
DiskursGlossar
Gamification
Kategorie: Techniken
Verwandte Ausdrücke: Spielifizierung, Gamifizierung, Entertainment
Siehe auch: Werbung, Nudging
Autor: Jens Seiffert-Brockmann
Version: 1.1 / Datum: 16.02.2023
Kurzzusammenfassung
Unter Gamification versteht man allgemein die Anwendung von Spieleprinzipien in nicht-spielerischen Kontexten (vgl. Deterding et al. 2011). Gamification verknüpft den menschlichen Spieltrieb und Entertainment mit persuasiven Organisationszielen (z.B. die Einstellungsänderung von Stakeholdern zu relevanten Themen oder Produkten), die in den Algorithmen digitaler Applikationen (z.B. Websites, Apps) ihren Ausdruck finden. Nutzer:innen gamifizierter Anwendungen werden also nicht rhetorisch durch audiovisuelle Inhalte angesprochen, sondern durch die (digitale) Prozedur, die der Anwendung zugrunde liegt. Wann immer Organisationen für Tätigkeiten wie Einkäufe Punkte vergeben, Incentives und Prämien anbieten, oder die Mitarbeiter:in des Monats küren, ist das die Anwendung von Spieleprinzipien in nicht-spielerischen Kontexten, also ‚Gamification‘. Über die periphere, d.h. die mental unbewusste und oftmals auch emotionale, Verarbeitung persuasiver Botschaften umgeht Gamification den kognitiven Widerstand, den offene Persuasionsversuche oftmals auslösen. Auf Basis digitaler Algorithmen ist mit Gamification zudem eine andere Form der Rhetorik umsetzbar, sog. Prozedurale Rhetorik, die Argumente nicht nur durch Wort und Bild ausdrückt, sondern sie als virtuelle Realität erfahrbar macht. Während man bei der Lektüre oder dem Anschauen von Filmen dem Medieninhalt lediglich passiv ausgesetzt ist, erlauben gamifizierte Anwendungen mit diesen zu interagieren. Nutzer:innen können somit einen Sachverhalt nicht nur durch lesen oder sehen verstehen, sondern ihn virtuell erleben und damit qualitativ anders begreifen.
Erweiterte Begriffsklärung
Unter Gamification versteht man allgemein die Anwendung von Spieleprinzipien in nicht-spielerischen Kontexten (vgl. Deterding et al. 2011). Gamification hat im Zuge der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien, vor allem aber seit der Popularisierung des Internets und des Personal Computers, einen regelrechten Boom erlebt. Dieser Boom ist durch zwei wesentliche Aspekte charakterisiert. Einerseits ist im Zuge einer allgemeinen Mediatisierung eine schrittweise Einführung von Spielen in den gesamtgesellschaftlichen Alltag insgesamt zu beobachten, vor allem über Applikationen auf mobilen Endgeräten. Zweitens wird zunehmend versucht, positive Spieleffekte, wie beispielsweise Unterhaltung und Engagement, auf nicht spielerische Kontexte zu übertragen. Auch wenn Gamification in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals im Zusammenhang mit der Digitalisierung gesehen wird, findet Gamification als Prinzip schon viel länger Anwendung, vor allem im Marketing, wo Coupons-, Rabatt- und Sammelaktionen bereits seit Jahrzehnten gängige Instrumente der Verkaufsförderung sind. Dabei findet Gamification bei Weitem nicht nur in der Wirtschaft in Bezug auf Dienstleistungen oder Produkte Anwendung, sondern in allen Gesellschaftsbereichen, in denen organisationalen und institutionellen Akteuren eine Einstellungsänderung wichtiger Bezugsgruppen strategisch erstrebenswert erscheint.
Gamification nutzt dabei den Umstand, dass der Spieltrieb in Menschen genetisch fest verdrahtet ist und in allen Kulturen weltweit schon ab dem Kleinkindalter beobachtet werden kann (vgl. Brown 2004). Über Spiel und spielerisches Verhalten werden nicht nur Kulturtechniken eingeübt, sondern Sozialverhalten insgesamt. Mit Blick auf Gamification ist es dabei sinnvoll, eine begriffliche Abgrenzung vorzunehmen, die mit den Begriffen ludus (engl.: ,gaming‘) und paida (engl.: ,playing‘) markiert wird (vgl. Callois 2001). Während man unter Play gemeinhin spielerisches, ungezwungenes Verhalten versteht, referiert Game auf strukturierte, regelbasierte Spiele, die zwischen mindestens zwei Entitäten ausgetragen werden und auf ein Spielziel hinauslaufen. Gamification hebt vor allem auf die ludus-Dimension ab, um organisational relevanten Content entweder über serious games auszudrücken, oder aber über spielerische Elemente in nicht-spielerischen Anwendungen. Allen diesen Anwendungen ist gemein, dass der Unterhaltungsaspekt, der bei genuinen Spielen im Vordergrund steht, in den Hintergrund rückt und lediglich als Vehikel verwendet wird, um andere Ziele zu realisieren.
Die Wirksamkeit von Gamification beruht genau darauf, dass das Erreichen der (kommunikativen) Ziele von Organisationen nur ein Nebenprodukt der gamifizierten Anwendung ist. Persuasion erfolgt hier, ganz im Sinne des Elaboration-Likelihood-Modells (vgl. Petty & Cacioppo 2012), über die periphere Verarbeitung von Kommunikationsinhalten. Im Gegensatz zu klassischen rhetorischen Versuchen, Ideen durch Reden, Schreiben und Bilder zu vermitteln, geht es bei Gamification um spielerisches Erleben, bei welchem der eigentliche Hauptzweck nur ,nebenbei‘ vermittelt wird, während der User sich spielerisch der Anwendung widmet. Das Sammeln von Badges (digitale Abzeichen, die man wie Orden sammelt), das Erreichen eines Levels, das Klettern auf einem Leaderboard oder das Verbinden mit Freunden in einer gamifizierten Community, all das sind lediglich die Trägerwellen für dahinterliegende Organisationsziele. Für den Benutzer ist jedoch das Reiten auf dieser Welle selbst wünschenswert und mithin der Hauptaspekt der Nutzung gamifizierter Programme, da durch sie der spielerische Trieb geweckt wird. Die Anwendung von Gamification ist gleichbedeutend mit dem Angebot eines Kompromisses: Der Nutzer schenkt dem Programm (und seinen visuellen, verbalen Inhalten) seine Aufmerksamkeit – welche die Organisation auf ihre eigenen Ziele lenken kann – und wird im Gegenzug mit einer spielerischen Erfahrung, Spaß und Unterhaltung belohnt. Gamification umgeht dabei auch das Phänomen der Reaktanz (vgl. Brehm & Brehm 2013), welches von direkten Persuasionsversuchen oftmals evoziert wird, wenn das Individuum offensichtlich in seiner Entscheidungsautonomie beeinträchtigt werden soll. Ganz allgemein sollte allerdings der Versuch der unterschwelligen Verhaltensänderung durch Gamification in seiner Effektivität nicht überbewertet werden, da derlei Persuasionsversuche über periphere kognitive Verarbeitungsrouten meist nur zu instabilen Einstellungsänderungen führen und daher selten als Kommunikationsinstrumente für sich alleine stehen.
Um effektiv zu funktionieren, müssen gamifizierte Anwendungen die psychologische Konstitution ihrer User berücksichtigen und diesen entsprechend ihrer individuellen Präferenzen Nutzungsoptionen zur Auswahl bieten. Bartle war Mitte der 90er Jahre einer der ersten, der auf solch unterschiedliche Muster im Verhalten von Computerspielern hinwies (1996) und deren Konsequenzen deutlich machte. Demnach lassen sich Spieler entsprechend ihres Verhaltens in der virtuellen Spielumgebung in Achiever, Explorer, Socialiser und Killer einteilen. Diese Typologie wurde in den folgenden Dekaden von der Forschung auf drei zentrale Motivlagen zurückgeführt: Leistungsmotivation (Unterkategorien: Fortschritt, Mechanik, Wettbewerb); Soziale Motivation (Unterkategorien: Geselligkeit, Beziehung, Teamwork) und Immersion (Unterkategorien: Entdeckung, Rollenspiel, Anpassung, Eskapismus). Gamification ist der Versuch, diese intrinsischen Motivationen von Usern für verschiedenste Aktivitäten zu fördern (vgl. Hamari & Koivisto 2015) und im organisationalen Interesse nutzbar zu machen. Die Anwendung von Spielen und spielähnlichen Verfahren in Organisationen ist dabei keineswegs neu. Simulationen, Planspiele oder Manöver werden seit langem eingesetzt, um hypothetische Situationen durchzuspielen und sich so auf das wirkliche Leben vorzubereiten. So sind beispielsweise Trainingssimulatoren unverzichtbar in der Ausbildung von Flugzeugpiloten, Ärzten oder Ingenieuren (vgl. Sitzmann 2011), um komplizierte operationale Abläufe einüben zu können, ohne die Konsequenzen katastrophaler Fehler fürchten zu müssen. Ganz wie im kindlichen Spiel können Verhalten und Handlungen in serious games über Trial-and-Error eingeübt werden.
Digitale Spiele lassen sich dabei als eine prozedurale Form der Rhetorik verstehen (vgl. Bogost 2010). Auditive und visuelle Rhetorik versucht Argumente durch Worte und Bilder zu transportieren und nutzt diese, um Rezipienten zu überzeugen. Demgegenüber haben digitale Programme die Möglichkeit, Argumente über ihren Code zu transportieren und durch ihr Interface virtuell erlebbar zu machen. Aber der Einsatz von Spielen und gamifizierten Anwendungen als rhetorisches Instrument, um Menschen davon zu überzeugen, einer bestimmten Entscheidungslogik zu folgen, ist eine neue Qualität, die erst seit kurzem zu beobachten ist. Ein Pionier in diesem Bereich war die US-Armee mit der Entwicklung ihres First-Person-Shooters America’s Army im Jahr 2002 (siehe Beispiele unten).
Wie bereits oben angemerkt, sollte das Potenzial von Gamification und gamifizierten Anwendungen nicht überschätzt werden. Wenngleich diese Anwendungen psychologisch und biologisch fest verdrahtete Motive aktiviert und nutzt, sind die tatsächlichen Effekte meist eher bescheiden. Ethisch problematisch ist aber die mögliche Verquickung von Gamification mit Nudging-Strategien (vgl. Thaler & Sunstein 2021), wobei durch dauerhafte, periphere Persuasion nachhaltige Verhaltensänderungen erzeugt werden können, über die sich die User selbst nicht bewusst sind. Zudem bedeutet die Gamifizierung von Diskursen das Einsickern einer Konkurrenzlogik in Anwendungen, die ggf. Kollaboration und Kooperation zwischen Usern zuungunsten von Wettbewerb verdrängt. Vor allem wenn Anwendungen einseitig auf Achievement-Motivationen ausgelegt sind und entsprechende Features wie Leaderboards und Levels überproportional zum Einsatz kommen, kann die digitale Nische, welche die Anwendung besetzt, schnell homogen und damit isoliert werden – was natürlich wiederum, je nach Ziel der Organisation, auch genau im Sinne der Erfinderin sein kann. Wie jedes Kommunikationsinstrument sind auch im Falle von Gamification Nutzen und Schaden davon abhängig, wie professionell und nachhaltig das Tool eingesetzt wird und ob ethische Grenzen in der Persuasion dabei respektiert werden oder nicht.
Beispiele
(1) iSKI-App
iSki ist ein 2009 gegründetes Unternehmen, dass mit seiner iSKI-App Skifahrerlebnisse in 21 Ländern digital vermarktet. Die App spricht dabei jene Spielertypen an, die Bartle in seinem Aufsatz von 1996 bereits identifiziert hatte (siehe oben). Die iSKI-Trophy spricht deutlich jene an, die als ,Achiever‘ den Wettkampf mit anderen suchen und ihre Performance digital mit anderen Usern vergleichen. Die iSKI-Community spricht wiederum all jene an, die Apps zum ,socialisen‘ verwenden und beispielsweise ihre Skierlebnisse digital mit Freunden teilen wollen. Für die ,Explorer‘ unter den Skifahrern erlaubt die App das Sammeln von Badges, mit denen der eigene Status als Skifahrer:in untermauert wird. Studien (bspw. Seiffert-Brockmann et al. 2018) haben gezeigt, dass eine solche Gamifizierung von Inhalten tatsächlich Effekte zeitigt, die über die Nutzung der App hinausgehen. So ist beispielsweise die Wiedererkennung (Name Recognition) von Werbepartnern der App stärker bei intensiven App-User:innen im Vergleich zu denjenigen, die die Anwendung nur gelegentlich nutzen.
(2) OSRAM Mission Game
Als Osram 2013 von Siemens abgespalten wurde, stand das Unternehmen, das in Deutschland nach wie vor in erster Linie mit Glühbirnen in Verbindung gebracht wird, vor der Aufgabe, sich neu zu erfinden und die eigenen Mitarbeiter:innen dabei mitzunehmen. Mit dem OSRAM Mission Game entwickelte das Unternehmen eine gamifizierte Plattform, in der alle Mitarbeitenden des Konzerns spielerisch die neuen Werte und die Geschichte des Unternehmens kennenlernen konnten. Mit für Gamification typischen Features wie Badges, Leaderboards und personifizierten Avataren, können die User:innen seit der Einführung die Vision des Konzerns, Light for a better world, auf der eigens dafür konzipierten Plattform erleben. Das Ziel des Unternehmens ist hierbei, die Verinnerlichung der strategisch vorgegebenen Themenfelder und der zentralen Unternehmenswerte.
(3) US Army: America’s Army
Die US-Armee verfolgte mit der Programmierung des Entertainmentspiels America’s Army ein klares strategisches Ziel: Die operative Effizienz und Qualität der von der US Army rekrutierten Soldaten sollte erhöht und unnötige Ausgaben und Verfahren reduziert werden (vgl. Allen 2014). Im Gegensatz zu anderen Unterhaltungsspielen desselben Genres verwendete America’s Army eine prozedurale Rhetorik, indem es die Einsatzregeln der US-Armee und ihre Befehlskette in den Algorithmus einprogrammierte, um eine virtuelle aber gleichwohl realistische Erfahrung als Soldat in der US-Army zu kreieren. Damit sollte der Shooter der Realität von Trainingssimulatoren so nahe wie möglich kommen und gleichzeitig den Unterhaltungscharakter klassischer Computerspiele bewahren. Gleichzeitig konnte die US-Armee auf diesem Wege auch die technische Affinität potenzieller Rekrut:innen testen, die für die digitale Kriegsführung des 21. Jahrhunderts immer wichtiger wird.
Literatur
Zum Weiterlesen
- Bogost, Ian (2010): Persuasive games: The expressive power of videogames. Cambridge, Mass.: MIT Press.
- Seiffert, Jens; Nothhaft, Howard (2015): The missing media: The procedural rhetoric of computer games. In: Public Relations Review, Heft 2, Jg. 41, S. 254–263.
Zitierte Literatur und Belege
- Allen, Robertson (2014): America’s Army and the Military recruitment and management of ‘Talent’: An interview with Colonel Casey Wardynski. In: Journal of Gaming & Virtual Worlds, Heft 2, Jg. 6, S. 179–191. https://doi.org/10.1386/jgvw.6.2.179_1.
- Bartle, Robertson (1996): Hearts, Clubs, Diamonds, Spades: Players Who Suit Muds. Online unter: https://mud.co.uk/richard/hcds.htm#1 ; Zugriff: 15.02.2023.
- Bogost, Ian (2010): Persuasive games: The expressive power of videogames. MIT Press.
- Brehm, Sharon; Brehm, Jack W. (1981): Psychological reactance: A theory of freedom and control. Burlington: Academic Press.
- Brown, Donald E. (2004): Human universals, human nature & human culture. In: Daedalus, Heft 4, Jg. 133, S. 47–54. https://doi.org/10.1016/j.pubrev.2014.11.011.
- Caillois, Roger (2001). Man, play, and games. University of Illinois Press. Online unter: https://voidnetwork.gr/wp-content/uploads/2016/09/Man-Play-and-Games-by-Roger-Caillois.pdf ; Zugriff: 14.02.2023.
- Deterding, Sebastian et al. (2011): From Game Design Elements to Gamefulness: Defining ‚Gamification‘. In: Proceedings of the 15th International Academic MindTrek Conference: Envisioning Future Media Environments. New York: ACM, S. 9–15. https://doi.org/10.1145/2181037.2181040.
- Petty, Richard E.; Cacioppo, John T. (2012): The Elaboration Likelihood Model of Persuasion. In: Petty, Richard E.; Cacioppo, John T. (Hrsg.): Communication and persuasion: Central and peripheral routes to attitude change. Berlin [u. a.]: Springer, S. 1–24. https://doi.org/10.1007/978-1-4612-4964-1_1.
- Seiffert-Brockmann, Jens; Weitzl, Wolfgang; Henriks, Magdalena (2018): Stakeholder engagement through gamification. In: Journal of Communication Management, Heft 1, Jg. 22, S. 67–78. https://doi.org/10.1108/JCOM-12-2016-0096.
- Thaler, Richard H.; Sunstein, Cass R. (2021): Nudge: The final edition (Updated edition). London: Penguin Books.
Zitiervorschlag
Seiffert-Brockmann, Jens (2023): Gamification. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 16.02.2023. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/gamification.
DiskursGlossar
Grundbegriffe
Diskurssemantische Verschiebung
Mit dem Begriff der diskurssemantischen Verschiebung wird in der Diskursforschung ein Wandel in der öffentlichen Sprache und Kommunikation verstanden, der auf mittel- oder län-gerfristige Veränderung des Denkens, Handelns und/oder Fühlens größerer Gesellschafts-gruppen hinweist.
Domäne
Der Begriff der Domäne ist aus der soziologisch orientierten Sprachforschung in die Diskursforschung übernommen worden. Hier wird der Begriff dafür verwendet, um Muster im Sprachgebrauch und kollektiven Denken von sozialen Gruppen nach situationsübergreifenden Tätigkeitsbereichen zu sortieren.
Positionieren
Positionieren ist Grundbestandteil menschlicher Kommunikation. Wann immer wir miteinander interagieren und kommunizieren, bringen wir uns selbst, andere und die Objekte, über die wir sprechen, in bestimmte Relationen zueinander.
Deutungsmuster
Unter einem Deutungsmuster wird die problem- und lösungsbezogene Interpretation gesellschaftlicher und politischer Tatbestände verstanden, die Aussicht auf Akzeptanz in sozialen Gruppen hat. Der Begriff des Deutungsmusters hat Ähnlichkeit mit den Begriffen der Theorie und Ideologie. Meist werden gesellschaftlich verbreitete Leitdeutungen, die oft mit Schlagwörtern und Argumentationsmustern einhergehen (wie Globalisierung, Kapitalismus, Leistungsgesellschaft, Chancengleichheit etc.) als Beispiele für Deutungsmuster genannt.
Sinnformel
‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und ähnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.
Praktik
Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes Bündel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrücken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).
Kontextualisieren
Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.
Narrativ
Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.
Argumentation
Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Techniken
Dogwhistle
Unter Dogwhistle wird in Teilen der Forschung eine doppeldeutige Äußerung verstanden, die eine offene und eine verdeckte Botschaft an jeweils eine Zuhörerschaft kommuniziert.
Boykottaufruf
Der Boykottaufruf ist eine Maßnahme, die darauf abzielt, ein Ziel, also meist eine Verhaltensänderung des Boykottierten, hervorzurufen, indem zu einem Abbruch etwa der wirtschaftlichen oder sozialen Beziehungen zu diesem aufgefordert wird.
Tabuisieren
Das Wort Tabuisierung bezeichnet die Praxis, etwas Unerwünschtes, Anstößiges oder Peinliches unsichtbar zu machen oder als nicht akzeptabel zu markieren. Das Tabuisierte gilt dann moralisch als unsagbar, unzeigbar oder unmachbar.
Aus dem Zusammenhang reißen
Das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen gehört in den Funktionskreis der Redewiedergabe bzw. der Wiedergabe kommunikativer Ereignisse. Es kann (1) als intentionale argumentativ-polemische Strategie für ganz unterschiedliche diskursive Zielsetzungen von Akteuren genutzt werden, oder (2) es kann SprecherInnen und SchreiberInnen in unbeabsichtigter, fehlerhafter Weise unterlaufen.
Lobbying
Lobbying ist eine Form strategischer Kommunikation, die sich primär an Akteure in der Politik richtet. Beim Lobbying wird ein Bündel von kommunikativen Tätigkeiten mit dem Ziel eingesetzt, die Entscheidungen von Personen mit politischem Mandat oder den Entstehungsprozess von neuen Gesetzestexten interessengeleitet zu beeinflussen.
Karten
Karten dienen dazu, Raumausschnitte im Hinblick auf ausgewählte Charakteristika so darzustellen, dass die Informationen unmittelbar in ihrem Zusammenhang erfasst und gut kommuniziert werden können. Dazu ist es notwendig, Daten und Darstellungsweisen auszuwählen und komplexe und oft umkämpfte Prozesse der Wirklichkeit in einfachen Darstellungen zu fixieren.
Pressemitteilung
Pressemitteilungen sind standardisierte Mitteilungen von Organisationen, die sich an Journalist:innen und andere Multiplikator:innen richten. Sie dienen der offiziellen und zitierfähigen Informationsweitergabe und übernehmen zugleich strategische Funktionen in der öffentlichen Kommunikation und Meinungssteuerung.
Shitstorm
Der Begriff Shitstorm beschreibt eine relativ junge Diskurskonstellation, die seit den 2010er Jahren an Bedeutung gewonnen hat und gemeinhin als Online-Wutausbruch bezeichnet wer-den kann.
Tarnschrift
Als Tarnschrift bezeichnet man unter den Bedingungen von Zensur und Verfolgungsrisiko veröffentliche Texte, die insbesondere in der strategischen Kommunikation des NS-Widerstands eine zentrale Rolle spielten.
Ortsbenennung
Die Benennung von Orten dient in erster Linie dazu, den jeweiligen geografischen Ort zu lokalisieren und ihn zu identifizieren. Doch Ortsnamen besitzen eine soziale Dimension und spielen eine entscheidende Rolle bei der sprachlich-kulturellen Identitätskonstruktion.
Schlagwörter
Echokammer
Der Begriff der Echokammer steht in seiner heutigen Verwendung vor allem im Zusammenhang mit der Nutzung Sozialer Medien. Er verweist metaphorisch auf einen digitalen Kommunikations- und Resonanzraum, in dem Mediennutzer*innen lediglich Inhalten begegnen, die ihre eigenen, bereits bestehenden Ansichten bestätigen, während abweichende Perspektiven und Meinungen ausgeblendet bzw. abgelehnt werden.
Relativieren
Der Ausdruck relativieren besitzt zwei zentrale Bedeutungsvarianten: In bildungssprachlichen und wissenschaftlichen Kontexten bezeichnet er eine analytische Praxis, bei der Aussagen, Begriffe oder Phänomene durch Bezugnahme auf andere Sachverhalte eingeordnet, differen-ziert und in ihrer Geltung präzisiert werden.
Massendemokratie
Geprägt wurde der Begriff Massendemokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von völkisch-konservativen Akteuren (prominent darunter Carl Schmitt 1926). Der Ausdruck Masse hatte damals bei den bürgerlichen Eliten eine rundum bedrohliche Assoziation.
Social Bots
Als Social Bots werden Computerprogramme bezeichnet, die in der Lage sind, in sozialen Medien Kommunikation menschlicher Nutzer*innen (teilweise) automatisiert nachzuahmen.
Kriegsmüdigkeit
Der Ausdruck Kriegsmüdigkeit bezeichnet die emotionale und physische Erschöpfung von Menschen, die einen Krieg erleben, sowie die gesellschaftliche und politische Ermüdung angesichts langanhaltender Konflikte. Er beschreibt den sinkenden Kampfeswillen bei Kriegsparteien und heute wird er auch für das wachsende Desinteresse an Kriegsthemen in Medien und Öffentlichkeit genutzt.
Woke
Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunächst den Bewusstseinszustand der Aufgeklärtheit über die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.
Identität
Unter Identität versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.
Wohlstand
Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.
Remigration
Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.
Radikalisierung
Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.
Verschiebungen
Dehumanisierung
Mit Dehumanisierung bzw. Anthropomorphisierung werden solche kommunikativen Techniken und Praktiken bezeichnet, die Personen, Sachverhalten oder Gegenständen menschliche Eigenschaften ab- bzw. zusprechen. Dehumanisierung und Anthropomorphisierung können sowohl durch sprachliche Mittel als auch durch andere, z. B. bildliche, Zeichen vollzogen werden.
Kriminalisierung
Kriminalität meint ein Verhalten, das gegen ein Gesetz verstößt. Folglich bedeutet Kriminalisierung im engeren Sinne den Vorgang, durch den Verhalten ungesetzlich gemacht wird – indem Gesetze geschaffen werden.
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Partizipatorischer Diskurs
Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.
DiskursReview
Review-Artikel
Musk, Zuckerberg, Döpfner – Wie digitale Monopole die Demokratie bedrohen und wie könnte eine demokratische Alternative dazu aussehen?
Die Tech-Milliardäre Musk (Tesla, X,xAI) Zuckerberg (Meta), Bezos (Amazon) oder Pichai (Alphabet) sind nicht Spielball der Märkte, sondern umgekehrt sind die Märkte Spielball der Tech-Oligopolisten geworden.
Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im Europäischen Parlament
Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ für die Erweiterung der militärischen Ausstattung und der Verlängerung des Krieges aussprachen. Vorschläge oder Vorstöße auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)
Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit
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Die Macht der Worte 2/4: Freund-Feind-Begriffe
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Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen
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Relativieren – kontextualisieren – differenzieren
Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.
Wehrhafte Demokratie: Vom Wirtschaftskrieg zur Kriegswirtschaft
Weitgehend ohne Öffentlichkeit und situiert in rechtlichen Grauzonen findet derzeit die Militarisierung der ursprünglich als „Friedensprojekt“ gedachten EU statt.
Tagung 2025: „Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung und Delegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen
„Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung undDelegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen Tagung der Forschungsgruppe Diskursmonitor Tagung: 04. bis 5. Juni 2025 | Ort: Freie Universität Berlin...
„Remigration“ – Ein Riss im Schleier der Vagheit. Diskursive Strategien rund um das Remigrationskonzept und die Correctiv-Recherchen
Die am 10. Januar veröffentlichte Correctiv-Recherche über ein rechtes Vernetzungstreffen in Potsdam sorgte für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und die größten Demonstrationen gegen Rechtsaußen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Im Fokus der Kritik…