DiskursGlossar

Perspektive

Kategorie: Grundbegriffe
Verwandte Ausdrücke: Perspektivierung, Subjektivität, Weltsicht, Perspektivismus (Erkenntnistheorie)
Siehe auch: Framing, Materialität, semantischer Kampf
Autorin: Joline Schmallenbach
Version: 1.1 / Datum: 01.12.2022

Kurzzusammenfassung

Der Begriff Perspektivität beschreibt die Annahme, dass Menschen die Welt nur partiell und aus einer bestimmten Perspektive heraus wahrnehmen und Informationen selektiv filtern, erinnern und kommunizieren. Das schließt mit ein, dass verschiedene subjektive Weltsichten (Perspektiven) nebeneinander existieren.

Perspektive gilt in verschiedenen Domänen (z.B. Kunst, Fotografie, Optik, Literatur, Psychologie u.a.) als Grundbegriff. In Philosophie, Kognitions- und Sprachwissenschaften beschreibt der Begriff Perspektive zumeist Konstellationen, in denen ein Individuum die Welt sensorisch oder kognitiv wahrnimmt. Für die visuelle Wahrnehmung bedeutet das, dass eine Person ein bestimmtes Objekt in der Welt immer aus einem bestimmten Blickwinkel wahrnimmt und dabei prinzipiell immer nur eine Teilansicht – und Teilerkenntnis – des Objektes erlangen kann. Dieses optisch-visuelle Verständnis von Perspektive kann folgendermaßen dargestellt werden (A hat durch den unterschiedlichen Blickwinkel bedingt eine andere Ansicht des Würfels als B):

Schema Perspektive
Abb. 1: Schema Perspektive (eigene Darstellung nach Köller 2004)

Nicht nur die visuelle, sondern auch jede andere Form der kognitiven Wahrnehmung ist selektiv. Welche Aspekte eines wahrgenommenen oder vorgestellten Gegenstandes für jemanden besonders auffällig erscheinen, wird beeinflusst durch a) zeitlich-räumliche Eigenschaften der Wahrnehmungssituation, b) kulturelle Denk- und Deutungsgewohnheiten sowie kulturell bedingte (Sprach-)Zeichen und c) individuell-biographische Erfahrungen und Prägungen der wahrnehmenden Person (vgl. Köller 2004: 201).

Durch die Möglichkeit der intentionalen Perspektivierung von Gegenständen und Sachverhalten durch Sprache wird der Begriff Perspektive zu einem relevanten Grundbegriff im Kontext der strategischen Kommunikation. In Kommunikationszusammenhängen wird ein Gegenstand oder Sachverhalt üblicherweise nicht unmittelbar sensorisch wahrgenommen, sondern wird einem Adressaten durch die sprachliche Beschreibung eines Sprachproduzenten (dazu gehören insbesondere auch die Massenmedien) vermittelt bzw. perspektiviert. Anders ausgedrückt: Dieselbe Sache kann aus mehr als einer Perspektive betrachtet, beurteilt und bewertet, aber auch benannt und kommunikativ dargestellt werden (Graumann & Kallmeyer 2002: 1). Perspektivierung bezeichnet das mehr oder weniger strategische Bemühen von Kommunikanten, durch die Wahl sprachlicher Mittel eine bestimmte kognitive Wahrnehmung bei den adressierten Personen nahezulegen.

Erweiterte Begriffsklärung

Je nach Fachrichtung und Sachgebiet wird Perspektive anders definiert. Mit Bezug auf Sprache in sozialen Kontexten scheinen zwei Lesarten relevant: Perspektive als ‚individuelle Weltsicht‘ – hier spielen Konzepte wie Standpunkt, Bewertung und Ideologie eine Rolle – und Perspektive als sprachliche Kategorie: Mit welchen sprachlichen Mitteln können eigene und fremde Perspektiven kommunikativ vermittelt werden?

Perspektive als individuelle Weltsicht

Das Konzept der Perspektivität ist eng verwoben mit der Frage, wie individuelles und kollektives Wissen entsteht und konstruiert wird. Perspektivistische Erkenntnistheorien teilen folgende Grundannahmen: a) Dinge und Sachverhalte zu erfassen und zu verstehen wird durch die Eigenperspektive beeinflusst und b) Perspektiven sind immer relational, das heißt, ohne ein erkennendes Subjekt und ein Erkenntnisobjekt gibt es keine Perspektive (von Sass 2019: 17). Für das soziale Zusammenleben und die Verhandlung von Weltsichten in öffentlichen und politischen Diskursen ergeben sich daraus folgende Konsequenzen:

  • Multiperspektivität als Imperativ einer aufgeklärten Gesellschaft: Wenn man annimmt, dass die Lebenswelt nicht als Ganzes erfassbar ist, bedeutet die Gebundenheit an die eigene subjektive Perspektive vor allem die Erfahrung der eigenen kognitiven Beschränktheit (die zum Beispiel einen metaphorischen Ausdruck findet in Formulierungen wie Scheuklappen aufhaben, einseitig / eindimensional denken, verblendet sein, einen Tunnelblick haben). Kulturell positiv bewertet wird in der Regel der Versuch, verschiedene Perspektiven anzunehmen, möglichst plurale Weltsichten in das eigene Weltbild zu integrieren und im Rahmen des Möglichen ein immer differenzierteres Verständnis verschiedener Aspekte von Erkenntnisgegenständen und Sachverhalten zu erlangen (ohne dass es jedoch dabei die eine richtige Sichtweise gäbe). In einigen Domänen, wie in der Wissenschaft oder im Journalismus, gilt Multiperspektivität traditionell als gute Berufspraxis (von Sass 2019: 21 f.) und wird assoziiert mit produktiver Streitkultur, geistiger Beweglichkeit etc. Die allgemeine Forderung nach Multiperspektivität wird auch deutlich, wenn in bestimmten Bereichen eine fehlende Debattenkultur moniert wird: z.B. Echokammern bzw. Filterblasen durch Social-Media- und Newsfeed-Algorithmen, Konformitätsdruck in der Wissenschaft, Aufstieg populistischer und kollektivistischer Ideologien (Thomä 2019: 286).
  • Perspektivität als Voraussetzung für Deutungskämpfe: Mit unterschiedlichen Perspektiven gehen unterschiedliche Wissensbestände und Handlungsoptionen einher. In der politischen Verhandlung von gesellschaftlichen Verhältnissen geht es grundsätzlich darum, Mehrheiten für eigene Perspektiven zu gewinnen oder eigene perspektivische Deutungen gegen die der anderen durchzusetzen (‚Streit der Perspektiven‘) – und in der Konsequenz auch die präferierte Handlungsoption. Dieses Ziel kann es für einzelne Diskursakteure strategisch sinnvoll machen, Fremdperspektiven auszublenden und Sachverhalte bewusst einseitig darzustellen, zu argumentieren und sich zu positionieren. Dies geschieht durch sprachliche Perspektivierung, z.B. in Form semantischer Kämpfe (Felder 2006, Beispiele dafür s.u.).
  • Perspektiven und Machtverhältnisse: Nicht alle Akteure im Diskurs können für ihre Perspektiven gleiche Legitimation, gleiche Erfolgschancen auf Durchsetzung oder gleich große Öffentlichkeiten erreichen. Insofern herrschen nicht nur unter den verschiedenen Diskursakteuren asymmetrische Machtverhältnisse, sondern diese beeinflussen auch die von ihnen vertretenen Deutungen und Forderungen. Besonders intransparent wird es dort, wo die vorherrschende Perspektive so selbstverständlich geworden ist, dass sie nicht mehr als subjektive Deutung von Welt wahrgenommen wird:

    „Durch die Abweichung wird überhaupt erst denkmöglich, dass der herrschende Diskurs nicht selbstverständlich ist, dass also an ihm das Perspektivische entlarvt wird, das ihm innewohnt. Man kann etwas so sehen – oder auch anders. Diese andere Sicht steht aber unter Druck – unter dem Druck der Verfolgung als Ausnahme- und Außenseiterposition und unter dem Druck der Rechtfertigung, mit der sie sich in dieser Position behaupten und den Status Quo unter Druck setzen will“ (Thomä 2019: 286 f.).

    Auch antirassistische und feministische Positionen können prinzipiell als Kritik an hegemonialen, d.h. einflussreichen, traditionell nicht hinterfragten Perspektiven (im Sinne von: Denkmustern und Deutungsgewohnheiten) beschrieben werden. Positionen mit „Perspektivenmonopol“ können es leichter haben, auf strategische Weise die eigene Perspektivenhaftigkeit zu verbergen (von Sass 2019: 31). Die Strategie, andere Perspektiven (sprachlich) auszuschließen, setzt sich vor dem Hintergrund der Erwünschtheit pluraler Debattenkultur jedoch leicht der Kritik aus. So wurde das häufig zu diesem Zweck gebrauchte Wort alternativlos 2010 von der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum Unwort des Jahres gekürt, da es suggeriere, „dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe. Behauptungen dieser Art sind 2010 zu oft aufgestellt worden, sie drohen, die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken“ (Gesellschaft für deutsche Sprache o.J.).

Sprache und Perspektivität

Die Übernahme der Perspektive von anderen Menschen ist eine Voraussetzung für Kommunikation. Der Prozess, sich in das Denken anderer hineinzuversetzen (im Sinne von G.H. Meads ‚taking the role of the other‘) und deren Reaktionen einzuschätzen, ermöglicht erst kooperatives und koordiniertes sprachliches Handeln – und damit auch adressatengerechtes und situationsadäquates Sprechen und Schreiben. Unter anderem in der Psychologie (siehe z.B. theory of mind) wird untersucht, inwiefern die soziale Fähigkeit von Kindern, sich in andere hineinzuversetzen, mit dem Erwerb perspektivierender sprachlicher Ausdrücke zusammenhängt. Denn: Perspektivität als Eigenschaft menschlicher Sozialität und Kognition ist eng verbunden mit der Perspektivität von sprachlichen Zeichen.

Dass Sprache perspektivisch ist, bedeutet zum einen, dass dasselbe Konzept, dieselbe Sache oder derselbe Sachverhalt mit verschiedenen sprachlichen Mitteln beschrieben werden kann, die jeweils verschiedene Bedeutungsaspekte hervorheben und andere in den Hintergrund stellen. Andererseits bedeutet es, dass es so etwas wie eine ‚neutrale‘ Bezeichnung oder Formulierung nicht geben kann, denn kein sprachliches Zeichen kann alle Bedeutungsaspekte eines Konzeptes, einer Sache oder eines Sachverhaltes gleichermaßen symbolisieren. Jeder sprachliche Ausdruck ist also unvermeidbar perspektivierend. Sprecherinnen und Sprecher müssen aus einem großen Inventar an sprachlichen Formulierungsmöglichkeiten wählen, wobei jede Auswahl einer Formulierung gleichzeitig auch die Abwahl aller Formulierungsalternativen bedeutet.

Abb. 2 soll diese kommunikativen Verhältnisse zeichentheoretisch darstellen. Theorien, die auf dem sogenannten Semiotischen Dreieck (vgl. Ogden & Richards 1974) beruhen, unterscheiden zwischen dem sprachlichen Ausdruck (also den konkreten Wörtern oder Sätzen, mit denen etwas bezeichnet wird), den Referenzobjekten (also den Dingen, Sachverhalten oder Ereignissen ‚in der Welt‘, auf die mit sprachlichen Ausdrücken verwiesen wird) und den Konzepten (also den Ideen und Vorstellungen, die durch bestimmte sprachliche Ausdrücke aktiviert werden). Oft gibt es konkurrierende Bezeichnungen im Rahmen polarisierender politischer Entscheidungen (Semantische Kämpfe). Ein konkretes Beispiel sind die Ausdrücke Zukunftsprojekt (Ausdruckssystem 1) und Millionengrab (Ausdruckssystem 2), die in der öffentlichen Diskussion verwendet wurden, um das stadtplanerische Bauvorhaben mit dem offiziellen Namen Stuttgart 21 (Referenzobjekt) zu bezeichnen (vgl. Kotzur 2019). Mit beiden Begriffen verbinden sich unterschiedliche Konzepte. Der Ausdruck Zukunftsprojekt ruft möglicherweise Aspekte auf wie ‚Relevanz für das zukünftige Wohlergehen‘, ‚Investition‘ (Zukunft) oder ‚planvolles, kooperatives und komplexes Vorhaben‘ (Projekt). Millionengrab hingegen ruft Assoziationen auf wie ‚hohe Geldsummen‘, ‚Unrentabilität‘, ‚Tod‘ bzw. ‚Ende‘. Mit diesen Konzepten sind häufig komplexere Argumentationsketten (Topoi) verknüpft (z.B. mit dem Begriff Millionengrab: ‚ein Vorhaben sollte nicht weiter unterstützt werden, weil es teuer und unrentabel ist‘).

Schema sprachlicher Perspektivität
Abb. 2: Erweitertes Schema zu sprachlicher Perspektivität in Diskursen (Vogel 2020).

Perspektivierung bezeichnet in diesem theoretischen Rahmen das mehr oder weniger strategische Bemühen von Kommunikanten, durch die Wahl sprachlicher Mittel eine bestimmte kognitive Wahrnehmungsperspektive bei den Adressaten nahezulegen und damit möglicherweise auch Einfluss auf zukünftige Handlungen zu nehmen. Einer individuellen kognitiven Perspektive wird sozusagen eine sprachliche Form gegeben. Während dies in der alltäglichen Sprachverwendung in der Regel unbewusst geschieht, sind für die Analyse strategischer Kommunikation besonders diejenigen Fälle interessant, in denen einseitig perspektivierend formuliert wird, mit dem Ziel, die Einstellung der jeweils ‚anderen‘ zu beeinflussen.

Prinzipiell sind alle sprachlichen Ausdrücke perspektivierend. In der Sprachwissenschaft existieren allerdings verschiedene Versuche, Gruppen von Ausdrücken oder Strukturen zu identifizieren, die sich besonders gut zum Ausdruck von Perspektiven eignen. Dabei wird häufig zwischen verschiedenen Arten von Perspektivnahme unterschieden (vgl. z.B. Klages 2018: raum-zeitlich, emotional-affektiv oder kognitiv-meinungsbezogen) sowie zwischen verschiedenen Ebenen des Sprachsystems. Das heißt: Beim Sprechen oder Schreiben müssen auf mehreren sprachlichen Ebenen zugleich Entscheidungen getroffen werden: Entscheidungen der Wortwahl, der strukturellen Gliederung und des notwendigen Wissenskontextes (von Stutterheim & Klein 2002: 86). Im Folgenden wird beispielhaft auf drei Ebenen sprachlicher Perspektivität eingegangen: 1) Perspektivität auf Wortebene, 2) Perspektivität in der Grammatik und 3) Perspektivität auf Textebene.

  1. Perspektivität auf Wortebene: Einzelne Worte oder Mehrwortausdrücke können mehr oder weniger stark perspektivisch ‚gefärbt‘ sein. Besonders deutlich wird das im Bereich der politischen Schlagwörter, bei stark (ab-)wertenden Ausdrücken oder bei offensichtlich euphemistischer Wortwahl. Aber auch alltägliche, weitgehend unmarkierte (scheinbar neutrale) Bezeichnungen können der strategischen Perspektivierung dienen. Im Rahmen der Berichterstattung über den jahrzehntelangen Streit zwischen Umwelt- und Wirtschaftsinteressengruppen um den Erhalt bzw. die Abholzung eines Waldgebiets in der Nähe von Hambach existieren verschiedene Bezeichnungen für das betreffende Gebiet: Hambacher Wald, Hambi, Naturschutzgebiet aufseiten der Umweltschutzgruppen, Hambacher Forst und Betriebsgelände aufseiten der involvierten RWE Group. Während erstere Ausdrücke Aspekte der ‚Natürlichkeit‘, ‚emotionalen Verbundenheit‘ und ‚Schutzwürdigkeit‘ betonen, rufen letztere Ausdrücke vor allem wirtschaftliche bzw. juristische Konzepte der ‚Verwertbarkeit‘, ‚Kultivierung der Natur‘ und des ‚Eigentums‘ auf. Auch Metaphern können hochgradig perspektivierend sein. Eine Metapher wie schwächelnde Konjunktur überträgt ein Konzept aus einer Spendersphäre (Medizin, Krankheit/Gesundheit) in eine Zielsphäre (Wirtschaft). Dabei werden bestimmte Aspekte des Referenzobjektes fokussiert, andere in den Hintergrund gestellt (vgl. Lakoff & Johnson 1980). Zu besonders populären und verbreiteten Metaphernfeldern siehe auch Kollektivsymbolik.
  2. Perspektivität in der Grammatik: Auch grammatische Strukturen drücken regelhaft Perspektivierung aus. Die wachsende struktur- und kognitionslinguistische Forschung zu Perspektivität listet u.a. als besonders perspektivensensitive sprachliche Merkmale:
    • Deiktika und relationale Ausdrücke (hier, jetzt, links – rechts, vor – hinter, diese): Die Beschreibung räumlich-zeitlicher Gegebenheiten ist wahrnehmungsbedingt durch die Sprecherperspektive.
    • Verba Sentiendi (sehen, hören, wissen, hoffen, glauben, …) (z.B. Graumann 2002: 34): Mit diesen Verben schreiben Sprecher*innen sich oder anderen Wahrnehmungen oder Einstellungen, und damit vor allem kognitive Perspektiven, zu.
    • Argumentkonstruktion des Verbs (z.B. Welke 2002): Welche Satzglieder und semantischen Rollen von einem Verb in welcher Reihenfolge verlangt werden, perspektiviert die an einer Proposition (Satzaussage) beteiligten Vorstellungsinhalte in einer spezifischen Weise. Mit den Verben kaufen, verkaufen, bezahlen kann man z.B. auf ein- und dieselbe Transaktionssituation Bezug nehmen, sie benötigen aber unterschiedliche Kombinationen aus Satzgliedern, die eine kaufende oder verkaufende Person, ein Kaufobjekt oder ein Zahlungsmittel nennen, damit ein grammatikalisch richtiger Satz entsteht.
    • Genus Verbi: Aktiv und Passiv als grammatische Kategorien des Verbs verändern die Argumentstruktur: Während die aktivische Verbform einen Handlungsträger (Agens) verlangt, steht im Passiv eine betroffene Person oder Sache (Patiens) im Vordergrund. Durch Passivierung/Deagentivierung ergibt sich oft eine radikal andere Perspektivierung eines Verbalgeschehens (Beispiele siehe unten).
    • Metasprachliche Ausdrücke der Perspektivenverschiebung: Üblicherweise ist die sprechende oder schreibende Person Perspektiventräger, da in der normalen Alltagskommunikation meistens eigene Erfahrungen und Überzeugungen mitgeteilt werden. Diese Perspektiven können aber auch mithilfe (meta)sprachlicher Mittel verschoben oder explizit gemacht werden. Mit Ausdrücken wie dieser Blickwinkel, aus meiner Sicht, mehrdimensionale Betrachtung, einen genaueren Blick werfen auf, ich als Betroffene, wenn ich du wäre kann die eigene Perspektive zum Thema gemacht werden.
  3. Perspektivität auf Text- und Gesprächsebene: Sprachliche Perspektivierung geht über die Ebene des einzelnen Wortes oder des einzelnen Satzes hinaus. Sowohl in schriftlicher als auch in mündlicher Kommunikation werden in größeren Kontexten (Texte, Gespräche, Textsammlungen) Perspektiven gesetzt: durch die Auswahl der besprochenen Themen – und damit auch durch das Auslassen anderer Themen – durch den Aufbau und die Reproduktion von Argumentationsketten, durch die Auswahl von Quellen und durch die Reihenfolge von Themen und Argumenten in sprachlichen Erzeugnissen. Ein Text mit dem Titel Folgen der Corona-Pandemie könnte beispielsweise eine bestimmte Perspektive einnehmen, indem vorwiegend finanzielle Folgen benannt und eine wirtschaftliche Argumentation geführt würden – im Gegensatz zu einem Text, der z.B. soziale Auswirkungen der Pandemie beschreibt und zu ganz anderen Argumentationen oder Handlungsaufforderungen kommt. Entstehen viele, ähnlich perspektivierende sprachliche Beiträge, konstituieren sich textübergreifend diskursiv populäre Perspektivierungen, die auch im Gegensatz zueinander stehen können (siehe oben zu ‚Streit der Perspektiven‘).

Die Vielzahl an perspektivierenden sprachlichen Mitteln sowie die an dieser Stelle weitgehend ausgeblendete linguistische Diskussion darüber, wie sprachlich perspektivierende Ausdrücke zu definieren sind, zeigen, dass Perspektivität kein leicht zu operationalisierendes Konzept ist. Der gemeinsame Nenner der linguistischen Beschäftigung mit Perspektivität ist jedoch, dass Wahrnehmungsbedingungen und Denkstrukturen sich zu einem gewissen Grad in den (syntaktischen) Strukturen natürlicher Sprachen spiegeln und über diese analysiert und rekonstruiert werden können. Trotz der Heterogenität der Ansätze kann das Konzept von Perspektivität als sprachliche Eigenschaft solche Analysen bereichern, insbesondere im Bereich der strategischen Kommunikation.

Der vorliegende Artikel ist der Versuch einer Beschreibung des Perspektivenbegriffs für Anwendungsbereiche strategischer Kommunikation. Ausgeblendet werden Strategien der Perspektivnahme und Fokalisierung in literarischen Werken (dazu z.B. Sandig 1996), die Diskussion von Abgrenzungsproblematiken etwa zwischen Bewertung und Perspektivierung oder die in der Konversationsanalyse wichtige Frage nach der sprachlichen Aushandlung von Perspektiven etwa in (privaten) Streit- und Schlichtungsgesprächen (dazu z.B. Kallmeyer 2002).

Beispiele

(1) Semantische Kämpfe um die Bezeichnung von Covid-19-Impfstoffen

Als Ende 2020, etwa ein Jahr nach Beginn der Covid-19-Pandemie, die ersten Impfstoffe produziert wurden, entspann sich eine Kontroverse um deren Sicherheit, besonders vor dem Hintergrund der Wirkungsweise der neuen mRNA-basierten Impfstoffe. In einer Befragung der Bundesregierung am 16.12.2020 kam es zu semantischen Kämpfen um die Bezeichnung der Impfstoffe zwischen Uwe Witt (Befürworter nicht-mRNA-basierter Impfstoffe) und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (Befürworterin mRNA-basierter-Impfstoffe).

Uwe Witt (AfD): Die Frage: Haben unsere Bürger die Wahl, sich den Impfstoff, mit dem sie geimpft werden, auszusuchen? Also, tragen sie das Risiko, mit einem genmanipulierten Impfstoff geimpft zu werden, (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD – Michael Theurer [FDP]: Er ist nicht genmanipuliert!) was Sie gerade eingeräumt haben, über den keine – bitte Kollegen! – Langzeitergebnisse und -studien erfolgt sind? Oder können sie sagen „Okay, nein, ich möchte jetzt in der ersten Stufe nicht mit dem genmanipulierten Impfstoff geimpft werden, sondern ich möchte gerne warten, bis die traditionellen Impfstoffe hergestellt sind, die eine gewisse Sicherheit und auch Grundimmunisierung bieten“?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Also, erstens, ich erahne aus Ihrer Frage, dass Sie kein besonderer Freund des Impfens sein könnten. […] Aber wenn Sie ansonsten alle Impfstoffe akzeptieren, nur nicht die mRNA-Impfstoffe, dann kommt sicherlich auch für Sie als jemand, der gerne einen anderen Impfstoff hat, die Zeit, wo Sie einen anderen Impfstoff auswählen können. […] Dann möchte ich Sie bitten, dem Sachverhalt entsprechend nicht von irgendwelchen „genmanipulierten“ Dingen zu sprechen. Das ist ein Impfstoff, der genetische Komponenten enthält und damit sehr präzise funktionieren könnte, so jedenfalls die jetzigen Versuchsergebnisse der Phase-III-Studien.

Auszug aus dem Sitzungsprotokoll der 201. Sitzung des deutschen Bundestags, eigene Hervorhebungen (URL: https://dserver.bundestag.de/btp/19/19201.pdf, letzter Zugriff am 21.07.2022)

In seiner Anfrage an die Bundeskanzlerin nutzt Uwe Witt für die aus seiner Sicht unsicheren Impfstoffe den Ausdruck genmanipulierte Impfstoffe, um mit dem (Stigma-)Begriff Genmanipulation verbundene negative Konzepte (‚unethische Wissenschaft‘, ‚Unnatürlichkeit‘ oder ‚eigeninteressengeleitetes Verhalten‘) aufzurufen. Der dem entgegengestellte Ausdruck traditionelle Impfstoffe verleiht den bereits länger existierenden Impfstoffen eine gewisse historische bzw. erfahrungsbasierte Legitimation, auch unter Nutzung der i.d.R. positiven Konnotationen des Traditionsbegriffs. Die starke negative Bewertung durch das Attribut genmanipuliert löst eine sofortige Reaktion im Plenum aus (Er ist nicht genmanipuliert!). Michael Theurer und auch später Angela Merkel verwehren sich dieses konkreten Ausdrucks und seiner Konzeptualisierung des Referenzobjektes. Die Gegenseite nutzt mit dem Fachbegriff mRNA-Impfstoff und dem Ausdruck Impfstoff, der genetische Komponenten enthält die Anschlussfähigkeit an und damit auch Legitimation durch den wissenschaftlichen Diskurs. Mit Formulierungen wie dem Sachverhalt entsprechen und irgendwelche beansprucht Merkel auch eine differenzierte Sicht- und Ausdrucksweise für sich und wirft Witt indirekt sprachliche Ungenauigkeit vor. Dass ein Begriff ‚den Sachverhalt‘ oder ‚die Wahrheit‘ präziser, zutreffender beschreibe als ein anderer, ist ein häufig bemühtes Argument in der Austragung semantischer Kämpfe.

Wie das Referenzobjekt ‚Impfstoff‘ sprachlich perspektiviert wird, ist für die Beteiligten von entscheidender Bedeutung, da es sich auf die politische Durchsetzungskraft einzelner Corona-Maßnahmen auswirken und die öffentliche Meinung beeinflussen könnte.

(2) Passivierung und Deagentivierung in der Medienberichterstattung

Journalistinnen und Journalisten sind bei der Berichterstattung regelmäßig mit dem Problem einer angemessenen, möglichst wenig einseitigen Perspektivierung von Ereignissen und ihren Beteiligten konfrontiert. Das kann, insbesondere bei tagesaktuellem Geschehen mit vorerst unklarer Sachlage, eine sprachliche Herausforderung sein. Kotzur (2019: 84) beschreibt, wie in Medienberichten über die Proteste gegen das Bauprojekt „Stuttgart 21“ Strategien der Passivierung und Deagentivierung genutzt wurden, möglicherweise um eine Positionierung der Berichtenden aufseiten der Demonstrierenden oder aufseiten der Polizei zu vermeiden. Die Frage, ob der Polizeieinsatz gegen die Stuttgart-21-Gegner rechtmäßig war, war juristisch zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden. Auszüge aus der Berichterstattung:

Schultern prallen dabei aufeinander, Ellenbogen werden auf beiden Seiten ausgefahren. […] Die Rangeleien zwischen Polizei und Demonstranten gehen teilweise in Prügeleien über (Der Tagesspiegel, 01.10.2010, vgl. Kotzur 2019: 84)).

Bei erneuten Protesten gegen das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 ist es am Donnerstag zu massiven Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen (Der Tagesspiegel, 30.09.2010).

Durch die Wahl unpersönlicher Formulierungen und die Vermeidung von Personen als ursächliche Handlungsträger (Agens-Rolle) liegt der Fokus auf den Ereignissen statt auf den beteiligten Personen (Protestierende vs. Polizei). Die Ereignisse werden so als natürlicher Verlauf des Geschehens und nicht als Handlungen und Handlungskonsequenzen konkreter Akteure perspektiviert.

Literatur

Zum Weiterlesen

Perspektive und Perspektivität in anderen Fachglossaren

  • Diversity-Glossar: Multiperspektivität. Online unter: http://diversity-glossar.de/multiperspektivitaet ; Zugriff: 14.10.2022.
  • Dorsch Lexikon der Psychologie: Perspektivität. Online unter: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/perspektivitaet-perspektivismus ; Zugriff 14.10.2022.
  • Literaturwelt: Perspektive. Online unter: https://www.literaturwelt.com/perspektive ; Zugriff: 14.10.2022.

Zitierte Literatur

  • Deutscher Bundestag (2020): Plenarprotokoll 19/201 vom 16. Dezember 2020. Online unter: https://dserver.bundestag.de/btp/19/19201.pdf ; Zugriff: 21.07.2022.
  • Felder, Ekkehard (2006): Semantische Kämpfe in Wissensdomänen. Eine Einführung in Benennungs-, Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungs-Konkurrenzen. In: Felder, Ekkehard (Hrsg.): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin; New York: De Gruyter, S. 13–46.
  • Gesellschaft für deutsche Sprache (o. J.): Unwort des Jahres 2010-2019. Online unter: https://www.unwortdesjahres.net/unwort/das-unwort-seit-1991/2010-2019/ ; Zugriff: 22.07.2022.
  • Graumann, Carl F. (2002): Explicit and implicit perspectivity. In: Graumann Carl F.; Kallmeyer, Werner (Hrsg.): Perspective and perspectivation in discourse. Amsterdam; Philadelphia: John Benjamins, S. 25–39.
  • Graumann, Carl F.; Kallmeyer, Werner (2002): Perspective and perspectivation in discourse. Introduction. In: Dies. (Hrsg.): Perspective and perspectivation in discourse. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins, S. 1–11.
  • Kallmeyer, Werner (2002): Verbal practices of perspective grounding. In: Graumann, Carl F.; Kallmeyer, Werner (Hrsg.): Perspective and perspectivation in discourse. Amsterdam; Philadelphia: John Benjamins, S. 111–141.
  • Klages, Johanna (2018): Perspektivierung im Text. Interpretation und Verarbeitung. Dissertationsschrift an der Universität Göttingen.
  • Köller, Wilhelm (2004): Sprache und Perspektivität. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin: De Gruyter.
  • Kotzur, Gerrit (2019): Crying children and bleeding pensioners against Rambo’s troop. Perspectivisation in German newspaper reports on Stuttgart 21 protests. In: Hart, Christopher; Kelsey, Darren (Hrsg.): Discourses of disorder. Riots, strikes and protests in the media. Cambridge: University Press, S. 75–92.
  • Lakoff, George; Johnson, Mark (1980): Metaphors we live by. Chicago: University of Chicago Press.
  • Ogden, Charles K.; Richards, Ivor A. (1974): Die Bedeutung der Bedeutung. Eine Untersuchung über den Einfluß der Sprache auf das Denken und die Wissenschaft des Symbolismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Sandig, Barbara (1996): Sprachliche Perspektivierung und perspektivierende Stile. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 26, S. 36–63.
  • Thomä, Dieter (2019): Perspektivismus und politische Störung. Überlegungen im Anschluss an Friedrich Nietzsche und John Stuart Mill. In: von Sass, Hartmut (Hrsg.): Perspektivismus. Neue Beiträge aus der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik. Hamburg: Felix Meiner, S. 263–287.
  • Vogel, Friedemann (2020): Manuskript zur Linguistischen Diskursanalyse. Siegen, unveröffentlicht.
  • von Sass, Hartmut (2019): Perspektiven auf die Perspektive. Eine Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Perspektivismus. Neue Beiträge aus der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik. Hamburg: Felix Meiner, S. 9–35.
  • von Stutterheim, Christiane; Klein, Wolfgang (2002): Quaestio and L-perspectivation. In: Graumann, Carl F.; Kallmeyer, Werner (Hrsg.): Perspective and perspectivation in discourse. Amsterdam; Philadelphia: John Benjamins, S. 59–88.
  • Welke, Klaus (2002): Deutsche Syntax funktional. Perspektiviertheit syntaktischer Strukturen. Tübingen: Stauffenburg.

Zitiervorschlag

Schmallenbach, Joline (2022): Perspektive. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 01.12.2022. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/perspektive.  

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Agenda Setting

Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Normalismus

Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.

Wissen

Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.

Werbung

Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf Einführung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.

Mediale Kontrolle

Medien werden vielfältig zur Durchsetzung von Macht verwendet. So in der Zensur, wenn eine politische Selektion des Sagbaren und des Unsagbaren stattfindet; in der Propaganda, wenn eine Bevölkerung von den Ansichten oder wenigstens der Macht einer bestimmten Gruppe überzeugt werden soll; oder in der Überwachung, die unerwünschtes Verhalten nicht nur beobachten, sondern unwahrscheinlich machen soll.

Freund- und Feind-Begriffe

Freund-, Gegner- und Feindbegriffe sind Teil der Politischen Kommunikation. Sie bilden die Pole eines breiten Spektrums von kommunikativen Zeichen, mit denen politische Akteure sich selbst und ihre politischen Gegner im Kampf um beschränkte Ressourcen auf dem diskursiven Schlachtfeld positionieren.

Techniken

Sündenbock

Der Sündenbock bezeichnet eine Person oder Gruppe, die stellvertretend für etwas beschuldigt wird. Hinter dieser Schuldzuweisung steckt ein kommunikativer Mechanismus des Gruppenzusammenhalts, der sich in verschiedenen kulturellen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten durch Rituale, Mythen, Erzählungen oder Verhalten manifestiert.

Redenschreiben

Wer Reden schreibt, bereitet die schriftliche Fassung von Reden vor, die bei besonderen Anlässen gehalten werden und bei denen es auf einen ausgearbeiteten Vortrag ankommt.

Offener Brief

Bei einem offenen Brief handelt es sich um eine strategische Praktik, die genutzt wird, um Anliegen einer Person oder Gruppe öffentlich sichtbar zu machen. Die Texte, die als offene Briefe bezeichnet werden, richten sich an eine Person oder Institution und werden über Medien veröffentlicht.

Kommunikationsverweigerung

Unter dem Begriff Kommunikationsverweigerung lässt sich ein Bündel von Praktiken und Strategien fassen, die den kommunikativen Austausch zu erschweren oder zu verhindern suchen.

Flugblatt

Unter Flugblättern versteht man einseitige Druckerzeugnisse, die ursprünglich meist illustriert waren. Eng verwandt sind die mehrseitigen Flugschriften. Während Flugschriften und Flugblätter heute kostenlos verteilt werden oder zur Mitnahme ausliegen, wurden sie in der Frühen Neuzeit zunächst als Handelswaren verkauft und gingen so als frühe Massenmedien den Zeitungen voraus.

Passivierung

Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenüber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden müssen, was beispielsweise in Gesetzestexten für eine (gewünschte) größtmögliche Abstraktion sorgt („Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 3 GG).

Aufopferungs-Topos

Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren.

Opfer-Topos

Als Opfer-Topos bezeichnet man eine diskursive Argumentationsstrategie, bei der sich Akteure als ‚Opfer‘ gesellschaftlicher Urteilsbildung inszenieren und damit eigene Interessen – vor allem Aufmerksamkeit und Berücksichtigung von Bedürfnissen – geltend zu machen versuchen.

Analogie-Topos

Der Analogie-Topos zählt zu den allgemeinen bzw. kontextabstrakten Argumentationsmustern, die genutzt werden können, um für oder gegen eine Position zu argumentieren. Analogie-Topoi werden von verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen strategisch eingesetzt, um eine zustimmende Haltung bei den Zielgruppen zu bewirken.

Topos der düsteren Zukunftsprognose

Der Topos der düsteren Zukunftsprognose beschreibt ein Argumentationsmuster, bei dem eine negative, dystopische Zukunft prognostiziert wird. Dabei wird auf die drohenden Folgen einer Krise oder einer allgemeinen Gefahr verwiesen, aus der eine negative Zukunft bei falschem Handeln resultieren wird.

Schlagwörter

Verfassung

Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.

Toxizität / das Toxische

Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.

Zivilgesellschaft

Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.

Demokratie

Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.

Plagiat/Plagiarismus

Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.

Fake News

Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.

Lügenpresse

Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.

Antisemitismus

Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene Phänomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloßen Distanzierung und Behauptung jüdischer Andersartigkeit, über vollständig ausgearbeitete Weltbilder, die Jüdinnen*Juden für sämtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken.

Grammatiknazi / Grammar Nazi

Das überwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi – als Übersetzung von engl. grammar nazi – wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den Äußerungen anderer (häufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen üben.

Respekt

Respekt oder respektvolles Verhalten wird eingefordert für die Eigengruppe (bzw. von der Eigengruppe), für wirklich oder vermeintlich diskriminierte Gruppen, für abweichende Meinungen. Mitgemeint ist bei der Forderung nach Respekt meist eine positiv bewertete Szene der (sozialen, kulturellen, ethnischen, sexuellen etc.) Vielfalt/Diversität.

Verschiebungen

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Relativieren – kontextualisieren – differenzieren

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.

Neue Beiträge Zur Diskursforschung 2023

Mit Beginn des Wintersemesters laden die Forschungsgruppen CoSoDi und Diskursmonitor sowie die Akademie diskursiv ein zur Vortragsreihe Neue Beiträge Zur Diskursforschung. Als interdisziplinäres Forschungsfeld bietet die Diskursforschung eine Vielzahl an...

Tagung: Diskursintervention (31.01.2019–01.02.2019)

Welchen Beitrag kann (bzw. muss) die Diskursforschung zur Kultivierung öffentlicher Diskurse leisten? Was kann ein transparenter, normativer Maßstab zur Bewertung sozialer und gesellschaftlicher Diskursverhältnisse sein?

Was ist ein Volk?

Dass „Volk“ ein höchst schillernder und vielschichtiger politischer Leitbegriff der vergangenen Jahrhunderte gewesen ist (und nach wie vor ist), kann man schon daran erkennen, dass der Eintrag „Volk, Nation“ in Brunner, Conze & Kosellecks großem Nachschlagwerk zur politischen Begriffsgeschichte mehr als 300 Seiten umfasst.

Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft!

Im Herbst 2022 veranstalteten die Sender des Deutschlandradios eine Kampagne mit Hörerbeteiligung zur Auswahl eines Themas, mit dem sich ihre sogenannte „Denkfabrik“ über das kommende Jahr intensiv beschäftigen solle. Fünf Themen standen zur Auswahl, „wehrhafte Demokratie“ wurde gewählt, wenig überraschend angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine…