
DiskursGlossar
Aus dem Zusammenhang reißen
Kategorie: Techniken
Verwandte Ausdrücke: Dekontextualisieren, Redewiedergabe, Rekontextualisieren
Siehe auch: Kontextualisieren, Inszenierte Kontroverse, Distanzieren, Fact Checking, Diskreditieren, Indexikalität
Autor: Thomas Gloning
Version: 1.0 / Datum: 01.11.2025
Kurzzusammenfassung
Das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen gehört in den Funktionskreis der Redewiedergabe bzw. der Wiedergabe kommunikativer Ereignisse. Es kann (1) als intentionale argumentativ-polemische Strategie für ganz unterschiedliche diskursive Zielsetzungen von Akteuren genutzt werden, oder (2) es kann SprecherInnen und SchreiberInnen in unbeabsichtigter, fehlerhafter Weise unterlaufen. (3) In beiden Fällen können Formen des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens einer Äußerung zum Gegenstand von Vorwürfen und kommunikativen ,Ordnungsrufen‘ sein, die ihrerseits wiederum in strategischer Weise zur Diskreditierung der Bezugsperson oder anderen diskursiven Zielen genutzt werden können. (4) Darüber hinaus gibt es nicht-argumentative Formen der Herauslösung pointierter oder zugespitzter Äußerungen aus ihrem Kontext für unterschiedliche kommunikative Funktionen, mit denen in Diskursen Formen des Widerspruchs, der Richtigstellung oder der ausführlicheren Kommentierung hervorgerufen werden sollen.
Erweiterte Begriffsklärung
Formen des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens können nicht nur in öffentlichen Diskursen vorkommen, sondern überall da, wo über Äußerungen bzw. kommunikative Ereignisse gesprochen oder geschrieben wird. Sie sind eingebettet in den Funktionskreis der Redewiedergabe mit ihren vielfältigen Realisierungsformen und Wiedergabeaspekten (z. B. Wortlaut, Inhalt, Art der Handlung, das Gemeinte, Modalität einer Äußerung wie Lautstärke oder emotionale Beteiligung). Der Bereich der Redewiedergabe bzw. der Wiedergabe kommunikativer Ereignisse ist deutlich vielgestaltiger als der engere Bereich des Zitierens, aber weniger gut erforscht (vgl. zum Zitieren die Sammelbände von Brendel et al. 2011 und Arendholz et al. 2015). Gleichwohl kann man die Systematik von Formen der Redewiedergabe und der Kritik an Redewiedergaben auch für Aspekte des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens nutzen (Das habe ich so gar nicht gesagt; Das habe ich mit meiner Äußerung nicht gemeint; Das habe ich so zwar gesagt, aber in einem Kontext, der eine andere Deutung nahelegt als die, die Sie mir unterstellen). Man kann darüber hinaus auch vielfältige kommunikative und dialogische Aspekte berücksichtigen, z. B. die Frage nach strategischen Zielen, nach der Einbettung in kommunikativen Zusammenhängen und auch nach der interaktiven ,Verhandlung‘ von aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten oder Aspekten kommunikativer Ereignisse.
Dabei muss man sich vor Augen halten, dass eigentlich jede Art von Redewiedergabe eine Art der Verpflanzung einer ursprünglichen Äußerung in einen anderen, neuen Kontext ist. Die Besonderheit der Fälle, die von Akteuren als ,Aus dem Zusammenhang reißen‘ bezeichnet werden, scheint zu sein, dass die betreffenden Handlungen in ganz unterschiedlichen Hinsichten als problematisch angesehen werden, z. B. als unfair, als sinnentstellend oder gar als böswillig. Aus-dem-Zusammenhang-Reißen ist also vielfach keine ursprüngliche Eigenschaft einer Wiedergabe-Handlung, sondern ein kommunikativer Klagepunkt bzw. eine Diagnose zu einer Wiedergabehandlung.
Formen des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens können nicht nur Ergebnis intentionaler Strategien in Diskursen und anderen kommunikativen Zusammenhängen sein, sie sind manchmal nur ‚Unfälle‘, die nicht beabsichtigt sind. Wenn zum Beispiel im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit ein Textbeispiel in verkürzter Weise genutzt wird und die zitierte Person selbst oder eine Peer-Reviewerin sich darüber beklagt, wenn dann die zitierende Person dies zugesteht und sich entschuldigt und/oder den Text repariert, dann kann man davon ausgehen, dass hier keine intentionale Falschdarstellung vorliegt, sondern einfach ein handwerklicher Fehler bei der Redewiedergabe.
In beiden Fällen, den intentional-strategischen und den ‚Unfällen‘, kann der jeweilige dekontextualisierte Sprachgebrauch kritisiert werden und ist damit Gegenstand von Folgehandlungen und von Anschlusskommunikationen, zu deren Repertoire etwa Entschuldigungen, Rechtfertigungen oder Richtigstellungen gehören. Da Äußerungen immer in einem situativen, dialoghistorischen und/oder textuellen Kontext stattfinden, ist eine der interessanten Fragen auch die, welche Aspekte des Kontexts bei der Wiedergabe ggf. nicht berücksichtigt wurden und wie ggf. darüber gestritten wird.
Bei der Analyse von Beispielen zeigt sich vielfach, dass es bei der Beschreibung und Beurteilung von Fällen des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens um eine umfassende Berücksichtigung der kommunikativen Zusammenhänge von Ursprungsäußerungen, dem damit Gemeinten, der strategischen Nutzung bei einer (aus dem Zusammenhang gerissenen) Wiedergabe, von Formen der ,Begradigung‘ und der kritischen Kommentierung von aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen und ggf. weiterer Aspekte gehen muss. Besonders wichtig sind hier die Ziele unterschiedlicher Diskurs-Akteure und die Rolle, die Formen des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens im Rahmen von diskursiven Strategien spielen.
Eine wichtige Frage ist auch die, auf welche Grundlagen man sich bei der Beurteilung und der Analyse kommunikativer Verläufe stützen kann. Eine nützliche Übung kann sein, ein bestimmtes kommunikatives Ereignis und seine Zusammenhänge vergleichend im Spiegel unterschiedlicher Quellen und Berichterstattungen zu untersuchen (zum Prinzip der medienvergleichenden Analyse vgl. Bucher 1991).
Neben Fällen von Aus-dem-Zusammenhang-Reißen, die kritisiert werden, gibt es auch Fälle von ‚Rekontextualisierung‘, die in ihren kommunikativen Zusammenhängen keinen Anstoß erregen oder sogar als funktional angemessen angesehen werden, z. B. im Umgang mit Ungewissheit (vgl. Wodak 2024). Hierzu gehören auch Formen der Nutzung ‚knackiger‘ oder zugespitzter Einzelformulierungen, die vor allem Aufmerksamkeit erzeugen und/oder ggf. unmittelbar Widerspruch, Richtigstellung oder ausführlichere Kommentierung hervorrufen sollen (siehe dazu Beispiel 2). In diesem Sinne können bestimmte aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen eine Art ‚Dialogaufgabe‘ darstellen, deren Resultate durchaus erwünscht sind (vgl. Walton/Macagno 2011).
Zentral für die Analyse von Formen des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens sind die Aspekte der Anschlusskommunikation. Im Hinblick auf Strukturen der Anschlusskommunikation kann man zunächst fragen, welche Akteure zu Wort kommen und in welchen sequentiellen Zusammenhängen. Zum einen ist die zitierte Person selbst zu nennen (z. B. Außenministerin Baerbock; Beispiel 1), sodann die zitierende Person oder auch dritte Parteien, die mit der zitierten oder der zitierenden Person eng zusammenhängen (z. B. die Bundesregierung, die Vertretung der russischen Regierung; die Institution, der ein zitierter Journalist angehört), schließlich auch eine breitere Öffentlichkeit, z. B. in den Foren und Kommentarbereichen sozialer Medien. Die sequentiellen Verlaufsformen sind vielfältig und müssen im Einzelfall untersucht werden.
Ebenso vielfältig wie die sequentiellen Verlaufsformen sind auch die sprachlichen Handlungen, die bei der Diskussion von aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen genutzt werden können. Besonders prominent sind dabei Formen der Kritik (dadurch erhalten bestimmte Formen der Redewiedergabe ja erst den Status des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens), Formen der Richtigstellung, die Explikation des mit der zitierten Äußerung Gemeinten, die Erläuterung, inwiefern ,mehr Kontext‘ wichtig ist für das richtige Verständnis einer Äußerung, aber auch Klagen darüber, warum jemand sich z. B. missverständlich ausgedrückt hat. Die Nutzung kommunikativer Strategien hängt auch von unterschiedlichen Kontexten ab. Walton/Macagno (vgl. 2011) zeigen in ihren Beispielanalysen, wie subtil die gemeinsame Aushandlungsarbeit von Parteien um zitierte Äußerungen etwa in Gerichtsverhandlungen sein kann.
Schließlich ist auch die Frage zentral, welche Aspekte der Wiedergabe in der Anschlusskommunikation thematisiert werden können. Da ist zunächst die Frage, ob die Art des Zitierens bzw. der Redewiedergabe überhaupt ,falsch‘, unfair oder unlauter war oder z. B. im Rahmen einer böswilligen Strategie stattgefunden hat. Hinter solchen Formen der Kritik stehen Kommunikationsideale, die der Begründung für die Kritik dienen können, z. B. das sog. ,principle of charity‘, demzufolge man einem Dialogpartner zunächst die beste der möglichen Deutungen unterstellen soll. Damit kommt auch der Aspekt der Verstehensmöglichkeiten und des mit einer Äußerung tatsächlich Gemeinten ins Spiel. Im politischen Kontext gibt es offenbar eine Art kommunikativer Verantwortlichkeit für die Eigenschaften von Äußerungen, die man versuchsweise in folgende Maxime gießen kann: ,Mache in der politischen Kommunikation keine Äußerungen, die von Gegnern leicht aus dem Zusammenhang gerissen und mit schädlichen Deutungen versehen werden können‘. Generell gilt, dass alle Aspekte der Wiedergabe und der Diskurskonstellation auch zum Thema von Anschlusskommunikation gemacht werden können.
Die in diesem Abschnitt genannten drei Dimensionen – die Konstellation der Akteure und ihrer Beteiligungsrollen, die Handlungs- und Sequenzierungsformen, das Spektrum der in der Anschlusskommunikation thematisierten Aspekte – können eine erste nützliche Leitlinie für die Untersuchung von konkreten Einzelfällen darstellen.
In kommunikationshistorischer Perspektive sind Formen des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens – als Strategie oder Unfall − keine Neuerung. Die Geschichte der Wissenschaftskommunikation (vgl. Fritz et al. 2018), die Geschichte der politischen Kommunikation und auch die erweiterte Diskursgeschichte bieten zahlreiche Beispiele, die aber meines Wissens noch nicht systematisch erforscht und dokumentiert sind. Zur historischen Perspektive gehört auch die Frage, ob sich Formen des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens im Rahmen von KI-generierten Kommunikationsangeboten möglicherweise verschärft haben und weiter verschärfen werden.
Beispiele
(1) Baerbock: Wir führen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander
Außenministerin Baerbock hatte im Rahmen einer Rede zum Russland/Ukraine-Krieg im Europarat
mit folgenden Worten zum Zusammenhalt der westlichen Verbündeten aufgerufen: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander“,
so berichtet Stern.de-Online am 27.01.2023 über das Redeereignis im Wortlaut und über die damit verbundene kommunikative Absicht (‚zum Zusammenhalt aufrufen‘). Weiter wird dann berichtet:
Die russischen Staatsmedien griffen diese Aussage dankbar als zentralen Schlüsselsatz für Kriegspropaganda auf – als Beleg dafür, dass Deutschland und die anderen EU-Länder direkte Konfliktpartei in der Ukraine seien und gegen Russland kämpften.
Die Baerbock-Äußerung wurde – jedenfalls in der Sicht der Berichterstattung von Stern Online − aus ihrem kommunikativen Zusammenhang (Aufruf zum Zusammenhalt) herausgelöst und mit einer anderen Deutung versehen, die auf die Frage bezogen ist, ob Ukraine-Unterstützung als ein Fall von Kriegsbeteiligung gegen Russland anzusehen sei. In der Anschlusskommunikation ging es – wieder im Spiegel der Berichterstattung − zum einen darum, die ursprüngliche Absicht des Redebeitrags klarzustellen, zum anderen auch darum, die russische Zitatnutzung zu kritisieren:
In der längeren Diskussion, in der die Aussage fiel, sei es darum gegangen zu unterstreichen, dass die EU, die G7-Staaten und die Nato geeint gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine stünden, erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amts am Freitag in Berlin. „Die russische Propaganda nimmt immer wieder Äußerungen, Sätze, Haltungen, Positionen der Bundesregierung, unserer Partner, und dreht sie so, dass es ihrem Ziel dient. Darauf jetzt hier einzugehen, ist meines Erachtens nicht sinnvoll“, sagte der Sprecher. „Wer hier eskaliert, ist Russland.“ Im völkerrechtlichen Sinne sei Deutschland keine Konfliktpartei. „In diesem Kontext muss die Außenministerin verstanden werden“, sagte der Sprecher. Auch die deutsche Botschaft in Moskau stützte sich auf diese Position: […]
Neben diesen Maßnahmen zur Korrektur und zur Entschärfung der ‚aus dem Zusammenhang gerissenen‘ Äußerungen (u. a. durch Hinweis auf eine ‚richtige‘ Deutung) gibt es darüber hinaus auch weitere Kommunikationsverläufe, die in der Berichterstattung thematisiert wurden und die sich auf die aus der Sicht der Kritiker unglückliche bzw. problematische Formulierung bezogen:
CSU-Generalsekretär Martin Huber meinte: „Annalena Baerbock ist ein massives Sicherheitsrisiko für unser Land.“ Wer von einer deutschen Kriegsbeteiligung rede, rede Deutschland in einen Krieg hinein. AfD-Co-Chef Tino Chrupalla forderte die Entlassung Baerbocks. „Die Bundesaußenministerin setzt mit ihrem unprofessionellen und vorlauten Verhalten Deutschlands Existenz aufs Spiel“, sagte er laut einer Mitteilung. Auch in den sozialen Netzwerken gab es harsche Kritik an Baerbock und ihren Äußerungen.
Wenn man die kommunikativen Facetten dieses Berichts über einen hochbrisanten Fall von Aus-dem-Zusammenhang-Reißen zusammenstellt, ergibt sich:
- eine Teil-Äußerung im Rahmen eines politischen Redebeitrags, die in bestimmter Weise gemeint war;
- die aus dem Zusammenhang gelöste Nutzung einer Teiläußerung ohne den Bezug zum Kontext des Redebeitrags und ohne Bezug zum ursprünglich kommunikativ Gemeinten;
- Formen der Richtigstellung des ursprünglich Gemeinten der Äußerung und Kritik an der dekontextualisierten Nutzung des Teilzitats;
- Vorwürfe und Kritik an die Partei, die eine Äußerung aus dem Zusammenhang gerissen hat und damit kritikwürdige, unlautere, unmoralische Ziele verfolgt;
- Kritik an der ursprünglichen Äußerung mit dem zentralen Inhalt, dass PolitikerInnen prüfen müssen, ob ihre Redebeiträge nicht (offenkundiges) Potential zu Missdeutungen aufweisen. Politische Gegner (in diesem Fall u. a. CSU, AfD) nutzen auf diese Weise die Tatsache, dass die Äußerungen einer Politikerin aus dem Zusammenhang gerissen wurden, für Schuldzuweisungen an die Rednerin selbst.
Das Repertoire der Praktiken der Auseinandersetzung zeigt auch, dass Handlungsformen sehr eng verknüpft sind mit der Konstellation von Akteuren und ihren diskursiven Strategien und Interessen.
(2) Aus-dem-Zusammenhang-Reißen als Interview-Strategie
Im Wettbewerb um Aufmerksamkeit sind ‚knackige‘, zugespitzte, provokante oder ggf. auch irritierende Kurzformulierungen sehr wertvoll, z. B. für Überschriften oder in Interviewfragen. Als Beispiel aus dem Diskurs über die Preisentwicklungen in der Gastronomie nach Corona gibt es in der Süddeutschen Zeitung ein langes Interview mit dem Gastronomiekritiker (Gault & Millau) und Ernährungswissenschaftler Jochen Rädeker (vgl. Süddeutsche Zeitung 2024). Im Interview werden sehr differenziert unterschiedliche positive, aber auch kritische Zustände und Entwicklungen in der Hochleistungsgastronomie besprochen, dabei fällt im Zusammenhang der Thematisierung von ,schwarzen Schafen‘ bzw. einem Teil der Entwicklung auch die Äußerung: Halbe Leistung zum gleichen Preis? Läuft!. Genau diese Äußerung wurde dann als Überschrift des großen Beitrags gewählt, obwohl sie im Beitrag selbst relativiert wird und dem thematisch differenzierten Interview ‚eigentlich‘ nicht gerecht wird. In vergleichbarer Weise zitiert der Interviewer eine weitere kritische Formulierung, die Rädeker dann seinerseits kommentiert und in ihren Zusammenhang stellt:
SZ: Herr Rädeker, der Gault & Millau muss selten streng sein, meist werden Köche bei Ihnen gefeiert. In diesem Jahr watschen Sie die Branche dagegen ordentlich ab. Neu ist auch der Ton: Ihre Erhebung zur Preisentwicklung in der Gastronomie kommentierten Sie mit den Worten: „Mangelnde Leistung, Gier und Geiz“ seien zum Problem geworden, der Gast werde regelrecht „abgezockt“.Was ist da passiert?
Jochen Rädeker: Richtig, das habe ich geschrieben, aber ohne Zusammenhang klingen diese Sätze dann doch etwas zugespitzt. Bevor wir zur Abzocke kommen, muss ich das Urteil also kurz relativieren: Die überwiegende Mehrheit der Restaurants, die wir als Tester besuchen, werden hervorragend geführt. Von engagierten Leuten, die ihre Gäste glücklich machen. Das kann Gastronomie nämlich. Doch darüber hinaus machen wir uns Sorgen. […] (Süddeutsche Zeitung 2024)
In diesem Beispiel wird deutlich, dass auch z. B. in Interviewfragen ein Verfahren der Nutzung zugespitzter Formulierungen, die aus ihrem Kontext herausgelöst wurden, erkennbar ist, die dann im dialogischen Kontext des Interviews ‚bearbeitet‘ werden müssen. Und das scheint gerade der funktionale Kern dieser Strategie zu sein: Dem Partner soll mit zugespitzten und provokanten Formulierungen eine Vorlage gegeben werden für interessante und ggf. ausgewogenere Ausführungen. Gleichzeitig dienen die zugespitzten Formulierungen der Gewinnung von Aufmerksamkeit. Im Beispiel wird wenig später die zugespitzte Kritik mit dem Schutz der vielen Köche, die gut arbeiten gerechtfertigt. Ganz im Einklang mit den Befunden von Walton und Macagno (2011), die Formen von fehlerhaften Zitierweisen („misquotation“) in ihren dialogischen und argumentativen Zusammenhängen untersucht haben, zeigt sich, dass aus dem Zusammenhang gerissene Formulierungen eine Dialogaufgabe darstellen können, deren Erledigung für die Bearbeitung thematischer Aspekte außerordentlich förderlich sein kann. Das gilt auch für die Überschrift Halbe Leistung zum gleichen Preis? Läuft!. Diese Art von Überschrift wird dem differenzierteren Befund des langen Interviews nicht gerecht. Aber sie ist nicht nur ein Aufmerksamkeitsmittel, sie ist auch ein spannender Aufhänger für die vielen Konkretisierungen, die der Text des Interviews bietet. Sie ist also mehr als eine intentional gewählte Strategie im Wettbewerb um Aufmerksamkeit.
(3) Provokation und Anschlusskommunikation
In einem anderen Beitrag der Süddeutschen Zeitung (SZ) geht es um einen größeren diagnostizierten Trend. Die Überschrift lautet:
Rüffelschweine blasen zur Jagd. Auf Social Media ist es Mode, einzelne Sätze aus Kontexten zu reißen und als bloßes Zitat zu verbreiten. Ein Betroffener berichtet (Süddeutschen Zeitung 2022).
In diesem Beitrag von Micky Beisenherz wird auf pointiert formulierte Weise eine modisch gewordene Praxis beschrieben, bei der sog. Rüffelschweine (Tommi Schmidt) nur darauf lauern, brisante Zitate aus einem kommunikativen Zusammenhang zu reißen und als Sharepics (Bild des Urhebers plus Zitat auf einer verbreitbaren Bild-Kachel) aufzubereiten, im Internet zu posten und entsprechende Verbreitungswellen zu erzeugen. Besonders hervorgehoben wird auch die Notwendigkeit der Reaktion: Ein falsches Wort, ein unglücklich formulierter Satz, und Stunden später geht das ganze Wochenende für die Schadensregulierung drauf. In diesem Beitrag wird explizit auf die Notwendigkeit einer Reaktion auf aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen hingewiesen. Und auch Walton/Macagno (2011: Abschnitt 5) arbeiten heraus, dass alle Formen von fehlerhaften oder problematischen Zitierweisen („misquotation“) eine neue dialogische Situation erzeugen, die eine ,falsch‘ zitierte Person zwingt, sich dazu zu äußern. Damit können neue kommunikative Verpflichtungen für eine zitierte Person erzeugt werden („quotations are powerful instruments for shifting the burden of proof“, Walton/Macagno 2011: 45 f.; „misquotations are instruments to manipulate the interlocutor’s commitments“, Walton/Macagno 2011: 50). Dies trifft auch für andere Formen des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens zu.
(4) Bilder, Bildverwendungen und ihre Kontexte
Wenn man mit Muckenhaupt (Text und Bild, 1986) die grundlegende Unterscheidung macht zwischen Bild und Bildverwendung, dann ist jede Bildverwendung eine, die in einem eigenen Kontext stattfindet. Man kann aber Analogien sehen zwischen bestimmten Arten der Bildverwendung und den sprachlichen Verlaufsformen, die wir als Fälle von Aus-dem-Zusammenhang-Reißen bezeichnen. Die wichtigste Gemeinsamkeit scheint zu sein, dass bestimmte Verwendungen eines Bildes für andere kommunikative Ziele genutzt werden können als die ursprünglichen. So heißt es in einem Beitrag der Berliner Illustrierten Zeitung vom 15.03.1903 unter der Überschrift Mazedonische Greuel:
[…] dauern die ‚mazedonischen Greuel‘ ungestört fort. Die blutige Hand der Türken lastet schwer auf den Mazedoniern […] Die Berichte über die Grausamkeiten der türkischen Soldaten lassen einem das Blut in den Adern erstarren […] Es wird berichtet, daß solche Szenen, trotz der widersprechenden Berichte der Pforte [Regierung in Constantinopel], die die Soldaten des Sultans als sanftmütige Lämmer darstellen, an der Tagesordnung sind. […] Man […] fragt sich, ob solche Geschehnisse […] möglich sind. Aber die Photographie lügt nicht und es liegen Photographien vor […] Die türkischen Soldaten haben die abgeschnittenen Köpfe ihrer Opfer in Säcke gepackt und zum nächsten Photographen geschleppt, wo sie sich aufnehmen ließen und die blutigen Beweise ihrer Bestialität als dekorativen Schmuck verwendeten“.
Die kommentierte Photographie, ursprünglich eine Art Triumph-Bild, wird in diesem Beitrag in einem anderen Kontext und mit einer ganz anderen Funktion verwendet, als Beweis für die Grausamkeiten und die Bestialität der erwähnten Kriegspartei. Im Unterschied zu den oben besprochenen sprachlichen Formen des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens könnte man diese Form der Anders-Nutzung aber wohl kaum als fehlerhaft, unfair usw. kritisieren. Sie ist vielmehr eine gezielte Nutzung eines Bildes für andere kommunikative Ziele als die ursprünglichen.
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Abb.: Berliner Illustrierte Zeitung, 15.03.1903
Anders verhält es sich mit Bildverwendungen in der Klimaberichterstattung über das sog. Ozonloch, die Wolf-Andreas Liebert (vgl. 2007) rekonstruiert hat. Er konnte zeigen, dass Visualisierungen der Ergebnisse von Messreihen im Lauf der Zeit zu Abbildungen eines richtigen ,Lochs‘, eben des Ozonlochs wurden. Hier würde man gewiss sagen, dass die Nutzung und Verschiebung der Abbildungsweisen ‚fehlerhaft‘ war, auch wenn diese Entwicklung in mehreren Teilschritten verlief.
Im Sinne von Wittgensteins Idee der Vergleichsobjekte als Erkenntnisinstrumente kann es eine nützliche Strategie sein zu fragen, wo ggf. Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den sprachlichen Verfahren liegen, wenn man Formen der Bildnutzung ,in anderen Kontexten‘ untersucht.
Literatur
Zum Weiterlesen
- Walton, Douglas; Macagno, Fabrizio (2011): Quotations and Presumptions. Dialogical Effects of Misquotations. In: Informal Logic, Jg. 31, Heft 1, S. 27–55.
-
Perrin, Daniel (2015): Medienlinguistik. 3., aktualisierte Auflage. Konstanz: UVK, Abschnitt A2.
Zitierte Literatur und Belege
- Arendholz, Jenny; Bublitz, Wolfram; Kirner-Ludwig, Monika (Hrsg.) (2015): The Pragmatics of Quoting Now and Then. Berlin; Boston: De Gruyter.
- Beisenherz, Micky (2022): Rüffelschweine blasen zur Jagd. Auf Social Media ist es Mode, einzelne Sätze aus Kontexten zu reißen und als bloßes Zitat zu verbreiten. Ein Betroffener berichtet. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 279 vom 3./4.12.2022. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/medien/micky-beisenherz-sharepics-zitatkachel-1.5707522?reduced=true ; Zugriff: 07.10.2025.
- Berliner Illustrierte Zeitung (1903): 15.03.1903.
- Brendel, Elke; Meibauer, Jörg; Steinbach, Markus (Hrsg.) (2011): Understanding Quotation. Berlin; New York: De Gruyter.
- Bucher, Hans-Jürgen (1991): Pressekritik und Informationspolitik. Zur Theorie und Praxis einer linguistischen Medienkritik. In: Bucher, Hans-Jürgen; Straßner, Erich (Hrsg.): Mediensprache, Medienkommunikation, Medienkritik. Tübingen: Narr, S. 3–109 (Beitrag) und S. 231–240 (Literatur).
- Fritz, Gerd; Gloning, Thomas; Glüer, Juliane (2018): Historical Pragmatics of Controversies. Case Studies from 1600 to 1800. Amsterdam; Philadelphia: Benjamins.
- Liebert, Wolf-Andreas (2007): Mit Bildern Wissenschaft vermitteln. Zum Handlungscharakter visueller Texte. In: Liebert, Wolf-Andreas; Metten, Thomas (Hrsg.): Mit Bildern lügen. Köln: Herbert von Halem Verlag, S. 175–192.
- Muckenhaupt, Manfred (1986): Text und Bild. Grundfragen der Beschreibung von Text-Bild-Kommunikation aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Tübingen: Narr.
- Stern.de (2023): „Extrem unglücklicher Versprecher“. Moskau reagiert erzürnt auf Baerbock-Kommentar – Bundesregierung betont: „Sind keine Kriegspartei“. In: Stern.de, 27.01.2023. Online unter: https://www.stern.de/politik/deutschland/baerbock-aussage-in-kritik—regierung—deutschland-keine-kriegspartei–33141824.html ; Zugriff: 07.10.2025.
- Süddeutsche Zeitung (2024): „Halbe Leistung zum gleichen Preis? Läuft!“ Der Gastroführer Gault & Millau hat in tausend deutschen Gourmetrestaurants die Preisentwicklung seit Corona analysiert. Das Ergebnis: 53 Prozent teurer. Herausgeber Jochen Rädeker über gierige Wirte, miesen Service und Abzocke als Branchenproblem. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 201 vom 31.08./01.09.2024. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/stil/restaurants-preise-gault-millau-jochen-raedeker-e532812/?reduced=true ; Zugriff: 07.10.2025.
- Walton, Douglas; Macagno, Fabrizio (2011): Quotations and Presumptions. Dialogical Effects of Misquotations. In: Informal Logic, Jg. 31, Heft 1, S. 27–55.
- Wodak, Ruth (2024): Appeals to “Normality” and “Common Sense” in the Face of Global Uncertainty. An Interdisciplinary Discourse-Historical Approach. In: Informal Logic, Jg. 44, Heft 3, S. 361–398.
Zitiervorschlag
Gloning, Thomas (2025): Aus dem Zusammenhang reißen. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 01.11.2025. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/aus-dem-zusammenhang-reissen/.
DiskursGlossar
Grundbegriffe
Positionieren
Positionieren ist Grundbestandteil menschlicher Kommunikation. Wann immer wir miteinander interagieren und kommunizieren, bringen wir uns selbst, andere und die Objekte, über die wir sprechen, in bestimmte Relationen zueinander.
Deutungsmuster
Unter einem Deutungsmuster wird die problem- und lösungsbezogene Interpretation gesellschaftlicher und politischer Tatbestände verstanden, die Aussicht auf Akzeptanz in sozialen Gruppen hat. Der Begriff des Deutungsmusters hat Ähnlichkeit mit den Begriffen der Theorie und Ideologie. Meist werden gesellschaftlich verbreitete Leitdeutungen, die oft mit Schlagwörtern und Argumentationsmustern einhergehen (wie Globalisierung, Kapitalismus, Leistungsgesellschaft, Chancengleichheit etc.) als Beispiele für Deutungsmuster genannt.
Sinnformel
‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und ähnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.
Praktik
Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes Bündel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrücken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).
Kontextualisieren
Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.
Narrativ
Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.
Argumentation
Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Diskurskompetenz
Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.
Agenda Setting
Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.
Techniken
Lobbying
Lobbying ist eine Form strategischer Kommunikation, die sich primär an Akteure in der Politik richtet. Beim Lobbying wird ein Bündel von kommunikativen Tätigkeiten mit dem Ziel eingesetzt, die Entscheidungen von Personen mit politischem Mandat oder den Entstehungsprozess von neuen Gesetzestexten interessengeleitet zu beeinflussen.
Pressemitteilung
Pressemitteilungen sind standardisierte Mitteilungen von Organisationen, die sich an Journalist:innen und andere Multiplikator:innen richten. Sie dienen der offiziellen und zitierfähigen Informationsweitergabe und übernehmen zugleich strategische Funktionen in der öffentlichen Kommunikation und Meinungssteuerung.
Shitstorm
Der Begriff Shitstorm beschreibt eine relativ junge Diskurskonstellation, die seit den 2010er Jahren an Bedeutung gewonnen hat und gemeinhin als Online-Wutausbruch bezeichnet wer-den kann.
Tarnschrift
Als Tarnschrift bezeichnet man unter den Bedingungen von Zensur und Verfolgungsrisiko veröffentliche Texte, die insbesondere in der strategischen Kommunikation des NS-Widerstands eine zentrale Rolle spielten.
Ortsbenennung
Die Benennung von Orten dient in erster Linie dazu, den jeweiligen geografischen Ort zu lokalisieren und ihn zu identifizieren. Doch Ortsnamen besitzen eine soziale Dimension und spielen eine entscheidende Rolle bei der sprachlich-kulturellen Identitätskonstruktion.
Finanz-Topos
Mit dem Finanz-Topos werden im Diskurs Argumente gebildet, mit denen Akteure bestimmte Maßnahmen als finanziell sinnvoll befürworten oder als unrentabel zurückzuweisen.
Strategische Prozessführung
Der Begriff strategische Prozessführung kombiniert die Worte Strategie im Sinne von Plan und Taktik‘ und Prozessführung im Sinne von ‚Klage vor Gericht‘. Eine einheitliche Definition des Konzepts existiert bislang nicht. Meist werden hierunter (Muster)Klagen von NGOs und Bürgerrechtsorganisationen verstanden, mit denen über den Einzelfall hinausgehende soziale und gesellschaftspolitische Ziele verfolgt werden.
Inszenierte Kontroverse
Inszenierte Kontroversen liegen vor, wenn Politiker, Vertreter von Interessengruppen, Aktivisten, Journalisten, Influencer oder andere öffentlich wirksame Akteure potentiell strittige Themen möglichst effektvoll in einen Diskurs einbringen oder einen entsprechenden Diskurs auslösen, und zwar um entsprechende Perspektivierungen bestimmter Konfliktlagen im eigenen Interesse konfrontativ zu prägen.
-ismus
Bei Ismen geht es ursprünglich um die Wortendung (sog. Suffix) -ismus (Plural -ismen), mit der Substantive mit substantivischem oder adjektivischem Wortstamm (Basis) gebildet werden (z.B. Vulkan-ismus oder Aktiv-ismus).
Persuasion
Persuasion kommt vom lateinischen Verb persuadere und bedeutet ‚überzeugen, überreden‘ (gebildet aus suadere ‚raten, empfehlen‘ und per ‚durch, über‘).‘). Der Begriff stammt aus der Rhetorik, in der es vor allem darum geht, wie man Hörer:innen oder Leser:innen auf seine Seite bringt: wie man sie zum Beispiel in einem Gerichtsprozess von der Schuld oder Unschuld eines/einer Angeklagten überzeugt, wie man sie politisch zur Parteinahme überredet oder wie man sie ganz allgemein für sich selbst oder einen bestimmten Gegenstand/Sachverhalt einnimmt.
Schlagwörter
Relativieren
Der Ausdruck relativieren besitzt zwei zentrale Bedeutungsvarianten: In bildungssprachlichen und wissenschaftlichen Kontexten bezeichnet er eine analytische Praxis, bei der Aussagen, Begriffe oder Phänomene durch Bezugnahme auf andere Sachverhalte eingeordnet, differen-ziert und in ihrer Geltung präzisiert werden.
Massendemokratie
Geprägt wurde der Begriff Massendemokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von völkisch-konservativen Akteuren (prominent darunter Carl Schmitt 1926). Der Ausdruck Masse hatte damals bei den bürgerlichen Eliten eine rundum bedrohliche Assoziation.
Social Bots
Als Social Bots werden Computerprogramme bezeichnet, die in der Lage sind, in sozialen Medien Kommunikation menschlicher Nutzer*innen (teilweise) automatisiert nachzuahmen.
Kriegsmüdigkeit
Der Ausdruck Kriegsmüdigkeit bezeichnet die emotionale und physische Erschöpfung von Menschen, die einen Krieg erleben, sowie die gesellschaftliche und politische Ermüdung angesichts langanhaltender Konflikte. Er beschreibt den sinkenden Kampfeswillen bei Kriegsparteien und heute wird er auch für das wachsende Desinteresse an Kriegsthemen in Medien und Öffentlichkeit genutzt.
Woke
Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunächst den Bewusstseinszustand der Aufgeklärtheit über die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.
Identität
Unter Identität versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.
Wohlstand
Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.
Remigration
Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.
Radikalisierung
Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.
Bürokratie
Bürokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender Ausdrücke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen Bürokratisierung, Bürokratismus und Komposita, als wichtigstes Bürokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.
Verschiebungen
Dehumanisierung
Mit Dehumanisierung bzw. Anthropomorphisierung werden solche kommunikativen Techniken und Praktiken bezeichnet, die Personen, Sachverhalten oder Gegenständen menschliche Eigenschaften ab- bzw. zusprechen. Dehumanisierung und Anthropomorphisierung können sowohl durch sprachliche Mittel als auch durch andere, z. B. bildliche, Zeichen vollzogen werden.
Kriminalisierung
Kriminalität meint ein Verhalten, das gegen ein Gesetz verstößt. Folglich bedeutet Kriminalisierung im engeren Sinne den Vorgang, durch den Verhalten ungesetzlich gemacht wird – indem Gesetze geschaffen werden.
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Partizipatorischer Diskurs
Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.
DiskursReview
Review-Artikel
Musk, Zuckerberg, Döpfner – Wie digitale Monopole die Demokratie bedrohen und wie könnte eine demokratische Alternative dazu aussehen?
Die Tech-Milliardäre Musk (Tesla, X,xAI) Zuckerberg (Meta), Bezos (Amazon) oder Pichai (Alphabet) sind nicht Spielball der Märkte, sondern umgekehrt sind die Märkte Spielball der Tech-Oligopolisten geworden.
Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im Europäischen Parlament
Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ für die Erweiterung der militärischen Ausstattung und der Verlängerung des Krieges aussprachen. Vorschläge oder Vorstöße auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)
Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit
DiskursReview Die Macht der Worte (4/4):So geht kultivierter Streit Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...
Die Macht der Worte 3/4: Sprachliche Denkschablonen
DiskursReview Die Macht der Worte (3/4):Sprachliche Denkschablonen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...
Die Macht der Worte 2/4: Freund-Feind-Begriffe
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Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen
DiskursReviewDie Macht der Worte (1/4): Wörter als Waffen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 / 06.03.2025...
Relativieren – kontextualisieren – differenzieren
Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.
Wehrhafte Demokratie: Vom Wirtschaftskrieg zur Kriegswirtschaft
Weitgehend ohne Öffentlichkeit und situiert in rechtlichen Grauzonen findet derzeit die Militarisierung der ursprünglich als „Friedensprojekt“ gedachten EU statt.
Tagung 2025: „Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung und Delegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen
„Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung undDelegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen Tagung der Forschungsgruppe Diskursmonitor Tagung: 04. bis 5. Juni 2025 | Ort: Freie Universität Berlin...
„Remigration“ – Ein Riss im Schleier der Vagheit. Diskursive Strategien rund um das Remigrationskonzept und die Correctiv-Recherchen
Die am 10. Januar veröffentlichte Correctiv-Recherche über ein rechtes Vernetzungstreffen in Potsdam sorgte für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und die größten Demonstrationen gegen Rechtsaußen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Im Fokus der Kritik…