DiskursReview

Die Macht der Worte (4/4):
So geht kultivierter Streit

Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk

(1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe
(3)
Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter Streit

Ein Text von
von Friedemann Vogel
Version: 1.0 / 06.03.2025

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Unsere Welt ist geprägt von beschränkten Ressourcen. Der Verteilungskampf um diese Ressourcen findet nicht nur mit Gewalt, sondern in Demokratien vor allem auch durch kommunikative Zeichen statt. Wörter und Bilder werden dabei zu mächtigen Werkzeugen, ja, manche werden zu „Waffen“. Doch was wissen wir tatsächlich über die vielbeschworene Macht der Sprache“, über „Propaganda“ und Manipulationstechniken in Alltag und Beruf? Was davon ist Mythos, was beobachtbare Praxis? Und wie können wir uns rüsten gegen kommunikative Einflussnahme? – Fragen wie diese sind Gegenstand eines vierteiligen Podcasts im Deutschlandfunk in der Reihe „Systemfragen“ mit Kathrin Kühn, Paulus Müller (beide DLF) und Friedemann Vogel (Universität Siegen / Diskursmonitor). Der Podcast steht seit dem 06.03.2025 in der DLF-Mediathek.

Das folgende Manuskript begleitet Folge 4 des Podcasts „Die Macht der Worte“: So geht kultivierter Streit.

Mit Sprache kann man kämpfen für etwas oder gegen jemanden. Man kann einen Kommunikationspartner mit einfachen Wörtern schwer verletzen oder ihn vor anderen bloßstellen. Das funktioniert am lokalen Stammtisch genauso wie auf großen Internetplattformen. Mit Sprache kann man aber auch Mitgefühl für andere zeigen, sich solidarisch zeigen und den Kommunikationspartner vor anderen aufwerten und würdigen. Es kommt auf den Gebrauch und auf uns als Kommunikationspartner an, was wir mit Sprache anrichten oder schaffen.

In einer Welt mit 8 Milliarden Menschen begegnen sich unweigerlich 8 Milliarden verschiedene Ängste, Bedürfnisse und Interessen. Dass diese Menschheit an ihrer Verschiedenheit nicht längst zugrunde gegangen ist, liegt an ihrer Fähigkeit zu Perspektivenübernahme und Kooperation. Genau das macht auch die ganz alltägliche Kommunikation aus: sie funktioniert, wir können uns verständigen, weil wir – wie der Sprachphilosoph Herbert Grice gezeigt hat – von uns wechselseitig annehmen, den jeweils anderen verstehen und mit ihm kooperieren zu wollen. Auf diese Weise sind wir auch fähig, Interessensunterschiede kommunikativ zu bearbeiten.

Es gibt aber Ausnahmen, mit der wir alle im Alltag vertraut sind: Streit – also die verbale Austragung von Interessenskonflikten – ist typischerweise dadurch geprägt, dass die Streitenden die Kooperation vorübergehend aufkündigen. Das zeigt sich an vielen Stellen: die Beteiligten reden mehr und mehr aneinander vorbei, sie knüpfen an das Vorhergesagte des Kommunikationspartners nicht mehr richtig an. Dann wird es oft lauter, impulsiver, schneller, emotionaler. Die Rede wird manchmal ironischer oder sarkastischer, man reiht (Gegen)Vorwurf an (Gegen)Vorwurf. Mit zunehmender Eskalation reden die Beteiligten irgendwann nicht mehr mit-, sondern eher übereinander, es kommt zu verletzenden, abwertenden, beleidigenden Äußerungen, man wirft sich gegenseitig die Unfähigkeit zur Konfliktlösung und Kompromissfindung vor. Am Ende einer Streiteskalation steht der komplette Kommunikationsabbruch – man verlässt die fokussierte Interaktion – und im schlimmsten Fall droht der Übergang von der verbalen zur nonverbalen, also physisch-gewaltsamen Konfliktaustragung. Oft gelingt es Streitenden aber auch, die Kommunikation vor dem Abbruch zu renormalisieren, setzt wieder mit kooperativen Zügen ein: nimmt Argumente des Streitpartners auf, kontert Vorwürfe nicht einfach mit Gegenvorwürfen, sondern gibt ein Stückchen bei, signalisiert Verständnis, Mitgefühl, Entgegenkommen. Man geht auch physisch aufeinander zu, reduziert räumliche Distanz, wendet sich einander zu, bemüht sich um Blickkontakt. Man nimmt verletzende Äußerungen zurück und relativiert Angriffe, man bemüht sich irgendwann, das verletzte Gesicht des anderen durch Entschuldigungen oder andere ehrerbietenden Kommunikationszüge wiederherzustellen. Manchmal bedarf es zur Renormalisierung und Befriedung von Streitigkeiten einer Pause, eines Situationswechsels, manchmal bedarf es auch externer Unterstützung durch eine Moderation: durch Streitschlichter in der Klasse, Paartherapeuten, Vertrauensleute und Mediatoren im Unternehmen oder auch Moderatoren in der außergerichtlichen Schiedsstelle.

Aus der Beobachtung von Konflikten und Formen der Konfliktaustragung im Alltag, in politischen Institutionen oder auch im Gerichtssaal können wir viel darüber lernen, wie man kultivierter streiten könnte. Das beginnt bei der Frage, ob es wirklich jeder Konflikt wert ist, überhaupt ausgetragen zu werden. Mancher Streit um Lappalien mit Freunden, Nachbarn oder Familienangehörigen wird oft nur deshalb verbittert ausgetragen, weil er stellvertretend für tiefersitzende (latente) Konflikte oder für vergangene und nicht geheilte Verletzungen an ganz anderer Stelle steht. Solche Streitigkeiten sind nicht überflüssig, aber sie gehen an der eigentlichen Konfliktlösung vorbei. Manche Konflikte lassen sich eben nicht oder nicht sofort lösen, dann kann es sinnvoll sein, erst einmal „Gras über die Sache wachsen“ zu lassen. Mancher „Fall“ von Dissens stellt sich dann mit zeitlichem Abstand als weniger tragisch heraus als im Falle der unmittelbaren Konfrontation. Manchmal muss man den Dissens aushalten, dann gibt es keinen Kompromiss, aber im Idealfall ein Verstehen und ein gewisses Maß an Toleranz für die abweichende Haltung des anderen.

Im politisch-öffentlichen Raum ist es grundsätzlich keine gute Idee, essenzielle Meinungs- und Interessensunterschiede zwischen konkurrierenden sozialen Gruppen unter den Teppich zu kehren oder durch Konsensfiktionen zu tabuisieren. Das gilt ganz besonders für Konflikte, die grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens berühren, wie die Mitbestimmung über die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen. Deutlich wurde das zum Beispiel in der Corona-Pandemie, als staatliche Nothilfe-Gelder in Millionenhöhe an Großunternehmen (wie die Lufthansa) ausgeschüttet wurden, kleinere Betriebe oder bildende Künste dagegen mehrheitlich leer ausgingen und medizinisches Personal (Pflegekräfte) sich mit öffentlich wirksam inszenierten Symbolgesten (Standing Ovations) abfinden sollte. Dieser Widerspruch hallt bis heute (in Social Media spürbar) nach.

Eine demokratische Praxis setzt Bürgerinnen und Bürger voraus, die zu demokratischer Rede, zu kultiviertem Streit fähig sind. Sie setzt aber auch gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen voraus, damit sich sowohl eine ‚demokratische Streitkompetenz‘ entwickeln als auch demokratische Rede in einer konkreten Situation realisieren kann.

Zu diesen Rahmenbedingungen gehören zu allererst Bildungseinrichtungen, die alle Gesellschaftsmitglieder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft dazu befähigen, komplexe Informationen zu verarbeiten, das heißt auch schwierige Texte zu lesen, eine eigene Position zu entwickeln und argumentativ zu vertreten, und die eigenen Bedürfnisse adressatengerecht formulieren zu können. Mit seinem extrem herkunftsabhängigen, mehrgliedrigen und unterfinanziertem Bildungssystem ist Deutschland weit davon entfernt. Das gilt auch für eine zweite Bedingung: Trockenübungen der demokratischen Rede reichen nicht aus. Demokratie und kultivierter Streit müssen erprobt und geübt werden – und zwar von Kindesbeinen an, in allen Institutionen, und nicht nur durch das Ausfüllen eines Wahlzettels alle paar Jahre. Das setzt Verfahren der Mitbestimmung im Alltag voraus, Möglichkeiten, eigene Bedürfnisse vorbringen zu können, und zwar so, dass sie auch Gehör finden und nicht nur veraktet werden (wie das mittlerweile oft in sog. „Partizipationsverfahren“ der Fall ist). „Gehör finden“ heißt dabei nicht, dass alle Wünsche und Forderungen erfüllt werden könnten. Gehör finden heißt, dass es eine realistische Chance gibt, an einer politischen Debatte und Entscheidungsfindung mitzuwirken. Die „große Politik“ scheint sich damit weiterhin schwer zu tun, mehr Formen direkter Demokratie zu etablieren und damit ein Stück ihrer Entscheidungsmacht abzugeben. Die Hoffnungen vieler (gegen Politikerverdruss) liegen daher auf der kommunalpolitischen Ebene, wo auch komplexe Sachverhalte noch überschaubarer und kommunikative Wege kürzer sind. Allerdings: wenn zentrale Fragen der Ressourcenverteilung außerhalb der Kommune entschieden werden, bleibt vielfach nur Ernüchterung und Verzweiflung (ein Grund dafür, dass viele ehrenamtliche Bürgermeister*innen vorzeitig aufgeben).

Was eine gelungene demokratische Rede praktisch ausmacht, können wir im Grunde auch aus dem kommunikativen Alltag ableiten: es geht um einen kommunikativen Modus, bei dem die Beteiligten sich gegenseitig als legitime Gesprächs- und Verhandlungspartner akzeptieren und dafür Sorge tragen, dass unterschiedliche Lebensperspektiven, Bedürfnisse und Argumente vorgebracht werden können. Das funktioniert nur, wenn die eigene Rede so gestaltet ist, dass sie die Möglichkeit zu Widerspruch eröffnet und nicht verschließt. Ekkehard Felder nennt das „Dialogisieren“: anstatt einseitiger Definitionen – wer darf was wann wie sagen oder fordern –, sollten wir uns darum bemühen, den kooperativen Dialog am Laufen zu halten. Das setzt natürlich nicht nur den Verzicht von gesichtsbedrohlichen Äußerungen, von Beleidigungen und Drohungen, abwertenden Zuschreibungen oder Vergleichen voraus. Es setzt auch die Bereitschaft voraus, sich in die Perspektive des anderen hineinzudenken („Ich sehe Ihren Punkt“), Informationen und Argumente des Gegenübers abzuwägen: vielleicht ist doch etwas daran? Demokratische Rede als Dialogisieren bedeutet, die Möglichkeit des eigenen Irrtums mitzudenken und umgekehrt dem Gegenüber einzuräumen, seine Meinung gesichtswahrend korrigieren zu können. Dafür braucht es oft Zeit zum Nachdenken, eine Ressource die in politischen Aushandlungen manchmal knapp ist, die oft aber auch strategisch oder völlig unnötig, im falschen Moment und von den falschen Leuten verknappt wird.

Natürlich darf es in politischer Debatte auch einmal emotionaler zugehen – schließlich geht um etwas. Aber der Grundkonsens muss dabei immer sein und bleiben, den Ball im Spielfeld halten zu wollen und zu verhindern, dass einzelne die Regeln verändern oder das Spielfeld verlassen. Darum sind auch homogenisierende Sprachregelungen (Sprachtabus) oft schwierig und bedürfen ihrerseits (vorab) der kooperativen Aushandlung. Und im Idealfall, wenn sich die Beteiligten hinreichend vertrauen, ist es sogar möglich, die „andere Seite“ nicht nur auszuhalten und zu tolerieren, sondern individuelle Partikularinteressen zurückzustellen zugunsten einer gemeinsamen konsensuellen Perspektive.

Fazit: Demokratische Rede und kultivierter Streit fallen nicht vom Himmel, sie müssen erlernt und geübt werden – das geht nicht abstrakt, sondern nur konkret durch Teilhabe an der Entscheidungsfindung zu allen essenziellen Fragen des sozialen Miteinanders. Dafür Sorge tragen muss nicht nur der Einzelne, sondern auch die Solidargemeinschaft ist verpflichtet, geeignete Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Demokratie im Alltag möglich wird. Forderungen nach Diskursausschluss dagegen müssen die absolute Ausnahme bleiben; pauschalisierende und negative Fremdzuschreibungen, Alternativlosrhetorik oder Konsensfiktionen lösen Konflikte nicht, sondern verschieben und eskalieren sie nur.

Zitiervorschlag

Vogel, Friedemann (2025): Die Macht der Worte (4/4). So geht kultivierter Streit. Manuskript zum Podcast im Deutschlandfunk. In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/die-macht-der-worte-4von4-so-geht-kultivierter-streit (06.03.2025)