DiskursGlossar
Versicherheitlichung
Kategorie: Verschiebungen
Verwandte Ausdrücke: Sicherheit, Securitization, Safety, Security
Siehe auch: Macht, Mediale Kontrolle, Agenda Setting, Medien
Autor: Jens Hälterlein
Version: 1.0 / 15.07.2024
Kurzzusammenfassung
Versicherheitlichung bezeichnet die dynamisierte Form des Begriffs Sicherheit, welcher sich lateinisch von ‚securitas‘ ableitet, was sich mit ‚Abwesenheit von Sorge‘ übersetzen lässt. In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren. In den Critical Security Studies hingegen werden Sicherheit und Unsicherheit als Diskursphänomene analysiert. Sie sind keine objektiven Zustände, die außerhalb diskursiver Praktiken existieren und deren Analyse demnach immer auch ihren gesellschaftlichen Konstruktionsprozess und die durch diesen legitimierten Maßnahmen sowie deren Folgen kritisch in den Blick nehmen muss. Der Begriff Versicherheitlichung wurde in den 1990er Jahren geprägt und verbreitet sich seit den 2000er Jahren insbesondere in Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, die nicht zuletzt zu einem fundamentalen Wandel in der Wahrnehmung von Unsicherheit geführt haben. Versicherheitlichung als diskursive Strategie zehrt vom unhinterfragbaren Wert der Sicherheit und reproduziert diesen zugleich. Die Inhalte und Ziele von Versicherheitlichung sind dabei ebenso wenig feststehend wie die Akteure, die entsprechende Positionen im Diskurs einnehmen. Die Effekte von Versicherheitlichung schließlich können für die als Sicherheitsproblem bzw. als deren Ursache markierten Individuen und Gruppen gravierende Folgen haben. Indem Versicherheitlichung die eigentlichen Problemursachen ignoriert, kann sie gerade zu einem Mehr an Unsicherheit führen.
Erweiterte Begriffsklärung
Für ein genaueres Verständnis des Begriffs Versicherheitlichung bietet es sich zunächst an, zu verdeutlichen, was dieser nicht umfasst. So geht bereits in der Übersetzung des englischen Begriffs Securitization ins Deutsche eine wichtige Differenzierung verloren. Während im Englischen zumeist zwischen Security und Safety unterschieden wird, umfasst das deutsche Wort beide Bedeutungsgehalte. Security bezeichnet den Schutz eines Objekts oder einer Person gegenüber nicht autorisierten Eingriffen oder Angriffen. Safety lässt sich mit ‚Betriebssicherheit‘ übersetzen und meint insofern reibungslose Abläufe in der industriellen Produktion sowie im Verkehr. Versicherheitlichung adressiert zunächst nur die dem Bereich Security zugeordneten Phänomene, Logiken und Akteure. Allerdings verschwimmen die Grenzen zwischen Safety und Security zuweilen bzw. werden diese gezielt verwischt. Das zeigt sich z. B. mit Blick auf das Sicherheitspersonal der Deutschen Bahn (DB Sicherheit), dessen Funktion für Außenstehende nicht klar ersichtlich ist.
Abzugrenzen ist Versicherheitlichung ebenso von den Konzepten subjektive Sicherheit und Sicherheitsgefühl, insbesondere da diese gerade nicht auf den diskursiven Konstruktionsprozess von Sicherheit bzw. Unsicherheit verweisen, sondern ein objektiv feststellbares Maß an Sicherheit unterstellen – in diesem Fall auf der Ebene des Bewusstseins bzw. der individuellen Vorstellung, was dann mittels Befragungen erhoben, gemessen und verglichen werden kann. Vor allem, wenn die Datenlage zu ‚objektiven Sicherheitsbedrohungen‘ nicht ausreichend oder nicht aussagekräftig ist bzw. diese Daten nicht die präferierten Schlüsse nahelegen, wird nur allzu gerne auf die ‚Sicherheitsgefühle‘ von (potenziell) Betroffenen verwiesen. Zuweilen werden ‚subjektive Sicherheit‘ und ,Sicherheitsgefühl‘ in sicherheitspolitischen Debatten sogar als zentrale Referenz für die Bewertung von Maßnahmen oder Strategien herangezogen, z. B. bei der Bewertung der polizeilichen Videoüberwachung öffentlicher Räume. Es geht in diesem Fall dann gar nicht mehr darum, wie sich eine ‚objektive Sicherheitslage‘ anhand von bestimmten Indikatoren (z. B. der polizeilichen Kriminalitätsstatistik) charakterisieren ließe, sondern nur noch darum, wie diese Sicherheitslage wahrgenommen wird. Was in empirischen Studien zur ,subjektiven Sicherheit‘ und zum ,Sicherheitsgefühl‘ gemessen wird, kann also als strategisches Element in Prozessen der Versicherheitlichung betrachtet werden, obwohl es de facto die Effekte von Versicherheitlichung sind, die hier zum Vorschein kommen.
Vor allem der Vorschlag der Copenhagen School, Sicherheit als Sprechakt zu diskutieren (Buzan et al. 1998; Wæver 1995), hat eine bedeutende Rolle dabei gespielt, Unsicherheit nicht als eine Umweltbedingung zu untersuchen, auf die reagiert wird, sondern als die diskursive Erzeugung von Unsicherheiten durch machtvolle Sicherheitsakteure. Das Hauptargument dieser Theorie der Versicherheitlichung ist, dass ein Problem nicht zu einem Sicherheitsproblem wird, weil etwas eine objektive Bedrohung für den Staat (oder ein anderes Referenzobjekt) darstellt, sondern weil ein Akteur etwas als existenzielle Bedrohung für das Überleben dieses Referenzobjekts definiert hat. Auf diese Weise hat der Akteur zugleich das Recht beansprucht, das Problem mit außergewöhnlichen Maßnahmen und Mitteln zu lösen, um das Überleben oder die Unversehrtheit des Referenzobjekts sicherzustellen und einen Zustand der Sicherheit wiederherzustellen.
In Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 hat sich in den USA und nahezu allen westlichen Staaten ein sicherheitspolitischer Diskurs etabliert, der darauf abzielt, ein Handeln unter Unsicherheit zu kultivieren (vgl. Furedi 2009). Dieses ist auf die Imagination und Antizipation sogenannten ,high impact / low probability‘ Ereignisse wie 9/11 ausgerichtet, deren Eintreten es zu verhindern gelte (vgl. Krasmann 2011: 55), oder den Umgang mit diesen einzuüben, um einen Zustand der „preparedness“ zu erreichen (Aradau 2010). Kennzeichnend für den ,war on terror‘ sind nicht nur evidenzbasierte präventive Maßnahmen, z. B. die Inhaftierung von Terrorverdächtigen auf Grundlage der Kenntnis von konkreten Anschlagsplänen. Hinzu kommen auch präemptive Maßnahmen, die unabhängig von empirischen Evidenzen für zukünftige Anschläge erfolgen können (z. B. der Irak-Krieg von 2003) (vgl. Aradau/van Munster 2011) sowie Katastrophenschutzübungen oder Planspiele, in denen Worst-Case-Szenarien terroristischer Angriff mit Chemiewaffen (vgl. Adey/Anderson 2012) oder Pockenerregern (vgl. Uncertain Commons 2013: 62 f.) simuliert werden. Des Weiteren ist Versicherheitlichung zu einem Kennzeichnen der Post-9/11-Medienlandschaft geworden. In einer als „premediation“ (Grusin 2004) bezeichneten Praxis besteht die Rolle der Medien nicht in der Darstellung dessen, was bereits geschehen ist, sondern darin, was (schlimmstenfalls) geschehen könnte. Dadurch werde das Publikum affektiv auf den Ernstfall vorbereitet, so dass sich die Sicherheitsakteure nach dem Eintreten des Ernstfalls an einem bereits bekannten Affekthaushalt der zivilen Bevölkerung orientieren können (vgl. Grusin 2004: 27).
Versicherheitlichung zehrt von der Unhinterfragbarkeit des Werts der Sicherheit und befördert diese zugleich. Gegenwärtig werden immer mehr Gebote und Verbote mit dem Verweis auf ‚Sicherheit‘ legitimiert, wobei die Motive für diesen Verweis vielfältig sein können (vgl. Wehrheim 2018): der Schutz kritischer Infrastrukturen (‚Versorgungssicherheit‘), Maßnahmen im Kontext der Pandemiebekämpfung (‚Biosicherheit‘), zum Schutz und des Erhalts der Umwelt im Zeichen der Nachhaltigkeit (‚sichere Zukunft‘) und die Regulierung und Überwachung des Internets (‚Cybersicherheit‘).
Der Wert der Sicherheit scheint so universell und so evident, dass er als Platzhalter für andere Werte (Profit, Gesundheit, Ordnung etc.) dienen kann. Auch das ist ein Aspekt von Versicherheitlichung, der sich als sekundärer Effekt aus den diskursiven Praktiken ergibt: nicht nur den im Namen der Sicherheit veranlassten Maßnahmen, sondern auch den der ‚Sicherheit‘ zugeschriebenen Bedeutungsgehalten scheinen kaum Grenzen gesetzt.
Beispiele
(1) Die historische Wandelbarkeit der Inhalte und Ziele von Versicherheitlichung zeigt sich am Beispiel der zivilen Nutzung von Atomkraft. Atomenergie wurde bereits in den 1950er Jahren im Zuge des steigenden Energiebedarfs in Folge des Wirtschaftswachstums angepriesen. Fürsprache erhält sie auch aktuell in Folge zeitweise stark steigender Energiepreise als Maßnahme zur Schaffung von (Energie-)Sicherheit. Auf der anderen Seite wurde Atomenergie mit Blick auf die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima als Unsicherheitsfaktor für Leib und Leben der Bevölkerung kritisiert (vgl. Hälterlein 2023).
(2) Wandelbar ist indes auch das Spektrum der treibenden Akteure in Diskursen der Versicherheitlichung. War die Problematisierung von Sicherheit (des Volkskörpers, der privaten Vermögen, der Verfassung oder des ganzen Landes) traditionell eine diskursive Strategie, die dezidiert konservative Parteien und Sicherheitsbehörden verfolgten, ist sie heute quer durch das politische Spektrum anzutreffen. Das zeigt insbesondere das Beispiel der sogenannten Flüchtlingskrise. Diese wird mittlerweile von Akteuren nahezu aller bürgerlichen Parteien als Sicherheitsproblem diskutiert. Insbesondere von ausländischen Straftätern und islamistischen Gefährdern würde ein hohes Sicherheitsrisiko für die deutsche Bevölkerung ausgehen.
(3) Im Hinblick auf die identifizierten Bedrohungen der Gesellschaft durch äußere, innere, eingewanderte und importierte Feinde ist das Vertreten eines Gegenstandpunkts – und sei es auch nur eine abwägende Haltung, die sich eindeutigen Positionierungen gegenüber verweigert – mit gewissen Risiken behaftet. Schnell droht hier ein diskursiver Ausschluss aus dem Kreis legitimer Positionen oder sogar ein Ausschluss von staatlichen bzw. öffentlichen Zuwendungen. Noch einschneidender sind die durch Versicherheitlichung legitimierten Maßnahmen gegen Terrorismus, organisierte Kriminalität und illegale Einwanderung, insbesondere im Hinblick auf Freiheits-, Bürger- und Menschenrechte, ohne jedoch den eigentlichen Ursachen der Phänomene, die als Sicherheitsprobleme definiert werden, auf den Grund zu gehen. Das zeigt sich gegenwärtig besonders mit Blick auf die sogenannte Flüchtlingskrise. Anstatt die eigentlichen Gründe der Flüchtlingskrise – Kriege, globale ökonomische Ausbeutungsverhältnisse, Auswirkungen des Klimawandels etc. – in den Blick zu nehmen und Lösungsansätze zu diskutieren, werden westliche Nationalstaaten und die Europäische Union zu Festungen ausgebaut. Das macht es für Menschen auf der Flucht nicht nur unmöglich, auf legalem Wege Zuflucht zu suchen, sondern schafft auch eine lebensbedrohliche Situation. Allein im Jahr 2023 starben oder verschwanden mindestens 3760 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer (vgl. UNO 2024). Daran zeigt sich zugleich, wie selektiv der Sicherheitsbegriff in all seiner Universalität ist: Die Sicherheit der Menschen auf der Flucht spielt in den Sicherheitserwägungen westlicher Politiker*innen die geringste Rolle.
(4) Zuweilen kann Versicherheitlichung paradoxe Formen annehmen, etwa wenn in den USA das Schüren der Angst vor einer allgegenwärtigen Kriminalität der Verteidigung des Rechts auf privaten Waffenbesitz dient und dadurch gerade für eine Zunahme an nicht nur gefühlter Unsicherheit sorgt, wie insbesondere die regelmäßigen School-Shootings zeigen.
Literatur
Zum Weiterlesen
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Balzacq, Thierry (2011): Securitization Theory: How Security Problems Emerge and Dissolve. London: Routledge.
Zitierte Literatur
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Adey, Peter; Anderson, Ben (2012) Anticipating emergencies. Technologies of preparedness and the matter of security. In: Security Dialogue, Heft 2, Jg. 43, S. 99–117.
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Aradau, Claudia (2010) Security That Matters. Critical Infrastructure and Objects of Protection. In: Security Dialogue, Heft 5, Jg. 41, S. 491–514.
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Aradau, Claudia; van Munster, Rens (2011) Politics of catastrophe. Genealogies of the unknown. Abingdon, Oxon: Routledge.
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Buzan, Barry; Waever, Ole; Wilde, Jaap de (1998): Security. A new framework for analysis. Boulder: Lynne Rienner.
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Furedi, Frank (2009) Precautionary Culture and the Rise of Possibilistic Risk Assessment. In: Erasmus Law Review, Heft 2, Jg. 2, S. 197–220.
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Grusin, Robert (2004) Premediation. In: Criticism, Heft 1, Jg. 46, S. 17–39.
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Hälterlein, Jens (2023) Technological Expectations and the Making of Europe. In: Science & Technology Studies, Heft 2, Jg. 36, S. 26–46.
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Krasmann, Susanne (2011): Der Präventionsstaat im Einvernehmen. Wie Sichtbarkeitsregime stillschweigend Akzeptanz produzieren. In: Hempel, Leon; Krasmann, Susanne; Bröckling, Ulrich (Hrsg.): Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: Springer VS.
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Uncertain Commons (2013) Speculate this! Durham, London: Duke University Press.
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UNO (2024): Flucht nach Europa. In: UNO-Flüchtlingshilfe. Online unter: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/mittelmeer ; Zugriff: 10.07.2024.
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Waever, Ole (1995): Securitization and Desecurization. In: Lipschutz, Ronnie (Hrsg.): On Security. New York: Columbia University Press, S. 46–86.
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Wehrheim, Jan (2018): Kritik der Versicherheitlichung. Thesen zur (sozialwissenschaftlichen) Sicherheitsforschung. In: Kriminologisches Journal, Heft 3, Jg. 50, S. 211–221.
Zitiervorschlag
Hälterlein, Jens (2024): Versicherheitlichung. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 15.07.2024. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/versicherheitlichung.
Grundbegriffe
Argumentation
Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Diskurskompetenz
Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.
Agenda Setting
Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.
Medien
Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.
Macht
Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.
Normalismus
Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.
Wissen
Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.
Werbung
Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf Einführung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.
Mediale Kontrolle
Medien werden vielfältig zur Durchsetzung von Macht verwendet. So in der Zensur, wenn eine politische Selektion des Sagbaren und des Unsagbaren stattfindet; in der Propaganda, wenn eine Bevölkerung von den Ansichten oder wenigstens der Macht einer bestimmten Gruppe überzeugt werden soll; oder in der Überwachung, die unerwünschtes Verhalten nicht nur beobachten, sondern unwahrscheinlich machen soll.
Techniken
Nicht-Entschuldigen / Nonpology
Mit der Nicht-Entschuldigung verfolgen Diskursakteure verschiedene Ziele: sie wollen Ablenken von der eigenen Schuld, erhoffen sich eine Reputationsverbesserung durch vorgespielte Reue oder wollen (andere) negative Konsequenzen abwenden und sich in der Öffentlichkeit positiv als fehlereinsichtig und selbstkritisch darstellen.
Hashtag
Mit dem Begriff Hashtag wird auf eine kommunikative Technik der spontanen Verschlagwortung und Inde-xierung von Postings in der Internetkommunikation verwiesen, bei der Sprache und Medientechnik sinnstif-tend zusammenwirken. Der Gebrauch von Hashtags hat eine diskursbündelnde Funktion: Er ermöglicht es, Inhalte zu kategorisieren (#Linguistik, #Bundestag), such- und auffindbar zu machen (#Bundestags-wahl2025), aber auch zu bewerten (#nicetohave) und zu kontextualisieren (#Niewiederistjetzt).
Diminutiv
Auch in Politik, Wirtschaft, Presse und Werbung werden Diminutiv-Formen zu rhetorischen Zwecken eingesetzt, um etwa emotionale Nähe zu konstruieren (unser Ländle), eine Person abzuwerten (die ist auch so ein Schätzchen), einen als ‚riskant‘ geltenden Sachverhalt zu ‚verharmlosen‘ (ein Bierchen) oder eine ‚Sachverhaltsbanalisierung‘ zurückzuweisen (Ihre ‚Demonstratiönchen‘).
Sündenbock
Der Sündenbock bezeichnet eine Person oder Gruppe, die stellvertretend für etwas beschuldigt wird. Hinter dieser Schuldzuweisung steckt ein kommunikativer Mechanismus des Gruppenzusammenhalts, der sich in verschiedenen kulturellen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten durch Rituale, Mythen, Erzählungen oder Verhalten manifestiert.
Redenschreiben
Wer Reden schreibt, bereitet die schriftliche Fassung von Reden vor, die bei besonderen Anlässen gehalten werden und bei denen es auf einen ausgearbeiteten Vortrag ankommt.
Offener Brief
Bei einem offenen Brief handelt es sich um eine strategische Praktik, die genutzt wird, um Anliegen einer Person oder Gruppe öffentlich sichtbar zu machen. Die Texte, die als offene Briefe bezeichnet werden, richten sich an eine Person oder Institution und werden über Medien veröffentlicht.
Kommunikationsverweigerung
Unter dem Begriff Kommunikationsverweigerung lässt sich ein Bündel von Praktiken und Strategien fassen, die den kommunikativen Austausch zu erschweren oder zu verhindern suchen.
Flugblatt
Unter Flugblättern versteht man einseitige Druckerzeugnisse, die ursprünglich meist illustriert waren. Eng verwandt sind die mehrseitigen Flugschriften. Während Flugschriften und Flugblätter heute kostenlos verteilt werden oder zur Mitnahme ausliegen, wurden sie in der Frühen Neuzeit zunächst als Handelswaren verkauft und gingen so als frühe Massenmedien den Zeitungen voraus.
Passivierung
Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenüber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden müssen, was beispielsweise in Gesetzestexten für eine (gewünschte) größtmögliche Abstraktion sorgt („Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 3 GG).
Aufopferungs-Topos
Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren.
Schlagwörter
Verfassung
Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.
Toxizität / das Toxische
Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.
Zivilgesellschaft
Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.
Demokratie
Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.
Plagiat/Plagiarismus
Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.
Fake News
Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.
Lügenpresse
Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.
Antisemitismus
Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene Phänomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloßen Distanzierung und Behauptung jüdischer Andersartigkeit, über vollständig ausgearbeitete Weltbilder, die Jüdinnen*Juden für sämtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken.
Grammatiknazi / Grammar Nazi
Das überwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi – als Übersetzung von engl. grammar nazi – wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den Äußerungen anderer (häufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen üben.
Respekt
Respekt oder respektvolles Verhalten wird eingefordert für die Eigengruppe (bzw. von der Eigengruppe), für wirklich oder vermeintlich diskriminierte Gruppen, für abweichende Meinungen. Mitgemeint ist bei der Forderung nach Respekt meist eine positiv bewertete Szene der (sozialen, kulturellen, ethnischen, sexuellen etc.) Vielfalt/Diversität.
Verschiebungen
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.