im Fall von #HeinsbergProtokoll, wo ein solches Vorgehen noch starke öffentliche Kritik auf sich gezogen hatte. Nun schaffte es vor allem eine Aussage Reinhard Berners in die Schlagzeilen der überregionalen Berichterstattung, z.B. der FAZ und SZ, nämlich die Interpretation der Studienergebnisse, dass Kinder„eher als Bremsklötze der Infektion“ wirkten [7].

Niemand scheint diese Interpretation zu bezweifeln, obwohl eine einfache Bruchrechnung anhand der Infektionszahlen aus der Pressemitteilung der TU im Vergleich mit den durch das Robert-Koch-Institut dokumentierten Infektionen in Sachsen zeigt, dass in den untersuchten Schulen tatsächlich mehr als viermal so viele Infektionsfälle (nämlich rund 0,58 Prozent der Getesteten) als in ganz Sachsen (rund 0,13 Prozent der Bevölkerung) nachgewiesen wurden [8]. Und niemand scheint die politische Schlussfolgerung zu hinterfragen, dass in den Schulen künftig alle Vorsichtsmaßnahmen fallen sollen, obwohl sie doch in auffälligem Kontrast zu einer Verlängerung der allgemeinen Maskenpflicht in Sachsen steht, die nur einen Tag später beschlossen wurde. Vielleicht wird hier eine spezifische Dysfunktionalität der sächsischen (oder ostdeutschen) Öffentlichkeit sichtbar, in der eine kritische Medienberichterstattung weitgehend fehlt. Anscheinend kann man vor Ort ganz gut mit einer eher obrigkeitlichen und technokratischen Regierung leben, die anhand einer wissenschaftlichen Expertise den Eindruck einer gut begründeten Entscheidung erwecken kann. Und die überregionale Presse? Auch sie schaut vielleicht nicht so genau hin, wenn ihre Korrespondenten Geschichten aus der fernen Provinz erzählen. Vielleicht erscheint Sachsen aber auch einfach als so wenig virulent, dass eine echte Kontroverse um die Studie und ihre politischen Schlussfolgerungen gar nicht lohnenswert wirkt. Wenn überhaupt, werden wir uns erst in zwei oder drei Monaten an sie erinnern.

Fußnoten

[1] ZSK, „Ich habe besseres zu tun“, in: https://www.youtube.com/watch?v=5OZdKwFSWZw&feature=youtu.be (Zugriff: 10.07.2020).

[2] Vgl. bspw. den gleichnamigen Twitter-Account unter https://twitter.com/hbergprotokoll (Zugriff: 20.07.2020).

[3] Eine zusammenfassende Diskussion findet sich etwa im Online-Portal wissenschaftskommunikation.de: https://www.wissenschaftskommunikation.de/open-science-aber-richtig-was-wir-aus-der-heinsberg-studie-lernen-koennen-40539/ (Zugriff: 17. Juli 2020).

[4] DRPR, „DRPR-Verfahren 01-2020, Fall: Heinsberg-Protokolle“, in: https://drpr-online.de/wp-content/uploads/2020/06/2020-06-04_Beschluss_01-20_Heinsberg-Protokoll.pdf (Zugriff: 20.07.2020).

[5] Michael Hanfeld, „Die versuchte Vernichtung“, in: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/bild-gegen-den-virologen-drosten-versuch-einer-vernichtung-16787133.html (Zugriff: 20.07.2020). Vgl. dazu auch den DiskursReview-Beitrag von Friedemann Vogel: (https://diskursmonitor.de/review/corona-fv-1/)

[6] TU Dresden, „Immunisierungsgrad geringer als erwartet – Schulen haben sich nicht zu Hotspots          entwickelt“, in: https://tu-dresden.de/med/mf/die-fakultaet/newsuebersicht/immunisierungsgrad-geringer-als-erwartet-schulen-haben-sich-nicht-zu-hotspots-entwickelt (Zugriff: 13.07.2020).

[7] Stefan Locke, „Kinder wirken eher als Bremsklötze der Infektion“, in: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-studie-an-schulen-kinder-eher-bremskloetze-der-infektion-16858827.html?GEPC=s3 (Zugriff: 13.07.2020). Christina Berndt, „Kinder bremsen laut Studie das Virus aus“, in: https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/schulen-kinder-sachsen-corona-normalbetrieb-1.4965841?reduced=true (Zugriff: 13.07.2020).

[8] Laut TU Dresden waren das 12 diagnostizierte Fälle in 2.045 Proben. Laut RKI gab es in Sachsen bisher rund 5.500 Fälle auf rund 4,07 Millionen Einwohner. Die prozentualen Infektionszahlen bleiben ähnlich, wenn man sie für den Landkreise Bautzen und Görlitz sowie die Stadt Dresden berechnet, in denen die untersuchten Schulen liegen. Vgl. https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4 (Zugriff 20.07.2020).

Zitiervorschlag

Schölzel, Hagen (2020): PR, Punk oder Provinz:Wie Corona-Forschung die Öffentlichkeit (nicht) erregt. In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/corona-hs-2/​.