DiskursGlossar
Argumentation
Kategorie: Grundbegriffe
Verwandte AusdrĂŒcke: Argumentieren, BeweisfĂŒhrung, BegrĂŒndung, Ăberredung, Diskussion, Rechtfertigung
Siehe auch: Topos, Wissen, Macht, Demokratie, Diskurskompetenz
Autor: Thomas Coendet
Version: 1.0 / Datum: 20.11.2024
InhaltsĂŒbersicht
Kurzzusammenfassung
Erweiterte BegriffserklÀrung
Beispiele
Literatur
Zitiervorschlag
Kurzzusammenfassung
Argumentation bezeichnet jene sprachliche TĂ€tigkeit, in der man sich mithilfe von GrĂŒnden darum bemĂŒht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine politische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klĂ€ren. Eine solche Klarstellung ist argumentativ, wenn sie nicht einfach feststellt, was der Fall ist, sondern darĂŒber aufklĂ€rt, warum etwas der Fall ist. Man argumentiert also nicht bereits, wenn man eine Antwort gibt. Argumentation hĂ€ngt wesentlich damit zusammen, dass eine Antwort mit dem Geben und PrĂŒfen von GrĂŒnden verknĂŒpft ist. RĂŒckblickend werden GrĂŒnde vorgebracht, um eine bestimmte Handlung zu rechtfertigen; vorausschauend wird versucht, jemanden von einer Sache zu ĂŒberzeugen. In beiden Situationen wird oft auf besondere Argumentationsmuster zurĂŒckgegriffen und so ist es fĂŒr das praktische Argumentieren hilfreich, diese zu kennen. Dabei handelt es sich beim Argumentieren im Kern um eine TĂ€tigkeit, die man nicht alleine, sondern zusammen mit anderen ausĂŒbt. Gerade dieser soziale Charakter der Argumentation bestimmt, inwieweit beim Argumentieren etwas VernĂŒnftiges herauskommt.
Erweiterte BegriffsklÀrung
Argumentation ist eine kommunikative TĂ€tigkeit, die GrĂŒnde fĂŒr die Richtigkeit einer Behauptung ĂŒber die Welt hervorbringt. Warum GrĂŒnde vorgebracht werden, kann ganz verschiedene Ursachen haben. Es mag daran liegen, dass es um die SozialvertrĂ€glichkeit des eigenen Verhaltens geht. Wer der Einladung auf ein Glas WeiĂwein ablehnend gegenĂŒbersteht, könnte einfach mit Nein Antworten. In vielen Situation wird man jedoch geneigt sein, dieses Angebot nicht schroff auszuschlagen, sondern die Ablehnung zu begrĂŒnden, z. B. Ein andermal, ich fahre noch oder vielleicht grundsĂ€tzlich, Nein Danke, ich trinke nicht. Das muss nicht das letzte Wort sein. Die GrĂŒnde mögen den Gastgeber nicht ĂŒberzeugen. Auf die grundsĂ€tzliche Ablehnung mag er erwidern: Zahlreiche Studien legen nahe, dass maĂvoller Rotweingenuss gesund ist. Dass dieses Argument nicht sticht, wird sogleich gesehen: Du hast mir aber WeiĂwein angeboten. Da hast Du Recht, ich hĂ€tte auch Rotwein. Und so mag sich ein Dialog ĂŒber die Vor- und Nachteile des Alkoholgenusses entfalten. Dieser Dialog könnte freilich auch in einem ganz anderen Kontext entstehen bzw. stehen â z. B. im Rahmen einer Podiumsdiskussion ĂŒber die sozialen Folgen des Alkoholkonsums; als Teil einer politischen Initiative, die den Alkoholverkauf an Jugendliche im Interesse der Industrie neu regeln will; oder als Teil einer philosophischen Erörterung, ob sich der Staat in die individuelle LebensfĂŒhrung einmischen dĂŒrfe oder gar mĂŒsse (vgl. Mill 1859; Chan 2000).
Die AnlĂ€sse zur Argumentation sind somit vielfĂ€ltig und ebenso sind es ihre Themen und Kontexte. Argumentiert wird nicht nur in politischen oder philosophischen Diskursen, sondern auch in der Forschung, im Recht, in Unternehmen, im Alltag, in UniversitĂ€ten und Schulen, etc. Man stellt das Produzieren und PrĂŒfen von GrĂŒnden in den Dienst so unterschiedlicher Fragen wie: Welche Nebenwirkungen sind mit diesem neuen Impfstoff verbunden? War der Angeklagte zur Tatzeit am Tatort? Sollen wir unsere Produktionsstandorte fĂŒr Computerchips von Asien nach Nordamerika zurĂŒckverlagern? Ist es fĂŒr die Familie besser, nach Berlin umziehen oder sollten wir in MĂŒnchen bleiben? Die Beispiele verdeutlichen, weshalb die argumentative Reflexion einer bestimmten Frage auch als TĂ€tigkeit verstanden wird, mit der wir uns in und gegenĂŒber der Welt zu orientieren suchen. Unsere Ăberlegungen sind darauf ausgerichtet zu bestimmen, wie wir und andere in der Welt handeln sollten (vgl. Raz 2022: 93).
Die wissenschaftliche Reflexion ĂŒber die Formen und Funktionen des Argumentierens als sprachliche, soziale TĂ€tigkeit ist heute ein weites Forschungsfeld und es widmet sich ihr eine Vielzahl von Disziplinen â namentlich die Linguistik, Soziologie, Philosophie, Psychologie, die Politik-, Erziehungs- und Rechtswissenschaft; und nicht zuletzt auch die Computerwissenschaft und Forschung zu KĂŒnstlicher Intelligenz (als ForschungsĂŒberblick: Dutilh Novaes 2022; Van Eemeren et al. 2014). Entsprechend vielfĂ€ltig fallen die Definitionen aus, worum es sich beim Argumentieren handelt (Ăbersicht bei Nickerson 2020: Kap. 1). Diese wissenschaftlich differenzierte Sicht auf das Argumentationsgeschehen ist eine vergleichsweise junge Entwicklung. FĂŒr die lĂ€ngste Zeit verteilte sich die Argumentationslehre auf zwei Grundbereiche: Logik und Rhetorik.
(a) Logik beschĂ€ftigt sich mit der Form eines Arguments. Wir können anhand der formalen Logik ĂŒberprĂŒfen, was wir alles behaupten, wenn wir eine bestimmte Behauptung aufstellen. Wenn wir erstens behaupten, dass alle Menschen sterblich sind (Obersatz), und zweitens, dass Sokrates ein Mensch ist (Untersatz), dann behaupten wir auch, dass Sokrates sterblich ist (Schlussfolgerung). Diese Schlussfolgerung ist dann ,logisch zwingendâ, wie man im Alltag sagen wĂŒrde. Logische Ăbersicht ist fĂŒr die ArgumentationstĂ€tigkeit durchaus hilfreich und wichtig (vgl. Bieri 2007: 338). Doch formale Logik reicht nicht hin, um die weltlichen Orientierungsprobleme zu lösen, die wir oben skizziert haben. Betrachten wir als Beispiel ein rein logisches Argument zur Lohngerechtigkeit. Aus der PrĂ€misse, dass MĂ€nner mehr verdienen sollen als Frauen, folgt, dass Michael mehr verdienen soll als Michelle, sofern Michael ein Mann und Michelle eine Frau ist. Diese Schlussfolgerung ist logisch einwandfrei, geht aber an der Sache vorbei. Es ist unschwer einzusehen, dass das Problem des Arguments in seiner PrĂ€misse liegt und nicht in der formalen Richtigkeit seiner Schlussfolgerung. Der ,logische Zwangâ eines Arguments hat demnach etwas TrĂŒgerisches. Nicht ĂŒberraschend hat das gerade die kritische Sozialphilosophie erkannt: âwelches zutiefst verkehrte theoretische Gebilde vermöchte nicht schlieĂlich die Forderung formaler Richtigkeit zu erfĂŒllen!â (Horkheimer 2011: S. 197) Anders gesagt: Logik liefert keine hinreichenden BegrĂŒndungen, denn wir thematisieren mit ihr ein Argument lediglich in formaler und nicht in inhaltlicher Hinsicht. Diese grundlegende Einsicht geht in der modernen Argumentationstheorie auf die bahnbrechende Untersuchung von Stephen Toulmin in âThe Uses of Argumentâ (1958) zurĂŒck.
(b) Die Rhetorik als Kunst der wirkungsvollen Rede hat wiederum ihre eigenen Probleme. Zwar ist sie die historische Quelle fĂŒr verschiedene Argumentationsmuster, die wir auch heute noch verwenden. Sie hat aber ihre Schwachstelle, die sich wie bei der Logik mit dem VerhĂ€ltnis von Inhalt und Form rekonstruieren lĂ€sst. Wenn wir sagen, etwas sei ,leere Rhetorikâ, heben wir darauf ab, dass einer Rede oder Darlegung der Sachbezug verloren gegangen ist. Die Rhetorik kommt so in den Verdacht, eine Technik zu sein, die nichts mit dem Inhalt der Rede zu tun habe: was vertreten wird, ist einerlei; ausschlaggebend ist lediglich, wie es vertreten wird, nĂ€mlich wirkungsvoll. Von da ist es nur ein kleiner Schritt, rhetorische Stilmittel und Redeformen als Instrument der Manipulation zurĂŒckzuweisen. Solch ein VerstĂ€ndnis und Urteil ĂŒber die Rhetorik findet sich namentlich bei Immanuel Kant. Ihm zufolge eignet der Rhetorik der Schatten einer âhinterlistigen Kunstâ, die âdie Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewegen versteht [âŠ]â. Sie sei, so Kant weiter, âals Kunst, sich der SchwĂ€chen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen [âŠ] gar keiner Achtung wĂŒrdig.â (Kant 1957: § 53, Anm. B 218) Die Politik beweist bis heute, dass diese EinschĂ€tzung nicht unbegrĂŒndet ist. Man erkennt die rhetorische Hinterlist und manipulative Steuerung von Menschen als Maschinen besonders eindrucksvoll in der Sportpalastrede von Joseph Goebbels (1943), in der er die Deutschen auf den totalen Krieg einschwor. Doch selbst aus diesem abgrĂŒndigen Beispiel folgt nicht, dass die Rhetorik deshalb notwendigerweise eine verwerfliche Kunst sei. So hat sich zur gleichen Zeit Thomas Mann in seinen Radioansprachen âDeutsche Hörer!â (1940â45) einer Sprache bedient, der es durchaus auch auf den Effekt ankam, die Nazi-Propaganda mit ihren eigenen rhetorischen Mitteln zu bekĂ€mpfen (Borchmeyer 2022: 1065â1066). Rhetorisch versierte Reden wurden dann ebenfalls von Martin Luther King Jr. und Barack Obama gehalten. Und an deren Beispiel erkennt man gerade umgekehrt die positive Bedeutung der FĂ€higkeit, eine politische Botschaft motivierend vermitteln zu können. Problematisch wird Rhetorik erst dort, wo sie die rationale Argumentation nicht mehr begleitet und unterstĂŒtzt, sondern sie ersetzt. Hier erst eröffnet sie ihr Potential fĂŒr Demagogie und Populismus (zum Ganzen Uhlmann 2019: 267, 271, 300 insbes.).
Dieser historisch-begriffliche Abriss zum VerhĂ€ltnis von Logik, Rhetorik und Argumentation macht deutlich: Gute Argumentation kann sich nicht im formalistischen oder effektvollen Gebrauch bestimmter Schluss- und Redeformen erschöpfen. Zwar gehen logische und rhetorische Formen in die argumentative TĂ€tigkeit ein; sie reichen aber nicht aus. Damit stellt sich die Frage, worin ,guteâ Argumentation dann ihren normativen MaĂstab findet. Im Schrifttum liest man nicht selten, dass Argumentation sich um die rationale Erörterung eines Problems zu bemĂŒhen habe. RationalitĂ€t ist dabei ein schwieriges Stichwort. Es lĂ€sst sich mit der bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel entwickelten Unterscheidung von Verstand und Vernunft prĂ€zisieren. Hegel zufolge beruht unser rationales Urteilsvermögen in einer Sache zwar auf der FĂ€higkeit, rechenhaft mit Regeln umgehen und diskret zwischen wahr und falsch unterscheiden zu können. Darin liege allerdings erst ein Verstandesgebrauch, wie er heute auch von Computern und Robotern teilweise simuliert werden kann. Die Welt und Lebenswelt des Menschen sind in ihrer KomplexitĂ€t und Mannigfaltigkeit ĂŒber solche Schematisierungen jedoch immer bereits hinaus und widersprechen ihnen nicht selten. Die vernĂŒnftige Erörterung in weltbezogenen Orientierungsproblemen muss daher ĂŒber die rein verstandesmĂ€Ăige Anwendung von angelernten Schemata und Regeln hinausgehen (vgl. Stekeler 2020: 32â34). Man kann das auch so ausdrĂŒcken, dass vernĂŒnftige Argumentation sich nicht in der Kenntnis und im kompetenten Anwenden von Argumentationsmustern erschöpfen kann. Vernunft steht nicht fĂŒr eine Checkliste, die man abarbeiten kann. Damit verbleibt man auf der Ebene eines formalistisch denkenden Alltagsverstands oder ,common senseâ, der sich darĂŒber tĂ€uscht, dass vernĂŒnftige Orientierungsbildung ein nie abgeschlossenes Verfahren ist. Es lĂ€sst sich deshalb nicht in feststehenden Schlussformen fixieren, sondern setzt ein freies Urteil im Rahmen einer guten kooperativen und kommunikativen Praxis voraus (siehe Stekeler 2020: 73).
Auf argumentative Vernunft zu setzen, heiĂt, dass man es der Menschheit zutraut, durch das Produzieren und PrĂŒfen von GrĂŒnden zu besserer Einsicht zu gelangen. Damit das funktioniert, mĂŒssen Argumente eine Ăberzeugungskraft besitzen, die sich auch gegen intellektuelle WiderstĂ€nde durchsetzt. Diese Kraft kann sich, wie wir gesehen haben, nicht in logischem Zwang erschöpfen, denn dazu braucht es allseits geteilte PrĂ€missen. Auf der anderen Seite können wir argumentative Ăberzeugungskraft auch nicht am rhetorischen Erfolg festmachen: BloĂe Ăberredungskunst ist nicht vernĂŒnftige Argumentation. Worum es tatsĂ€chlich geht, hat JĂŒrgen Habermas in der berĂŒhmten Formel des âeigentĂŒmlich zwanglosen Zwangs des besseren Argumentesâ festgehalten (Habermas 1973: 240). Lassen sich die Bedingungen dieses eigentĂŒmlichen Zwangs nĂ€her erfassen, um zu bestimmen, was gute Argumentation ist? Gibt es womöglich ein ideales Verfahren, das zu einer ĂŒberzeugungskrĂ€ftigen Argumentation fĂŒhrt?
Perelman und Olbrechts-Tyteca (1958) haben den bekannten Vorschlag gemacht, danach zu unterscheiden, an welches Auditorium sich eine Argumentation wende. Ein Auditorium sei âpartikularâ, wenn es aus einer bestimmten Person oder Gruppe von Personen bestehe, oder es sei âuniversalâ, wenn ihm alle vernunftbegabten Personen angehörten. Wer sich an ein partikulares Auditorium richte, könne allenfalls ,ĂŒberredenâ; wer ein universales Auditorium adressiere, könne auch ,ĂŒberzeugenâ. Ăberzeugungskraft erreicht eine Argumentation in diesem Theoriemodell somit, indem sie sich an ein als universell gedachtes Auditorium richtet. Habermas selbst hat vorgeschlagen, sich am Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses zu orientieren. Ein solcher Diskurs erlaube es allen Beteiligten, sich gleichberechtigt zur verhandelten Sache zu Ă€uĂern. In dieser sog. âidealen Sprechsituationâ solle das Geben und Nehmen von GrĂŒnden zum Konsens ĂŒber die richtige Antwort in einer Frage fĂŒhren. Habermas (1992) sieht die Bedingungen fĂŒr einen herrschaftsfreien Diskurs in wesentlichen Teilen in einem demokratischen Rechtsstaat realisiert. Die Argumentation ĂŒber gesellschaftliche Probleme in den Institutionen des demokratischen Rechtsstaats fĂŒhrt gemÀà dieser Theorie zu Ergebnissen, die inhaltliche Ăberzeugungskraft (,veritasâ) und politisch-rechtliche Verbindlichkeit (,auctoritasâ) auf sich vereinigen.
Die Theorien von Perelman und Habermas fĂŒhren das normative Erbe einer aufklĂ€rerischen Vernunft fort. Welche Orientierung aber stiften sie fĂŒr unsere Argumentationspraxis? Das sei in diesem Absatz zumindest kurz angedeutet. Wer in einer Echokammer der sozialen Medien argumentiert, wird wenig Schwierigkeiten haben, Konsens ĂŒber seine Thesen zu erzielen. Gute bzw. vernĂŒnftige Argumentation findet ihren MaĂstab jedoch nicht am partikularen Auditorium einer Echokammer. FĂŒr eine ĂŒberzeugende Antwort auf die verhandelte Frage kann es auf ein solch partikulares Auditorium nicht ankommen, sondern die Antwort muss sich vernĂŒnftigerweise auf Dialogpartner jenseits der Echokammer universalisieren lassen. Auch das optimistische Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses, in dem man sich um ein rationales Geben und Nehmen von GrĂŒnden bemĂŒht, ist erinnerungswĂŒrdig, wenn politisch gesellschaftliche Auseinandersetzungen sich auf einen ,Schreikampfâ zwischen unversöhnlichen Gruppen reduzieren. Und dass man am Rechtsstaat als institutioneller Bedingung fĂŒr ein solches diskursiv-argumentatives Ideal festhalten sollte, wird in einer Zeit âdemokratischer Rezessionâ ebenfalls deutlich (zu dieser Rezession: Carothers and Press 2022).
Ob sich Menschen tatsĂ€chlich durch GrĂŒnde zur besseren Einsicht und Entscheidung bewegen lassen, wird in der psychologischen Forschung hingegen skeptisch beurteilt. Diese zeigt ganz grundsĂ€tzlich, dass menschliches Handeln regelmĂ€Ăig dem Ideal eines rationalen Entscheidens widerspricht (vgl. Kahneman 2003). Sie zeigt weiter, dass menschliches ,Nachdenkenâ vielfach und vielfĂ€ltig dazu neigt, bereits ,Vorgedachtesâ einfach zu bestĂ€tigen, anstatt es kritisch zu prĂŒfen und zu hinterfragen (vgl. Nickerson 1998). Die Forschung zur Moralpsychologie insbesondere legt nahe, dass wir nicht von Natur aus darauf aus sind, ein moralisches Problem unbefangen und ergebnisoffen entsprechend der relativen StĂ€rke der Argumente zu erörtern. Was jemand als moralisch richtig erachtet, wird vielmehr zunĂ€chst intuitiv ermittelt. Die Intuition orientiert sich dabei vor allem an Eigen- und teilweise an Gruppeninteressen. Rationales Ăberlegen stehe dann erst an zweiter Stelle und diene dazu, das intuitiv bereits festgelegte Ergebnis zu rechtfertigen (vgl. Haidt 2012). Kann man vor diesem Hintergrund noch auf den âzwanglosen Zwang des besseren Argumentsâ vertrauen? Oder ist es ein naiver Gedanke, man könne durch Argumentation zu besserer Einsicht und tragfĂ€higen Entscheidungen gelangen?
Von diesen Fragen hĂ€ngt einiges ab, wenn wir uns die Bereiche vergegenwĂ€rtigen, in denen wir unsere menschliche Existenz mit GrĂŒnden verknĂŒpfen â Politik, Recht, Moral, Forschung, Erziehung, Wissenschaft, Wirtschaft etc. Es hat etwas ĂŒberaus RĂ€tselhaftes, dass der menschlichen Vernunft soviel zugetraut wird, wenn sie gleichzeitig dermaĂen fehleranfĂ€llig sein soll. In einem einflussreichen Buch haben sich die Evolutionspsychologen Hugo Mercier und Dan Sperber (2017) diesem RĂ€tsel angenommen. Ihre These lautet, dass sich Vernunft als spezifisch menschliche FĂ€higkeit entwickelte, die es hauptsĂ€chlich mit dem Produzieren und PrĂŒfen von GrĂŒnden zu tun hat. Vernunft sei also primĂ€r eine argumentative KapazitĂ€t. Menschen setzen diese dazu ein, ihre komplexen Kooperations- und Kommunikationsprobleme zu lösen. Das erklĂ€rt, warum GrĂŒnde in so vielen und zentralen Bereichen des sozialen Lebens auftauchen. Gleichzeitig sei Vernunft funktional an diese soziale menschliche TĂ€tigkeit angepasst. Wie sie funktioniert, mĂŒsse man deshalb vor dem Hintergrund verstehen, dass sie sich in der sozialen Interaktion von Menschen bewĂ€hren muss â und nicht im Elfenbeinturm des fĂŒr sich alleine rĂ€sonierenden Philosophen.
Mercier und Sperber tragen die Ergebnisse einer ĂŒberaus reichhaltigen Forschung zusammen, die eine Doppelgesichtigkeit der Vernunft entlang der Unterscheidung von Produktion und PrĂŒfen von GrĂŒnden nahelegen (2017: 235). Wenn es um das eigene Produzieren von GrĂŒnden gehe, neigten Menschen erstens dazu, GrĂŒnde zu finden, die ihre eigene Sache stĂŒtzen (,myside biasâ) und zweitens, seien sie hinsichtlich der QualitĂ€t dieser GrĂŒnde eher anspruchslos; kurz: sie investieren nicht mehr gedankliche Arbeit als fĂŒr ihre Sache nötig. FĂ€higkeiten, die objektive QualitĂ€t der GrĂŒnde fĂŒr sich sprechen zu lassen, zeigten sich hingegen, wenn es um das PrĂŒfen von GrĂŒnden anderer gehe. Als EmpfĂ€nger seien Menschen einerseits anspruchsvoll, was die QualitĂ€t der vorgebrachten GrĂŒnde angehe. Andererseits seien sie jedoch durchaus bereit, selbst GrĂŒnde anzuerkennen, die ihrer Ansicht widersprechen, sofern sie diese nach kritischer PrĂŒfung als durchschlagend erachten. Der âzwanglose Zwang des besseren Argumentsâ ist gemÀà dieser Forschung also nicht ohne empirische Grundlage (vgl. Mercier and Sperber 2017: 264).
Das Doppelgesicht der Vernunft:
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Tendenz |
QualitÀtskontrolle |
Produktion eigener GrĂŒnde |
Verzerrend Produktion von GrĂŒnden, die die eigene Ansicht stĂŒtzen |
Anspruchslos Eigene GrĂŒnde werden zurĂŒckhaltend ĂŒberprĂŒft |
PrĂŒfen von GrĂŒnden anderer |
Objektivierend Starke Argumente werden akzeptiert, selbst wenn sie der eigenen Ansicht widersprechen |
Anspruchsvoll AnsprĂŒche bezĂŒglich der QualitĂ€t von GrĂŒnden anderer sind entschieden höher |
Wenn GrĂŒnde die soziale Funktion haben, das eigene Verhalten vor Anderen zu rechtfertigen bzw. Andere von einer Sache zu ĂŒberzeugen, dann ist eine Konzentration auf GrĂŒnde erwartbar, die die eigene Sache stĂŒtzen. Nachvollziehbar ist dann auch, dass nicht in jeder Situation alle möglichen Argumente vorgebracht werden, sondern man sich effizienter verhĂ€lt â wenn die BegrĂŒndung Ich trinke nicht ausreicht, muss sich das nicht zu einer Grundsatzdiskussion um Alkoholgenuss auswachsen. Auf der anderen Seite kann solche Verzerrung und Sparsamkeit in der Argumentation nur dann funktionieren, wenn Menschen die GrĂŒnde von anderen kritisch ĂŒberprĂŒfen; es wĂ€re sonst viel zu riskant, sich auf GrĂŒnde zu verlassen. Eine gewisse Objektivierung dieser PrĂŒfung ist ebenfalls erwartbar: Argumente haben nur dann einen sozialen Sinn, wenn sich gute Argumente prinzipiell auch durchsetzen können â sonst wĂŒrde man immer gleich zu anderen Mitteln greifen, um eigene Interessen durchzusetzen oder sozial erwĂŒnschtes Verhalten zu motivieren.
Aus dieser Forschung ergibt sich allerdings nicht, dass Konsens garantiert und gleichzeitig die Richtigkeit eines Argumentationsergebnisses anzeigen könnte â denn der ,myside biasâ setzt sich mitunter fort, wenn es um die Produktion von Gegenargumenten geht. Angesichts der erwĂ€hnten, weithin bekannten Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft, gilt es jedoch hervorzuheben, dass Argumentation durchaus bessere Einsicht und Entscheide befördern kann. Entscheidend dafĂŒr ist jedoch, dass der soziale Charakter und die soziale Dynamik des Argumentierens erkannt werden. âDerjenige, der nur seine eigene Seite der Sache weiĂ, weiĂ wenig von dieserâ (Mill 1859: 67). Gute Argumentation lebt vom echten Dialog. Ihr Ur- und Leitbild findet sie nicht in Rodins romantischer Skulptur Der Denker, sondern in Raffaels Renaissance-Fresco Die Schule von Athen.
Beispiele
Als Beispiel dient ein fiktives, doch prototypisches StreitgesprĂ€ch zum Ukraine-Krieg: Zwei deutsche Freunde (A und B) streiten im MĂ€rz 2022 ĂŒber die russische Invasion der Ukraine. A hat in den USA studiert und verficht den russischen Angriffskrieg als völkerrechtlich illegal, da er die russische Propaganda fĂŒr ein LĂŒgengebĂ€ude erachtet. Er macht sich fĂŒr die militĂ€rische UnterstĂŒtzung der Ukraine stark: Es sei moralische Pflicht, einem Angegriffenen zu helfen. B ist ĂŒberzeugter Pazifist und gibt wenig auf die USA als politisches und kulturelles Vorbild. Sympathien bekundet er hingegen fĂŒr die russische Sprache, Musik und Literatur. B argumentiert, dass Widerstand zwecklos sei: Russland sehe sich legitimerweise durch die Nato bedroht, nachdem diese ihr Versprechen gebrochen habe, sich keinen Zentimeter nach Osten zu erweitern.
A und B vertreten unterschiedliche Positionen zur Einordnung und Bewertung des Krieges und der Kriegsbeteiligten. Sie bringen GrĂŒnde vor, die ihre eigene Position stĂŒtzen. A argumentiert in rechtlichen und moralischen Kategorien: referenziert das Völkerrecht bzw. behauptet eine Beistandspflicht; B setzt praktisch und politisch an: bezieht sich einerseits auf die militĂ€rische Sinnhaftigkeit des Widerstands bzw. andererseits auf ein angebliches Nato-Versprechen. Die argumentative Position innerhalb dieser vier Kategorien ist bei A und B durch ihren je besonderen biographischen Hintergrund und Habitus geprĂ€gt. Insgesamt zeichnen sich beide Positionen durch einen durchaus typischen myside bias sowie dadurch aus, dass sie das argumentative Potential beiderseits nicht ausschöpfen, was ebenfalls normal ist. Daraus ergeben sich LĂŒcken und Fehler in der Argumentation, die sich entlang der genannten Kategorien bespielhaft analysieren lassen.
- IllegalitĂ€t der Invasion: Ein Krieg ist völkerrechtlich nicht illegal, weil er auf einer PropagandalĂŒge beruht, sondern weil keine der in den Art. 42 und 51 der UN-Charta vorgesehenen Ausnahmen vom militĂ€rischen Gewaltverbot vorliegen. Anders formuliert, selbst aus einer zutreffenden politischen Beobachtung folgt nicht die rechtliche Beurteilung. Letztere misst sich an rechtlichen Kriterien. A muss sein Argument somit nachjustieren, behĂ€lt aber in der Sache Recht, da bis heute keine entsprechenden AusnahmegrĂŒnde auszumachen sind.
- Moralische Beistandspflicht? Dass Deutschland moralisch verpflichtet sei, der Ukraine militĂ€risch beizustehen, lĂ€sst sich als Argument durchaus hören. Man wird jedoch ĂŒber ein solches Prinzip und seine Reichweite wesentlich eingehender diskutieren mĂŒssen. Dass A nicht bereits mit einer solchen eingehenden BegrĂŒndung in die Diskussion einsteigt, ist durchaus ĂŒblich. Die praktisch-tatsĂ€chliche Hilfeleistung ist dann nochmals eine andere, insbesondere politische Frage. Sie gilt es in den dafĂŒr vorgesehenen staatlichen Institutionen, aber auch zivilgesellschaftlich argumentativ zu erörtern. Insoweit ist auch die Debatte zwischen A und B relevant.
- Widerstand ist zwecklos? Man mag Bâs pazifistische Ăberzeugungen und kulturelle Vorlieben teilen â oder auch nicht. Sie sind jedenfalls keine PrĂ€missen, aus denen sich irgendetwas dazu ableiten lieĂe, ob Widerstand militĂ€risch praktisch zwecklos sei. Aus einer pazifistischen Grundhaltung heraus könnte man allenfalls behaupten, dass waffenmĂ€Ăiger Widerstand selbst zur Verteidigung abzulehnen sei. Nur Wenige werden eine solche Extremposition einnehmen wollen. Die Mehrheit wird geltend machen, dass es einem Angegriffenen moralisch zusteht, sich wirksam zu verteidigen â was im Kriegsfall nur militĂ€risch erfolgen kann. Sie wird weiter darauf hinweisen, dass die UN-Charta ein Selbstverteidigungsrecht fĂŒr den Fall eines bewaffneten Angriffs ausdrĂŒcklich vorsieht; militĂ€rische Selbstverteidigung ist damit auch rechtlich erlaubt.
- Keinen Zentimeter nach Osten? Am Recht zur Selbstverteidigung Ă€ndert auch das von B vorgebrachte Argument, eines angeblichen Versprechens hinsichtlich der Nato-Osterweiterung nichts. Anders als B suggeriert, hat dieses ebenfalls nichts damit zu tun, ob Widerstand militĂ€risch Sinn ergibt. Es handelt sich vielmehr um eine historische These, die der russische Staat zur politischen Rechtfertigung seines Angriffs aufgestellt hat. Auch von dieser politisch-historischen Argumentation ist zu erwarten, dass sie einem myside bias unterliegt und es mit ihrer Richtigkeit nicht so genau nimmt. Eine kritische ĂberprĂŒfung, ob sich diese These halten lĂ€sst, wird von anderer Seite kommen mĂŒssen. Das ist auch ohne weiteres möglich: Es handelt sich bei dieser historischen These nicht um eine nicht sinnvoll hinterfragbare Geschmacks- oder Glaubensfrage, sondern um eine Behauptung, die sich quellenmĂ€Ăig erschlieĂen und ĂŒberprĂŒfen lĂ€sst. Man hat das getan: die These gilt heute als widerlegt (siehe Sarotte 2021).
Was wir hier beispielhaft analysiert und simuliert haben, vollzieht sich idealerweise in einer tatsĂ€chlichen argumentativen Auseinandersetzung. Gute Argumentation zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Teilnehmer im Dialog um die KlĂ€rung, Verbesserung und Anpassung ihrer Argumente und Thesen kĂŒmmern, selbst wenn die Divergenzen zunĂ€chst unĂŒberwindbar erscheinen. FĂŒr dieses dialogische Ideal spricht auch die empirische Tatsache, dass Argumentierende ĂŒblicherweise wesentlich objektiver und kritischer sind, wenn es um die PrĂŒfung von GrĂŒnden anderer geht, wĂ€hrend die Produktion von eigenen GrĂŒnden oft verzerrend und vereinfachend erfolgt. Aus theoretischer Sicht spricht fĂŒr das Ideal des argumentativen Dialogs (bzw. Diskurses, wie Habermas sagen wĂŒrde), dass man Problem- und Konfliktlösungen wenn immer möglich ĂŒber Worte anstrebt. Der argumentative Dialog ĂŒberfĂŒhrt den Konflikt in einen Kampf um das bessere Argument â und das ist gemessen an der ,handfesten Alternativeâ nicht wenig.
Literatur
Zum Weiterlesen
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Mercier, Hugo, and Dan Sperber (2017): The Enigma of Reason. Cambridge: Harvard University Press.
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Schopenhauer, Arthur (1995): Die Kunst, Recht zu behalten. Frankfurt a. M.: Insel.
Zitierte Literatur
- Bieri, Peter (2007): Was bleibt von der analytischen Philosophie? In: Deutsche Zeitschrift fĂŒr Philosophie, Jg. 55, Heft 3, S. 333â344.
- Borchmeyer, Dieter (2022): Thomas Mann: Werk und Zeit. Berlin: Insel.
- Carothers, Thomas; Benjamin Press (2022): Understanding and Responding to Global Democratic Backsliding. Washington: Carnegie Endowment for International Peace.
- Chan, Joseph (2000): Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism. Philosophy & Public Affairs, Jg. 29, Heft 1, S. 5â42.
- Dutilh Novaes, Catarina (2022): Argument and Argumentation. In: Zalte, Edward N.; Nodelman, Uri (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Stanford University: Metaphysics Research Lab.
- Habermas, JĂŒrgen (1973): Wahrheitstheorien. In: Fahrenbach, Helmut (Hrsg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen: GĂŒnther Neske, S. 211â265.
- Habermas, JĂŒrgen (1992): FaktizitĂ€t und Geltung: BeitrĂ€ge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Haidt, Jonathan (2012): The Righteous Mind: Why Good People Are Divided by Politics and Religion. New York: Pantheon Books.
- Horkheimer, Max (2011): Traditionelle und kritische Theorie. In: Schmidt, Alfred (Hrsg.): Gesammelte Schriften. Band 4: Schriften 1936â1941. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.
- Kahneman, Daniel (2003): Maps of Bounded Rationality: Psychology for Behavioral Economics. In: American Economic Review, Jg. 93, Heft 5, S. 1449â1475.
- Kant, Immanuel (1957) Kritik der Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Mercier, Hugo; Sperber, Dan (2017): The Enigma of Reason. Cambridge: Harvard University Press.
- Mill, John Stuart (1859): On Liberty. 2. Aufl. London: John W. Parker.
- Nickerson, Raymond S. (1998): Confirmation Bias: A Ubiquitous Phenomenon in Many Guises. Review of General Psychology, Jg. 2, Heft 2, S. 175â220.
- Nickerson, Raymond S. (2020): Argumentation: The Art of Persuasion. Cambridge: Cambridge University Press.
- Perelman, ChaĂŻm; Olbrechts-Tyteca, Lucie (1958): TraitĂ© de lâargumentation: La nouvelle rhĂ©torique. Paris: Presses Universitaires de France.
- Raz, Joseph (2022): The Roots of Normativity. Heuer, Ulrike (Hrsg.). Oxford: Oxford University Press.
- Sarotte, Mary Elise (2021): Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate. New Haven: Yale University Press.
- Stekeler, Pirmin (2020): Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar. Bd. 1. Hamburg: Meiner.
- Toulmin, Stephen (1958): The Uses of Argument. Cambridge: Cambridge University Press.
- Uhlmann, Gyburg (2019): Rhetorik und Wahrheit: Ein prekÀres VerhÀltnis von Sokrates bis Trump. Stuttgart: J.B. Metzler.
- Van Eemeren, Frans H.; Garssen, Bart; Krabbe, Erik C. W.; Henkemans, A. Francisca Snoeck; Verheij, Bart; Wagemans, Jean H. M. (2014): Handbook of Argumentation Theory. Dordrecht: Springer Netherlands.
Zitiervorschlag
Coendet, Thomas (2024): Argumentation. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 20.11.2024. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/argumentation.
Grundbegriffe
Kontextualisieren
Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung fĂŒr FĂŒhrung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Diskurskompetenz
Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative FĂ€higkeit, lĂ€ngere zusammenhĂ€ngende sprachliche ĂuĂerungen wie ErzĂ€hlungen, ErklĂ€rungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.
Agenda Setting
Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, mĂŒssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.
Medien
Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage fĂŒr Meinungsbildung und Meinungsaustausch.
Macht
Macht ist die FĂ€higkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhĂ€ngig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, KrĂ€fteverhĂ€ltnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf WahrheitsansprĂŒche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.
Metapher
In der politischen Berichterstattung ist oft davon die Rede, dass eine bestimmte Partei einen Gesetzesentwurf blockiert. Weil das Wort in diesem Zusammenhang so konventionell ist, kann man leicht ĂŒbersehen, dass es sich dabei um eine Metapher handelt.
Normalismus
Normalismus ist der zentrale Fachbegriff fĂŒr die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers JĂŒrgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von âNormalitĂ€tâ und âAnormalitĂ€tâ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.
Wissen
Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprĂ€gt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt â vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.
Werbung
Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf EinfĂŒhrung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.
Techniken
Nicht-Entschuldigen / Nonpology
Mit der Nicht-Entschuldigung verfolgen Diskursakteure verschiedene Ziele: sie wollen Ablenken von der eigenen Schuld, erhoffen sich eine Reputationsverbesserung durch vorgespielte Reue oder wollen (andere) negative Konsequenzen abwenden und sich in der Ăffentlichkeit positiv als fehlereinsichtig und selbstkritisch darstellen.
Liken
Die eigentliche Funktion des Likens geht jedoch ĂŒber das Signalisieren von Zustimmung hinaus und ist konstitutiv fĂŒr das Funktionieren sozialer Medienplattformen und das Aushandeln von verschiedenen Formen der SozialitĂ€t auf diesen.
Hashtag
Mit dem Begriff Hashtag wird auf eine kommunikative Technik der spontanen Verschlagwortung und Inde-xierung von Postings in der Internetkommunikation verwiesen, bei der Sprache und Medientechnik sinnstif-tend zusammenwirken. Der Gebrauch von Hashtags hat eine diskursbĂŒndelnde Funktion: Er ermöglicht es, Inhalte zu kategorisieren (#Linguistik, #Bundestag), such- und auffindbar zu machen (#Bundestags-wahl2025), aber auch zu bewerten (#nicetohave) und zu kontextualisieren (#Niewiederistjetzt).
Diminutiv
Auch in Politik, Wirtschaft, Presse und Werbung werden Diminutiv-Formen zu rhetorischen Zwecken eingesetzt, um etwa emotionale NĂ€he zu konstruieren (unser LĂ€ndle), eine Person abzuwerten (die ist auch so ein SchĂ€tzchen), einen als âriskantâ geltenden Sachverhalt zu âverharmlosenâ (ein Bierchen) oder eine âSachverhaltsbanalisierungâ zurĂŒckzuweisen (Ihre âDemonstratiönchenâ).
SĂŒndenbock
Der SĂŒndenbock bezeichnet eine Person oder Gruppe, die stellvertretend fĂŒr etwas beschuldigt wird. Hinter dieser Schuldzuweisung steckt ein kommunikativer Mechanismus des Gruppenzusammenhalts, der sich in verschiedenen kulturellen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten durch Rituale, Mythen, ErzĂ€hlungen oder Verhalten manifestiert.
Redenschreiben
Wer Reden schreibt, bereitet die schriftliche Fassung von Reden vor, die bei besonderen AnlÀssen gehalten werden und bei denen es auf einen ausgearbeiteten Vortrag ankommt.
Offener Brief
Bei einem offenen Brief handelt es sich um eine strategische Praktik, die genutzt wird, um Anliegen einer Person oder Gruppe öffentlich sichtbar zu machen. Die Texte, die als offene Briefe bezeichnet werden, richten sich an eine Person oder Institution und werden ĂŒber Medien veröffentlicht.
Kommunikationsverweigerung
Unter dem Begriff Kommunikationsverweigerung lĂ€sst sich ein BĂŒndel von Praktiken und Strategien fassen, die den kommunikativen Austausch zu erschweren oder zu verhindern suchen.
Flugblatt
Unter FlugblĂ€ttern versteht man einseitige Druckerzeugnisse, die ursprĂŒnglich meist illustriert waren. Eng verwandt sind die mehrseitigen Flugschriften. WĂ€hrend Flugschriften und FlugblĂ€tter heute kostenlos verteilt werden oder zur Mitnahme ausliegen, wurden sie in der FrĂŒhen Neuzeit zunĂ€chst als Handelswaren verkauft und gingen so als frĂŒhe Massenmedien den Zeitungen voraus.
Passivierung
Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenĂŒber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden mĂŒssen, was beispielsweise in Gesetzestexten fĂŒr eine (gewĂŒnschte) gröĂtmögliche Abstraktion sorgt (âNiemand darf wegen seines Geschlechts [âŠ] benachteiligt oder bevorzugt werden.â Art. 3 GG).
Schlagwörter
Politisch korrekt / Politische Korrektheit
Der Ausdruck politisch korrekt / Politische Korrektheit und die amerikanischen Vorbilder politically correct /P.C. / Political Correctness (Gegenteile, etwa politisch unkorrekt etc., sind mitzudenken) reprĂ€sentieren ein seit den frĂŒhen Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts populĂ€res Deutungsmuster, mit dem weltanschauliche, Ă€sthetische und politische Konflikte berichtet/bewertet werden, meist zuungunsten der als politisch korrekt bezeichneten Positionen, denen man eine ĂŒberzogene, sowohl lĂ€cherliche als auch gefĂ€hrliche Moralisierung unterstellt.
Verfassung
Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht fĂŒr die höchste und letzte normative und LegitimitĂ€t setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen GrĂŒndungsakt eine Verfassung gibt.
ToxizitÀt / das Toxische
Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lĂ€sst sich zwar, dass sich die Bedeutung von âgiftigâ hin zu âschĂ€dlichâ erweitert hat, doch die UmstĂ€nde, unter denen etwas fĂŒr jemanden toxisch, d. h. schĂ€dlich ist, mĂŒssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.
Zivilgesellschaft
Im gegenwÀrtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezÀhlt.
Demokratie
Der Ausdruck Demokratie dient hĂ€ufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Ăffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.
Plagiat/Plagiarismus
Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die IllegitimitÀt dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.
Fake News
Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre AnhĂ€nger wechselseitig der LĂŒge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.
LĂŒgenpresse
Der Ausdruck LĂŒgenpresse ist ein politisch instrumentalisierter âSchlachtrufâ oder âKampfbegriffâ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird hĂ€ufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.
Antisemitismus
Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene PhĂ€nomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen JĂŒdinnen*Juden als JĂŒdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloĂen Distanzierung und Behauptung jĂŒdischer Andersartigkeit, ĂŒber vollstĂ€ndig ausgearbeitete Weltbilder, die JĂŒdinnen*Juden fĂŒr sĂ€mtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken.
Grammatiknazi / Grammar Nazi
Das ĂŒberwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi â als Ăbersetzung von engl. grammar nazi â wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den ĂuĂerungen anderer (hĂ€ufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen ĂŒben.
Verschiebungen
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen SicherheitsverstĂ€ndnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurĂŒckzufĂŒhren ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlĂ€ssig agieren.
Ăkonomisierung
Ăkonomisierung wird in gegenwĂ€rtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-KalkĂŒle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche ĂŒbertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die SphÀre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsĂ€chlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als âunmoralischâ gedeutet wird.