
DiskursGlossar
Diplomatie
Kategorie: Techniken
Verwandte Ausdrücke: Verhandlung, Schlichtung, Mediation, Verhandlungskunst, Konfliktlösung, Krisenkommunikation
Siehe auch: Strategische Kommunikation, Politische Kommunikation
Autor/in: Ramy Youssef
Version: 1.0 / Datum: 26.05.2025
Kurzzusammenfassung
Diplomatie bezeichnet im engeren Sinne eine Form der Kommunikation zwischen offiziellen Vertretern von Staaten, die die Aufgabe haben, zwischenstaatliche Beziehungen durch und für Verhandlungen aufrechtzuerhalten. Diese Vertreter können Politiker oder Beamte, insbesondere des diplomatischen Dienstes, sowie Vertreter internationaler Organisationen sein. Faktisch orientieren sich im Rahmen diplomatischer Aktivitäten auch nicht-staatliche Akteure, wie Unternehmen, Kirchen, NGOs und Verbände, an den grundlegenden Prinzipien der zwischenstaatlichen Diplomatie.
Zentrales Prinzip ist dabei die wechselseitige Anerkennung staatlicher Souveränität, die als Grundlage diplomatischer Interaktionen fungiert. Zugleich konfrontiert dieses Prinzip die diplomatischen Akteure mit der Herausforderung, politischen Einfluss auszuüben, ohne die Souveränität anderer Staaten zu verletzen. Diese Gratwanderung prägt die Praxis diplomatischer Kommunikation in formeller und informeller Hinsicht. Diplomatie kann etwa in Form von Verträgen formalisiert sein, die die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen des diplomatischen Verkehrs regeln – oder sich an historisch gewachsenen, informellen Gepflogenheiten orientieren. Dabei beschränkt sie sich nicht auf Verhandlungen oder zeremonielle Anlässe, sondern entfaltet sich auf vielfältigen öffentlichen wie nicht-öffentlichen Kanälen und Schauplätzen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Balance zwischen der öffentlichen Darstellung diplomatischer Beziehungen und der Schaffung gesichtswahrender ‚Hinterbühnen’, auf denen selbst hochkontroverse Themen – bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen – verhandelt werden können. Denn gerade in öffentlichen Debatten können Versuche der diplomatischen Konfliktlösung umstritten sein. Der Terminus Diplomatie wird dann auch als Schlagwort verwendet. In Appellen wird ‚mehr Diplomatie’ gefordert oder die Zweckhaftigkeit von Verhandlungen bestritten, indem den Verhandlungsparteien entweder im Sinne eines ‚Appeasements’ zu viel oder im Sinne von ‚Scheinverhandlungen’ zu wenig Kompromissbereitschaft unterstellt wird. Im Folgenden steht jedoch die mit dem Terminus Diplomatie bezeichnete Praxis im Zentrum.
Erweiterte Begriffsklärung
Für die Institutionalisierung der modernen Diplomatie sind zunächst Verhandlungen besonders bedeutsam. Durch Verhandlungen werden nicht nur weltpolitische Entscheidungen getroffen, sondern auch die Prozeduren der Diplomatie selbst festgelegt. Sie stellen den für die Diplomatie zentralen Entscheidungsfindungsmechanismus dar, weil sie mit der Bedingung wechselseitig anerkannter Souveränität kompatibel sind. Wesentlich für Verhandlungen ist dabei, dass die Beteiligten (anders als etwa bei Gerichtsverfahren oder politischen Wahlen) nicht vorgegebene und unterschiedlich verteilte Rollen übernehmen und vordefinierte Verfahrensschritte durchlaufen müssen, von deren korrekter Einhaltung die Legitimität und Akzeptanz des Ergebnisses abhinge. Stattdessen müssen die Verhandlungsparteien unter der Bedingung ihrer souveränen Gleichheit gemeinsam die Bedingungen festlegen, unter denen Verhandlungen begonnen, geführt und zu einem akzeptablen Abschluss gebracht werden können (vgl. Vollmer 1996). Auch wenn diese Bedingungen prinzipiell für jeden Anlass neu verhandelt werden können, haben sich bestimmte allgemeine Regeln und Konventionen durchgesetzt. So wurden auf dem Verhandlungsweg die Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen von 1961 und die Wiener Konvention über konsularische Beziehungen von 1963 beschlossen. Sie gehören zu den wichtigsten normativen Rahmenbedingungen, insofern sie die völkerrechtlichen Grundlagen für die Immunitäten und Privilegien von Diplomaten und Konsuln festlegen (vgl. Wouters et al. 2013).
Über diese formellen Regelungen hinaus wird die Diplomatie in erheblichem Maße von ungeschriebenen Regeln und Konventionen geprägt. Dazu gehört etwa die Praxis der Vergabe von Orden und Ehrenzeichen an ausländische Diplomaten nach Ablauf ihrer Dienstzeit im Gastgeberland (vgl. Nishikawa-Pacher 2024). Auch die Sonderrolle des ‚Doyens’ ist eine ungeschriebene Konvention. Dabei handelt es sich um einen Botschafter, der das ‚diplomatische Corps’, also alle in einem Land stationierten ausländischen Botschafter, bei bestimmten Anlässen repräsentiert. Dabei kann es sich je nach Gepflogenheit des Gastgeberlandes um den dienstältesten Botschafter oder den päpstlichen Gesandten, den apostolischen Nuntius, handeln (vgl. Sharp/Wiseman 2016).
Zur Institutionalisierung der Diplomatie im weiteren Sinne gehört auch die Ausbildung und Rekrutierung des diplomatischen Personals. Die Frage, inwieweit Diplomaten eine eigenständige Rolle spielen und ob diese tatsächlich eine signifikante Wirkung entfaltet, bleibt in der wissenschaftlichen Debatte umstritten (vgl. Sharp 1997). So gestaltet sich eine Unterscheidung zwischen diplomatischen Experten und Laien unter anderem deshalb als schwierig, weil nicht in allen Staaten spezialisierte Ausbildungsgänge für den diplomatischen Dienst vorgeschrieben sind (vgl. Calin/Fitzpatrick 2013). Tatsächlich gibt es zahlreiche alternative Zugangswege in den diplomatischen Dienst jenseits der klassischen Beamtenlaufbahn – etwa über politische Patronage, Prominenz oder familiäre bzw. wirtschaftliche Netzwerke –, was darauf hindeutet, dass eine formale Spezialisierung keine zwingende Voraussetzung ist (vgl. Haglund 2015; Ottaway 2010). Diplomaten teilen sich gegenwärtig ihr Tätigkeitsfeld mit Politikern, Interessenvertretern, Fachbeamten und wissenschaftlichen Experten, die allesamt selbst diplomatische Funktionen übernehmen können (vgl. Constantinou et al. 2016). Sie müssen außerdem auch zu zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Unternehmen, Kirchen, NGOs und Verbänden Kontakte pflegen, die dadurch selbst zu quasi-diplomatischen Akteuren werden können. Diese Zunahme an diplomatischen Akteuren gehört, ebenso wie die Zunahme an internationalen Organisationen, zu den wichtigsten historischen Veränderungen der modernen Diplomatie im Verlauf des 20. Jahrhunderts.
Diplomatische Kommunikation kann also von sehr verschiedenen Akteuren praktiziert werden. Diese müssen sich aber typischer sprachlicher und nicht-sprachlicher Ausdrucksformen der Diplomatie bedienen, die für die Gestaltung internationaler Beziehungen entscheidend sind. In der sprachlichen Kommunikation wird häufig Englisch als diplomatische ‚Lingua Franca‘ verwendet, aber auch andere wichtige Weltsprachen wie Französisch, Spanisch, Russisch und Chinesisch kommen zum Einsatz, abhängig von den beteiligten Parteien und dem spezifischen internationalen Kontext. Die Wahl der Sprache und die Art ihrer Verwendung sind dabei von eminent politischer Bedeutung (vgl. Stanko 2001). Nicht zuletzt sind mit der Wahl der Verhandlungssprache auch Fragen der souveränen Gleichheit der Verhandlungsparteien berührt (vgl. He 2006), die es nahelegen können, entweder in einer geläufigen Drittsprache oder unter Zuhilfenahme von Dolmetschern zu kommunizieren und Abschlussdokumente in mehreren Sprachen zu verfassen (vgl. Gamble/Ku 1992).
Die diplomatische Kommunikation zeichnet sich oft durch den Einsatz formalisierter oder ritualisierter Praktiken aus, die dazu dienen, komplexe Botschaften zu kodieren und dabei sowohl Nähe als auch Distanz zu signalisieren. Ein wesentlicher Bestandteil davon ist die Aufnahme diplomatischer Beziehungen durch offizielle Botschafter, mit denen die Anerkennung eines Staates zum Ausdruck gebracht wird. Zu den wichtigen formal geregelten Signalen der Diplomatie gehört auch die Einbestellung oder Ausweisung eines Botschafters, die jeweils bedeutende Veränderungen im diplomatischen Verhältnis zwischen Staaten anzeigen. Auch im diplomatischen Schriftverkehr kann durch die Wahl bestimmter Textgattungen der Status einer zwischenstaatlichen Beziehung ausgedrückt werden, die für die formelle Kommunikation zwischen Staaten und internationalen Organisationen zentral sind (vgl. für das Folgende: Satow 2011: 58–99):
In der diplomatischen Praxis wird etwa die Textsorte der Note genutzt, um offizielle Stellungnahmen, Forderungen oder Proteste zwischen Staaten auszutauschen. Sie kann entweder in der ersten oder dritten Person verfasst sein und ist stets unterzeichnet. Während die Note in der ersten Person im Regelfall von einer eher freundschaftlichen und informellen Tonalität geprägt ist, sind Noten in der dritten Person formeller und für verbindlichere Kommunikation reserviert:
- Eine besondere Form ist die kollektive Note, die von mehreren Staaten gemeinsam an eine Regierung gerichtet wird. Diese Form der diplomatischen Korrespondenz ist selten und wird meist als Druckmittel eingesetzt, um eine einheitliche Position gegenüber einem Staat zu verdeutlichen.
- Die Note Verbale hingegen ist eine weniger formelle Kommunikationsform und wird nicht unterzeichnet. Sie wird oft für Routineangelegenheiten oder weniger heikle diplomatische Mitteilungen verwendet. Obwohl sie den Charakter einer offiziellen Kommunikation besitzt, bleibt sie in ihrem Ton unverbindlicher als eine unterzeichnete Note.
- Das Memorandum oder Pro-Memoria dient dazu, eine ausführliche Darstellung von Sachverhalten oder Argumenten zu liefern. Es unterscheidet sich von der Note vor allem dadurch, dass es keine formellen Höflichkeitsfloskeln am Anfang und Ende enthält und nicht zwingend unterzeichnet oder datiert sein muss.
- Schließlich gibt es die Demarche, eine schriftliche diplomatische Intervention in Form einer formellen Protestnote, einer politischen Empfehlung oder eines Vorschlags, die darauf abzielt, eine Regierung zu einer bestimmten Handlung zu bewegen oder eine politische Position zu verdeutlichen.
Die Dringlichkeit und Verbindlichkeit können in der Diplomatie aber auch unabhängig von der gewählten Textsorte durch bestimmte Sprachformeln und Chiffren signalisiert werden. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die Verwendung des Wortes besorgt und seiner Steigerungsformen wie sehr besorgt oder zutiefst besorgt (vgl. Swain 2017). Diese Ausdrücke dienen als diplomatische Chiffren, um Kritik auszudrücken, ohne die Adressaten explizit zu verurteilen. Zusätzlich zu diesen sprachlichen Kommunikationsformen sind nonverbale diplomatische Rituale wie der Handschlag bei offiziellen Empfängen oder das Abschreiten einer Flaggenparade wichtige Bestandteile der diplomatischen Praxis (vgl. Balzacq 2020). In dem Maße, als diplomatische Kommunikation sich unter Anwesenden vollzieht, wird sie nicht nur durch standardisierte Rituale, sondern auch durch den gezielten Einsatz von Symbolen gestaltet. Grundsätzlich kann dabei alles, was in einer Interaktion wahrgenommen werden kann, symbolisch aufgeladen und als Indikator für den Stand diplomatischer Beziehungen interpretiert werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage, ob und inwiefern etwa bei Staatsbesuchen die souveräne Gleichheit der Interaktionspartner in der Sitzordnung, der Positionierung und Größe von Landesflaggen oder sogar im Unterhaltungsprogramm und Speiseplan eines diplomatischen Empfangs zum Ausdruck kommt (vgl. Faizullaev 2013; Neumann 2013: 45–72). Neben Staatsbesuchen gelten Akkreditierungszeremonien, bei denen ein entsandter Botschafter dem Staatsoberhaupt des Empfangsstaates sein Beglaubigungsschreiben überreicht, als besonders formalisierte diplomatische Interaktionen. Sie sind durch strikte Vorgaben geregelt und scheinen nur wenig Raum für spontane Interaktionen zuzulassen (vgl. Berkowitz et al. 2024). Dennoch zeigt sich bei solchen Zeremonien, dass es sowohl geplante als auch scheinbar spontan initiierte Kommunikationssignale gibt, die zur Beziehungsgestaltung beitragen. So können die Veranstalter der Zeremonie deren Ablauf anlassbezogen anpassen, um etwa eine besondere Wert- oder Geringschätzung für einen bestimmten Staat oder dessen Vertreter auszudrücken. Das diplomatische Protokoll fungiert demnach also nicht nur als Beschränkung, sondern eröffnet auch Handlungs- und Gestaltungsspielräume und macht gerade durch seine genauen Vorschriften bewusste Abweichungen oder Betonungen als gezielte Signale sichtbar (vgl. McConnell 2018).
Die für Diplomatie wesentliche Bedingung der wechselseitigen Anerkennung von Souveränität kommt auch in der Wahl der Orte zum Ausdruck, an denen diplomatische Interaktionen stattfinden. Auch dieser Aspekt ist grundsätzlich ‚Verhandlungssache’, kann aber durch geübte Praxis institutionalisiert sein. Jedenfalls ist die Frage, ob man Verhandlungspartner zu diplomatischen Anlässen einlädt, einen Auslandsbesuch abstattet, sich im Rahmen internationaler Organisationen bzw. Konferenzen trifft oder neutrale Drittstaaten als Gastgeber solcher Anlässe fungieren, eine eminent politische, insofern die Entscheidung für eine dieser Möglichkeiten bereits wichtige Rahmenbedingungen für Verhandlungen setzt und zugleich als Ausdruck der Qualität einer diplomatischen Beziehung fungieren kann (vgl. Henrikson 2005). Zu den typischen Orten diplomatischer Kommunikation gehören dabei Regierungssitze, bilaterale Botschaften und internationale Organisationen. Neben diesen offiziellen Arbeits- und Tagungsorten gibt es aber auch eine weitere diplomatische Infrastruktur, die Orte und Anlässe für niederschwellige informelle Formen der diplomatischen Beziehungspflege bietet. Dazu gehören zunächst die Botschaftsresidenzen, die nicht nur als private Haushalte, sondern auch als diplomatische Repräsentationsräumlichkeiten für Empfänge fungieren. Nicht selten verdichten sich diese in Hauptstädten entweder in historisch gewachsener oder geplanter Form zu ‚Diplomatenvierteln’ mit eigener Infrastruktur aus internationalen Kindergärten, Schulen, Gebetshäusern und Freizeiteinrichtungen, die bevorzugt von Angehörigen der diplomatic community frequentiert werden (vgl. Mamadouh et al. 2015).
Insgesamt lassen sich also Schauplätze formeller und informeller Diplomatie unterscheiden, an denen zwischenstaatliche Beziehungen entweder öffentlichkeitswirksam dargestellt werden oder unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit gepflegt werden können. Analog dazu können auch Kommunikationsmedien eingesetzt werden, die unterschiedliche Möglichkeiten des Einschlusses bzw. Ausschlusses der Öffentlichkeit bieten. So ermöglicht Telekommunikation im Krisenfall schnelle Verständigungen unter Verzicht auf körperliche Anwesenheit und Öffentlichkeit, während Massenmedien und in zunehmendem Maße soziale Medien Kanäle bieten, Diplomatie unter Einbezug einer Öffentlichkeit zu pflegen. Typischerweise werden letztere Medien genutzt, um Beziehungen öffentlich darzustellen und öffentlichen Druck durch die Formulierung von Positionen, Forderungen und Appellen aufzubauen, während Verhandlungen im Regelfall unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, um Verhandlungsspielräume zu ermöglichen, die sonst vor dem Hintergrund eines möglichen öffentlichen Gesichtsverlustes nicht gegeben wären (vgl. Stasavage 2004).
Die wesentlichen Bedingungen des Gelingens diplomatischer Kommunikation liegen hauptsächlich in spezifischen Umgangsformen, die einerseits eine wechselseitige Anerkennung von Souveränität und andererseits wechselseitige Möglichkeiten der Einflussnahme zum Ausdruck bringen. Die Ergebnisse diplomatischer Verhandlungen müssen insofern für eine heimische und internationale Öffentlichkeit so darstellbar sein, dass wechselseitige Zugeständnisse eingeräumt werden, ohne den Eindruck des einseitigen Autonomieverlusts zu erwecken. Dies erfordert ein ausgeglichenes Verhältnis von Forderungen und Zugeständnissen zwischen souveränen und formal gleichrangigen Staaten, das in mehrfacher Hinsicht bedroht sein kann. Dazu gehören Möglichkeiten einer ‚Zwangsdiplomatie’ (eng. coercive diplomacy), in der etwa militärischer Druck auf eine Verhandlungspartei ausgeübt wird und Verhandlungsergebnisse dadurch faktisch einseitig erzwungen werden (vgl. George et al. 1994). Aber auch das Misstrauen in die Diskretion einer Verhandlungspartei kann Diplomatie zum Scheitern bringen, insofern riskante Zugeständnisse, deren öffentliches Bekanntwerden mit einem Gesichtsverlust verbunden wäre, unterbleiben (vgl. Kurizaki 2007). Und nicht zuletzt kann der aktiv herbeigeführte Gesichtsverlust einer Verhandlungspartei maßgeblich zum Abbruch von Verhandlungen beitragen. Dennoch können unter bestimmten Bedingungen Drohungen, öffentliche Angriffe und Beleidigungen ein probates Mittel der Diplomatie darstellen, wenn sie strategisch und kalkuliert eingesetzt werden.
Beispiele
(1) Das Münchner Abkommen von 1938
Entgegenkommen wird in Verhandlungen häufig eingesetzt, um Forderungen durchzusetzen, die nicht erzwungen werden können, solange man die Souveränität des Gegenübers anerkennt. Dies zeigt sich deutlich in den Münchner Abkommen von 1938, bei denen der britische Premierminister Neville Chamberlain versuchte, Hitlers Ansprüchen auf das Sudetenland diplomatisch entgegenzukommen und einen Ausgleich zu schaffen (vgl. Bouverie 2019). Dieses Vorgehen beruhte auf dem Vertrauen darauf, weitere Aggressionen verhindern zu können.
Jedoch wurde dieses Vertrauen schnell enttäuscht, als Hitler seine Expansion fortsetzte, was die Einseitigkeit des britischen Entgegenkommens offenbarte. Dieses historische Ereignis prägte den Begriff des Appeasement in der Diplomatie, der heute oft kritisch und als Synonym für übermäßiges, potenziell verhängnisvolles diplomatisches Entgegenkommen verwendet wird, das die eigene Position schwächen kann.
(2) Kopenhagener Klimakonferenz von 2009
Während der Kopenhagener Klimakonferenz gab es Hinweise darauf, dass China, Indien, Brasilien und Südafrika wichtige Bestimmungen blockieren wollten und sich dafür die Spitzenvertreter zu einem Meeting treffen würden. Daraufhin nutzte US-Präsident Barack Obama eine ungewöhnliche Taktik, als er unangekündigt an der Eingangstür des Verhandlungsraumes erschien und um Einlass bat, während Medienvertreter das Geschehen filmten. Die mediale Präsenz machte es unmöglich, Obama vor laufender Kamera abzuweisen, ohne einen Eklat auszulösen (vgl. Stern 2024).
Diese Strategie durchbrach die übliche Trennung von öffentlicher und geheimer Sphäre in der Diplomatie. Indem Obama sich den Zugang zu einer Schlüsseldiskussion sicherte, nutzte er effektiv die Macht der Medien, um die Verhandlungsdynamik zu beeinflussen und diplomatische Blockaden zu überwinden.
(3) Richard Nixons ,mad man’-Strategie
Das Fallbeispiel zeigt eine ungewöhnliche außenpolitische Strategie von US-Präsident Richard Nixon und seinem nationalen Sicherheitsberater Henry Kissinger Ende der 1960er Jahre (vgl. Burr/Kimball 2015). Während Nixon öffentlich das Bild eines unberechenbaren Kriegstreibers pflegte, trat Kissinger als besonnener und verbindlicher Diplomat auf. Diese Rollenaufteilung war Teil von Nixons ,mad man’-Strategie, die darauf abzielte, internationale Gegner durch seine scheinbare Unberechenbarkeit zu verunsichern und gleichzeitig diplomatische Kanäle offenzuhalten. Mit dieser außenpolitischen Doppelspitze, bei der Nixon und Kissinger unterschiedliche diplomatische Rollen übernahmen, wurden verschiedene Öffentlichkeiten sowohl innerhalb der USA als auch international gezielt angesprochen. Diese Strategie erforderte eine präzise interne Koordination und war auf einen kleinen Kreis von Eingeweihten beschränkt, während das US-Außenministerium von wichtigen Entscheidungen und Verhandlungen weitgehend ausgeschlossen war. Kissinger führte sogar geheime Telefongespräche mit dem sowjetischen Botschafter, die vor dem Außenministerium geheim gehalten wurden, was die außergewöhnliche Natur dieser diplomatischen Praxis unterstreicht.
Diese Strategie zeigt, wie Misstrauen nicht nur die internationalen Beziehungen, sondern auch die inneren Strukturen einer Regierung prägte und dazu führte, dass die offizielle Außenpolitik ohne wesentliche Einbeziehung des diplomatischen Dienstes gestaltet wurde.
Literatur
Zum Weiterlesen
- Berridge, Geoff (2015): Diplomacy: Theory and Practice. London: Palgrave Macmillan UK.
- Jönsson, Christer; Hall, Martin (2005): Essence of Diplomacy. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
- Siracusa, Joseph M. (2010): Diplomacy: A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press.
Zitierte Literatur
- Balzacq, Thierry (2020): Rituals and Diplomacy. In: Balzacq, Thierry; Charillon, Frédéric; Ramel, Frédéric (Hrsg.): Global Diplomacy: An Introduction to Theory and Practice. Cham: Springer International Publishing, S. 111–122.
- Berkowitz, Roni; Heimann, Gadi; Kampf, Zohar (2024): Communicating through Protocols: The Case of Diplomatic Credential Ceremonies. In: International Political Sociology, Jg. 18, Heft 2, S. 1–19.
- Bouverie, Tim (2019): Appeasing Hitler: Chamberlain, Churchill and the Road to War. London: The Bodley Head.
- Burr, William; Kimball, Jeffrey P. (2015): Nixon’s Nuclear Specter: The Secret Alert of 1969, Madman Diplomacy, and the Vietnam War. Lawrence (Kan.): University Press of Kansas.
- Calin, Costel; Fitzpatrick, Kathy R. (2013): Diplomatic Amateurs or Qualified Professionals? Profiling the American Ambassador. In: White House Studies, Jg. 13, Heft 4, S. 387–402.
- Constantinou, Costas M.; Cornago, Noé; McConnell, Fiona (2016): Transprofessional Diplomacy. In: Brill Research Perspectives in Diplomacy and Foreign Policy, Jg. 1, Heft 4, S. 1–66.
- Faizullaev, Alisher (2013): Diplomacy and Symbolism. In: The Hague Journal of Diplomacy, Jg. 8, Heft 2, S. 91–114.
- Gamble, John King; Ku, Charlotte (1992): Choice of Language in Bilateral Treaties: Fifty Years of Changing State Practice. In: Indiana International & Comparative Law Review, Jg. 3, Heft 2, S. 233–264.
- George, Alexander L.; Simons, William E.; Hall, David K.; George, Alexander L. (Hrsg.) (1994): The limits of coercive diplomacy. Boulder: Westview Press.
- Haglund, Evan T. (2015): Striped Pants versus Fat Cats: Ambassadorial Performance of Career Diplomats and Political Appointees. In: Presidential Studies Quarterly, Jg. 45, Heft 4, S. 653–678.
- He, Xianbin (2006): The Dynamics between Language Choice and Politics in the EU. In: FORUM. Revue Internationale d’interprétation et de Traduction / International Journal of Interpretation and Translation, Jg. 4, Heft 1, S. 23–36.
- Henrikson, Alan K. (2005): The Geography of Diplomacy. In: Flint, Colin (Hrsg.): The geography of war and peace: from death camps to diplomats. Oxford: Oxford University Press, S. 369–394.
- Kurizaki, Shuhei (2007): Efficient Secrecy: Public versus Private Threats in Crisis Diplomacy. In: American Political Science Review, Jg. 101, Heft 3, S. 543–558.
- Mamadouh, Virginie; Meijer, Anne; Sidaway, James D.; van der Wusten, Herman (2015): Toward an Urban Geography of Diplomacy: Lessons from The Hague. In: The Professional Geographer, Jg. 67, Heft 4, S. 564–574.
- McConnell, Fiona (2018): Performing Diplomatic Decorum: Repertoires of „Appropriate” Behavior in the Margins of International Diplomacy. In: International Political Sociology, Jg. 12, Heft 4, S. 362–381.
- Neumann, Iver B. (2013): Diplomatic Sites: A Critical Enquiry. London: Hurst.
- Nishikawa-Pacher, Andreas (2024): How Diplomacy Evolves: The Global Spread of Honorific State Awards. In: European Journal of International Relations, Jg. 30, Heft 2, S. 408–433.
- Ottaway, David B. (2010): The King’s Messenger: Prince Bandar Bin Sultan and America’s Tangled Relationship With Saudi Arabia. New York: Walker & Co.
- Satow, Ernest (2011): A Guide to Diplomatic Practice. Cambridge: Cambridge University Press.
- Sharp, Paul (1997): Who Needs Diplomats?: The Problem of Diplomatic Representation. In: International Journal, Jg. 52, Heft 4, S. 609–634.
- Sharp, Paul; Wiseman, Geoffrey (2016): The Diplomatic Corps. In: Constantinou, Costas M.; Kerr, Pauline; Sharp, Paul (Hrsg.): The SAGE Handbook of Diplomacy. Thousand Oaks: SAGE Publications Ltd., S. 171–184.
- Stanko, Nick (2001): Use of language in diplomacy. In: Kurbalija, Jovan; Slavik, Hannah (Hrsg.): Language and diplomacy. Msida, Malta: DiploProjects, S. 39–47.
- Stasavage, David (2004): Open-Door or Closed-Door? Transparency in Domestic and International Bargaining. In: International Organization, Jg. 58, Heft 4, S. 667–703.
- Stern, Todd (2024): Landing the Paris Climate Agreement: How It Happened, Why It Matters, and What Comes Next. Cambridge: MIT Press.
- Swain, Elizabeth (2017): Interpersonal Style(s) in Diplomatic Argumentation Online: A Study of Argument Schemes and Evaluation in Press Releases of UNSC Permanent Members. In: Ilie, Cornelia; Garzone, Giuliana (Hrsg.): Argumentation in Context, Bd. 10. Amsterdam: John Benjamins, S. 127–148.
- Vollmer, Hendrik (1996): Akzeptanzbeschaffung: Verfahren und Verhandlungen. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 2, S. 147–164.
- Wouters, Jan; Duquet, Sanderijn; Meuwissen, Katrien (2013): The Vienna Conventions on Diplomatic and Consular Relations. In: Cooper, Andrew F.; Heine, Jorge; Thakur, Ramesch (Hrsg.): The Oxford Handbook of Modern Diplomacy. Oxford: Oxford University Press, S. 510–543.
Zitiervorschlag
Youssef, Ramy (2025): Diplomatie. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 27.05.2025. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/diplomatie/.
DiskursGlossar
Grundbegriffe
Kontextualisieren
Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.
Narrativ
Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.
Argumentation
Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Diskurskompetenz
Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.
Agenda Setting
Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.
Medien
Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.
Macht
Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.
Metapher
In der politischen Berichterstattung ist oft davon die Rede, dass eine bestimmte Partei einen Gesetzesentwurf blockiert. Weil das Wort in diesem Zusammenhang so konventionell ist, kann man leicht übersehen, dass es sich dabei um eine Metapher handelt.
Normalismus
Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.
Techniken
Ironie
Ironie (altgriechisch εἰρωνεία (eirōneía), wörtlich ‚Verstellung‘, ‚Vortäuschung‘) ist in unserer unmittelbaren und massenmedialen Kommunikationskultur sehr bedeutsam. Sie arbeitet mit einem Bewertungsgegensatz zwischen Gesagtem und Gemeintem.
Wiederholen
Das Wiederholen von Äußerungen in öffentlichen (politischen) Diskursen zielt darauf, das Denken anderer zu beeinflussen, Wissen zu popularisieren, einseitige (z. B. fanatisierende, beschwörende, hysterische, ablenkende, pseudosachliche) Konstruktionen von Wahrheit zu erzeugen, um die soziale Wirklichkeit als intersubjektiven Konsens im einseitigen Interesse des „Senders“ zu verändern. Grundvoraussetzung ist die Annahme, dass das kollektive Denken stets mächtiger als das individuelle Denken ist.
Diskreditieren
Das Diskreditieren ist eine Praktik, mit der Diskursakteure durch verschiedenste Strategien, die von Verunglimpfungen und Verleumdungen bis hin zu rufschädigenden Äußerungen reichen, abgewertet und herabgesetzt werden.
Nähe inszenieren
Die Inszenierung von Nähe beschreibt eine Kommunikations>>praktik, bei der Akteur:innen Techniken einsetzen, um Vertrautheit, Sympathie und Authentizität zu vermitteln (z.B. das Angebot einer:s Vorgesetzten, zu duzen).
Typografie
Typografie bezeichnet im modernen Gebrauch generell die Gestaltung und visuelle Darstellung von Schrift, Text und (in einem erweiterten Sinne) auch die Dokument-Gesamtgestaltung (inklusive visueller Formen wie Abbildungen, Tabellen, Taxono-mien usw.) im Bereich maschinell hergestellter Texte (sowohl im Druck als auch auf dem Bildschirm)
Fact Checking
Fact Checking ist eine kommunikationsstrategische Interventionstechnik, bei der eine Diskursaussage auf Bild oder Textbasis unter dem Gesichtspunkt der Faktizität bewertet wird. Sie ist überwiegend in journalistische Formate eingebettet, die als Faktencheck bezeichnet werden.
Distanzieren
Distanzieren bezeichnet die Abgrenzung eines individuellen oder organisationalen Akteurs von einem anderen Akteur. Eine Distanzierung kann kommunikativ oder operativ vollzogen werden, d. h. die Abgrenzung findet verbal oder unter Aufkündigung eines Arbeitsverhältnisses statt.
Kontaktschuld-Topos
« Zurück zur ArtikelübersichtKontaktschuld-Topos Kategorie: TechnikenVerwandte Ausdrücke: Assoziationsschuld, Applaus von falscher Seite, ad hominem, Guilt by AssociationSiehe auch: Verschwörungstheorie, Moralisierung, Freund-Feind-Begriffe, Topos, Opfer-ToposAutoren:...
Schlagbilder
Der Terminus Schlagbild bezeichnet mehr oder weniger inszenierte Bilder. Ihre Bedeutung beruht nicht nur auf ihren sichtbaren (ikonischen) Formen, sondern vielmehr auf den symbolischen Inhalten, die sich durch vielfache mediale Wiederholung und Konventionen gefestigt haben.
Invektivität / Metainvektivität
Invektivität ist ein Überbegriff für den Phänomenbereich der Herabsetzung und Ausschließung mittels symbolischer Praktiken. In Invektiven (z.B. Spott, Beleidigung, sprachliche Aggression, Diskriminierung, Hassrede) werden Einzelnen oder Gruppen marginalisierte oder niedrige soziale Positionen zugeschrieben, Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften abgesprochen oder Identitäten negiert.
Schlagwörter
Wohlstand
Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.
Remigration
Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.
Radikalisierung
Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.
Bürokratie
Bürokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender Ausdrücke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen Bürokratisierung, Bürokratismus und Komposita, als wichtigstes Bürokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.
Politisch korrekt / Politische Korrektheit
Der Ausdruck politisch korrekt / Politische Korrektheit und die amerikanischen Vorbilder politically correct /P.C. / Political Correctness (Gegenteile, etwa politisch unkorrekt etc., sind mitzudenken) repräsentieren ein seit den frühen Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts populäres Deutungsmuster, mit dem weltanschauliche, ästhetische und politische Konflikte berichtet/bewertet werden, meist zuungunsten der als politisch korrekt bezeichneten Positionen, denen man eine überzogene, sowohl lächerliche als auch gefährliche Moralisierung unterstellt.
Kipppunkt
Als öffentliches Schlagwort ist Kipppunkt Teil eines Argumentationsmusters: es behauptet ein ‚Herannahen und baldiges Überschreiten einer unumkehrbaren Sachverhaltsänderung, die fatale bzw. dystopische Folgeschäden auslöst, wenn nicht umgehend bestimmte Maßnahmen eingeleitet oder unterlassen werden.‘
Verfassung
Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.
Toxizität / das Toxische
Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.
Zivilgesellschaft
Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.
Demokratie
Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.
Verschiebungen
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Partizipatorischer Diskurs
Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.
DiskursReview
Review-Artikel
Musk, Zuckerberg, Döpfner – Wie digitale Monopole die Demokratie bedrohen und wie könnte eine demokratische Alternative dazu aussehen?
Die Tech-Milliardäre Musk (Tesla, X,xAI) Zuckerberg (Meta), Bezos (Amazon) oder Pichai (Alphabet) sind nicht Spielball der Märkte, sondern umgekehrt sind die Märkte Spielball der Tech-Oligopolisten geworden.
Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im Europäischen Parlament
Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ für die Erweiterung der militärischen Ausstattung und der Verlängerung des Krieges aussprachen. Vorschläge oder Vorstöße auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)
Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit
DiskursReview Die Macht der Worte (4/4):So geht kultivierter Streit Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...
Die Macht der Worte 3/4: Sprachliche Denkschablonen
DiskursReview Die Macht der Worte (3/4):Sprachliche Denkschablonen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...
Die Macht der Worte 2/4: Freund-Feind-Begriffe
DiskursReview Die Macht der Worte (2/4): Freund-Feind-Begriffe Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...
Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen
DiskursReviewDie Macht der Worte (1/4): Wörter als Waffen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 / 06.03.2025...
Relativieren – kontextualisieren – differenzieren
Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.
Wehrhafte Demokratie: Vom Wirtschaftskrieg zur Kriegswirtschaft
Weitgehend ohne Öffentlichkeit und situiert in rechtlichen Grauzonen findet derzeit die Militarisierung der ursprünglich als „Friedensprojekt“ gedachten EU statt.
Tagung 2025: „Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung und Delegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen
„Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung undDelegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen Tagung der Forschungsgruppe Diskursmonitor Tagung: 04. bis 5. Juni 2025 | Ort: Freie Universität Berlin...
„Remigration“ – Ein Riss im Schleier der Vagheit. Diskursive Strategien rund um das Remigrationskonzept und die Correctiv-Recherchen
Die am 10. Januar veröffentlichte Correctiv-Recherche über ein rechtes Vernetzungstreffen in Potsdam sorgte für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und die größten Demonstrationen gegen Rechtsaußen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Im Fokus der Kritik…