
DiskursGlossar
Aufopferungs-Topos
Kategorie: Techniken
Verwandte Ausdrücke: Opferbereitschaft, Hingabe, Einsatz, Altruismus, Selbstaufgabe, Heldentum
Siehe auch: Topos, Opfer-Topos, Analogie-Topos, Konsequenz-Topos, Topos der düsteren Zukunftsprognose, Be(Über)lastungs-Topos, Gerechtigkeitsargument, Differenzierungs-Topos, Autoritäts-Topos
Autorin: Carina Krajczewski
Version: 1.0 / Datum: 01.06.2023
Kurzzusammenfassung
Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren. Diese beiden Varianten des Aufopferungs-Topos lassen sich wie folgt umschreiben:
Variante 1: Weil jemand sich (nicht) in umfangreichem Maß für eine Sache engagiert bzw. aufopfert, hat diese Sache einen hohen (geringen) Wert.
Variante 2: Weil jemand sich (nicht) in umfangreichem Maß für eine Sache engagiert bzw. aufopfert, verdient sein Anliegen (keine) besondere Wertschätzung und Privilegien.
Bei der ersten Variante wird der Wert einer Sache vor dem Hintergrund der Größe bzw. der Anzahl erbrachter ‚aufopferungsvoller‘ Taten bemessen. Die zweite Variante setzt die Anerkennung eines hohen Wertes für eine Sache bereits voraus, um daran die Qualität einer ‚aufopferungsvollen‘ Tat zu bewerten und daraus besondere Privilegien gegenüber Dritten zu plausibilisieren und zu legitimieren.
Erweiterte Begriffsklärung
Der Aufopferungs-Topos wurde historisch vornehmlich von (christlicher) Opfertheologie und von Heldendiskursen, wie beispielsweise in Narrativen des Nationalsozialismus, geprägt. Die Bereitschaft, Opfer zu erbringen, galt als kriegerische Tugend bzw. als Dienst für die Gemeinschaft (vgl. Virchow 2010: 41-42). Charakteristisch für Opferbereitschaft war, dass diese nicht entschädigt wird und daher in engem Zusammenhang mit Altruismus und der sozialen Verpflichtung, anderen zu helfen, steht.
Im Sinne der eingangs definierten ersten Variante ordnen Perelman und Olbrechts-Tyteca (1971) das ‚Opfer-Argument‘ als quasilogisches Argument, als einen Spezialfall von Vergleichsargumenten, ein. Durch den Gebrauch dieses Arguments erhöhe sich der Wert eines Ziels, „indem es mit dem hohen Aufwand verglichen wird, der eingesetzt worden ist, um das Ziel zu erreichen“ (Ueding 2003: 347-348). Mit anderen Worten: Die Größe bzw. die Anzahl von erbrachten ‚Opfern‘ bildet den Maßstab, um den Wert des Ziels zu bewerten, für welches das ‚Opfer‘ erbracht wurde. Der geleistete Ressourcenaufwand steht also symbolisch für den Wert eines Ziels. Die Struktur des Topos lässt sich wie folgt paraphrasieren (Walton 2008: 322):
Erste Prämisse: Für die Sache x wird das Opfer S erbracht.
Zweite Prämisse: Wenn ein großes [kleines] Opfer für x erbracht wurde, dann steigt [fällt] der Wert V für x.
Dritte Prämisse: Ein großes [kleines] Opfer S wurde für x erbracht.
Schlussfolgerung: x hat einen großen [kleinen] Wert.
Aus einem hohen Wert für eine Sache wird eine handlungsleitende Funktion abgeleitet, sodass dieser Sache besondere Beachtung geschenkt werden müsse und zukünftige Handlungen und Entscheidungen entsprechend dieser Sache ausgerichtet werden müssten.
Die erfolgreiche Anerkennung einer ‚Aufopferung‘ ist von zwei Aspekten abhängig: (a) vom (öffentlichen) Ansehen des sich aufopfernden Akteurs einerseits sowie (b) von der (öffentlichen) Bewertung der Angemessenheit eines geleisteten Ressourcenaufwands für eine Sache andererseits. Ersteres (a) umfasst, dass der Wert des (postulierten) Ressourceneinsatzes mit dem Ansehen des sich aufopfernden Akteurs verknüpft wird. Infolgedessen ist der Gebrauch des Aufopferungs-Topos der Variante eins von Akteuren mit einem hohen Sozialprestige erfolgversprechender als bei Akteuren mit geringerem Prestige. Fehlendes Ansehen kann allerdings potenziell damit kompensiert werden, dass diese Akteure einen ‚größeren‘ Ressourcenaufwand leisten als jene, die aufgrund ihres größeren gesellschaftlichen Ansehens einen geringeren Aufwand leisten müssen, um den Wert ihrer Sache in der öffentlichen Wahrnehmung bedeutungsvoll zu inszenieren. Die Anerkennung der Aufopferungsdarstellung ist ferner (b) davon abhängig, inwiefern das soziale Umfeld den (inszenierten) Ressourcenaufwand als angemessen bzw. nützlich für eine Sache bewertet. In der öffentlichen Wahrnehmung muss der Umfang des Ressourceneinsatzes zu den Umständen der Sache passen, andernfalls wirkt der Ressourceneinsatz ‚übertrieben‘. Zudem muss glaubwürdig gemacht werden, dass der Ressourceneinsatz zu dem gewünschten Ziel des sich aufopfernden Akteurs geführt hat bzw. führen könnte, andernfalls könnte der Einsatz nicht als Aufopferung, sondern als ‚naiv‘ oder unzweckmäßig gelten. Wenn das soziale Umfeld den Ressourceneinsatz eines Akteurs also als unverhältnismäßig betrachtet, wird auch die Selbstaufgabe als unangemessen bzw. unnütz perspektiviert und es droht Imageverlust für die Betroffenen (vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca 1971: 249).
Im Rahmen der zweiten Variante des Aufopferungs-Topos bildet eine hohe Bewertung einer Sache (innerhalb einer Gruppe mit gleichem Wertekontext) den Ausgangspunkt, von dem aus Akteure mit Verweis auf einen geleisteten Ressourcenaufwand versuchen, Partikularinteressen und Sonderrechte gegenüber Konkurrenten durchzusetzen: Die Schlussfolgerung der Variante (1) bildet somit eine wichtige Prämisse der Variante (2). Variante (2) spielt in der Politischen Kommunikation in der Regel eine übergeordnete Rolle.
Der Aufopferungs-Topos beruht hier auf der in bestimmten (politischen) Diskursen geteilten Prämisse, dass Personen, die sich in besonderem Maße einer Sache hingeben (‚aufopfern‘), ein Recht darauf haben, bei Entscheidungen über diese Sache(n) auch besondere Mitsprache erhalten und Ansprüche geltend machen können. Das ‚Aufopfern‘ impliziert dabei, dass ein Ressourcenaufwand nicht oder nicht angemessen entlohnt wird. Die (behauptete) Hingabe und der damit unterstellte Ressourcenaufwand sind daher häufig mit der Erwartungshaltung verknüpft, Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren sowie für diesen Ressourcenaufwand zumindest mittelfristig entschädigt zu werden.
Die (behauptete) Opferbereitschaft für eine Sache bildet außerdem eine vorteilhafte Diskursposition, weil ein persönlicher Ressourcenüberfluss postuliert wird. Dabei versuchen Akteure glaubwürdig zu kommunizieren, dass sie sich möglichen negativen Konsequenzen annähmen, weitere Bedürfnisse zurückstellten und sich an persönliche Grenzen begäben. Damit die Inszenierung einer ‚aufopferungsvollen‘ Handlung gelingt, muss diese mit einem anerkannten Mehraufwand an (persönlichen) Ressourcen verbunden sein, der über das üblicherweise erwartete Maß hinausgeht. Eine zentrale Bedingung für den erfolgreichen Gebrauch des Topos ist außerdem, dass die ihn nutzenden Akteure als in unzureichendem bzw. keinem Maße für ihre ‚Aufopferung‘ entlohnt gelten und dass das adressierte Umfeld die Handlung als (be)lohnenswert bewertet. Daher findet der Aufopferungs-Topos insbesondere in Bereichen Anwendung, in denen hochgeschätzte und als ‚systemrelevant‘ geltende Arbeit geleistet wird, wie beispielsweise in ehrenamtlichen Tätigkeiten oder Care-Arbeit.
Eine in alltäglichen Praktiken verkörperte Opferbereitschaft, die als von gesamtgesellschaftlich wichtiger Bedeutung gilt, wird vornehmlich in mediopolitischen Kontexten heroisiert, indem sich ‚aufopfernde‘ Akteure zum Beispiel als Alltagshelden bezeichnet werden (Beispiel 2). Sie zeigen in diesem Narrativ üblicherweise dadurch ‚Opferbereitschaft‘, dass sie persönlich ein nicht selbstverständliches Risiko für eine lobenswerte Sache einzugehen bereit waren oder durch eine ehrenamtliche Tätigkeit auf ihre Freizeit verzichteten. Der zugemessene Wert besteht darin, einen ‚solidarischen Beitrag für die Gesellschaft‘ zu leisten, der als positive gesellschaftliche Wirkung, z.B. als Stärkung einer demokratischen Werteordnung, perspektiviert werden kann (vgl. Koch 2020: 151).
Darin offenbart sich das strategische Potential des Aufopferungs-Topos: Der Topos kann als Appell verwendet werden, um andere zu gemeinschaftsförderlichen und solidarischen Verhalten zu verpflichten und zu disziplinieren. Wenn jedermann einen solidarischen Beitrag für die Gesellschaft leiste, profitierten alle davon. Besonders in politischen Diskurskontexten wird der Aufopferungs-Topos in dieser Weise als moralisierende Kommunikationspraktik verwendet.
Beispiele
(1) In politischen Reden ab den 1950er Jahren, beispielsweise nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR, diente der Aufopferungs-Topos (in Form der ersten Variante) dazu, Aufstände trotz der Niederschlagung durch das SED-Regime als „moralische Siege mit Vorbildcharakter“ (Fritton 1998: 64) darzustellen. Die ‚Aufopferung‘ der Demonstranten wurde als positives Argument verwendet, um den hohen Wert ihres Ziels – der menschlichen Freiheit – zu bekräftigen. Hier wird die Nähe zum Freiheits-Topos deutlich (vgl. Fritton: 251): Die ‚Opferbereitschaft‘ der Demonstranten resultiert aus ihrem starken Freiheitswillen, von welchem ihre Forderungen u.a. nach freien Wahlen, der Freilassung politischer Häftlinge, der Rücktritt der Regierung abzuleiten seien (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2013).
(2) Im Corona-Diskurs wird der Aufopferungs-Topos (im Sinne der zweiten Variante) häufig sowohl in Selbstzuschreibung von den sich ‚aufopfernden‘ Akteuren als auch in Fremdzuschreibung vor allem in sozialen Netzwerken und Medien verwendet. Zahlreiche Berufsgruppen, insbesondere im Gesundheitssektor, waren unmittelbar von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen, ‚opferten‘ ihre eigene Gesundheit und gingen an ihre persönlichen Grenzen, um Erkrankte zu behandeln und die gesellschaftliche Versorgung sicherzustellen. Ihr gezeigtes Engagement wurde gesellschaftlich (zumindest symbolisch) anerkannt und heroisiert, indem sie als Helden des Krisenalltags (Wergin 2020) oder Retter in der Corona-Krise (Weiß 2020) bezeichnet werden.
Helden opfern etwas, was viele andere Menschen nicht bereit sind zu geben. So auch unsere stillen Helden auf dieser Seite: Sie setzen sich täglich in einem Testbus der Gefahr einer Infektion aus. Sie betreuen die Kinder von den ‚Systemrelevanten‘ – und halten damit das Rad am Laufen, während sie sich um ihre eigenen Kinder nicht kümmern können. Sie fahren uns zur Arbeit, sie reinigen unsere Gebäude, sie pflegen, beschützen und retten uns, bringen Kinder zur Welt, unterrichten die älteren von ferne und sorgen dafür, dass wir im Supermarkt Klopapier in den Regalen finden. Sie opfern dafür nicht nur ihre Sicherheit und vielleicht ihre eigene Gesundheit, sondern auch viele Nerven. (Weiß 2020)
Öffentlich wurde ihnen mit Applaus von Balkonen und anderen symbolischen Formen Dankbarkeit und Anerkennung für ihren unermüdlichen Einsatz gezeigt (vgl. Spiegel 2020). In Nachrichtenportalen dagegen wurde häufig kritisiert, dass anerkennende Worte nicht genügten, um das gezeigte Engagement der Pflegekräfte zu honorieren – der Fokus des Diskurses wird auf die schlechten Arbeitsbedingungen und die schlechte Bezahlung von Pflegekräften, die seit mehreren Jahren ein zentrales Thema in Wahlkämpfen und politischen Diskussionen sind, verlagert.
Hier wird der Topos in zweifacher Form angewandt. Erstens wurde vor dem Hintergrund ihres geleisteten Engagements für die Gemeinschaft im Rahmen des Topos die Forderung formuliert, dass Pflegekräfte für ihren anstrengenden Beruf besser vergütet werden sollten (vgl. u.a. Thurau 2020). Des Weiteren erfüllt der Aufopferungs-Topos auch eine Appellfunktion: Pflegekräfte baten ihre Mitbürger, sich ebenfalls zu solidarisieren und gemeinschaftsförderlich zu verhalten, indem sie daheimbleiben und damit den Krankenstand geringhalten sollten. Hierbei appelliert der Topos an die Vernunft und Solidarität gegenüber den Pflegekräften, sich im gleichen Maße ‚aufzuopfern‘ bzw. zu engagieren.
Literatur
Zum Weiterlesen
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Knobloch, Clemens (2020): Die Figur des Opfers und ihre Transformation im politischen Diskurs der Gegenwart. In: Zeitschrift für Politik, Heft 4, Jg. 67, S. 455–472.
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Perelman, Chaïm; Olbrechts-Tyteca, Lucie (1971): The new rhetoric: A treatise on argumentation. Notre Dame [u.a.]: University of Notre Dame Pr.
Zitierte Literatur und Belege
- Bundeszentrale für politische Bildung (2013): Der Aufstand des 17. Juni 1953. Online unter: https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/der-aufstand-des-17-juni-1953/ ; Zugriff: 12.12.2022.
- Fritton, Matthias (1998): Die Rhetorik der Deutschlandpolitik. Eine Untersuchung deutschlandpolitischer Rhetorik der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Reden anläßlich des Gedenkens an den 17. Juli 1953. Stuttgart: J.B. Metzler.
- Koch, Daniel (2020): Der »Held« im Deutschen. Eine linguistische Konzeptanalyse. Berlin; Boston: De Gruyter.
- Koch, Daniel (2021): „Sie alle, Sie sind die Heldinnen und Helden in der Corona-Krise.“: Heldentum in Zeiten der Pandemie. In: Linguistik Online, Heft 1, Jg. 106, S. 67–85.
- Ueding, Gerd (2003): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Berlin; Boston: De Gruyter.
- Perelman, Chaïm; Olbrechts-Tyteca, Lucie (1971): The new rhetoric: A treatise on argumentation. Notre Dame: University of Notre Dame Pr.
- Spiegel (2020): Der Klang der Dankbarkeit. Online unter: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/coronavirus-applaus-fuer-helfer-aus-fenstern-und-balkonen-der-klang-der-dankbarkeit-a-d98cda75-610a-4a65-a70d-5e2c134fd6d9 ; Zugriff: 25.02.2023.
- Thurau, Jens (2020): Kranken- und Altenpfleger: Die unterbezahlten Helden der Krise. In: Deutsche Welle. Online unter: https://www.dw.com/de/kranken-und-altenpfleger-die-unterbezahlten-helden-der-krise/a-54196179 ; Zugriff: 25.02.2023.
- Virchow, Fabian (2010): Tapfer, stolz, opferbereit – Überlegungen zum extrem rechten Verständnis »idealer Männlichkeit«. In: Claus, Robert; Lehnert, Esther; Müller, Yves (Hrsg.) (2010): »Was ein rechter Mann ist …« Männlichkeiten im Rechtsextremismus. Berlin: Karl Dietz Verlag, S. 39–52.
- Walton, Douglas N. (2008): Argumentation Schemes. Cambridge: Cambridge University Press.
- Weiß, Theresa (2020): Stille Helden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online unter: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/retter-in-der-corona-krise-die-stillen-helden-des-alltags-16763722.html ; Zugriff: 25.02.2023.
- Wergin, Clemens (2020): Die Helden des Krisenalltags verdienen unseren Dank. In: Welt. Online unter: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article206645409/Corona-Die-Helden-des-Krisenalltags-verdienen-unseren-Dank.html ; Zugriff: 25.02.2023.
Zitiervorschlag
Krajczewski, Carina (2023): Aufopferungs-Topos. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 21.05.2023. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/aufopferungs-topos.
DiskursGlossar
Grundbegriffe
Diskurssemantische Verschiebung
Mit dem Begriff der diskurssemantischen Verschiebung wird in der Diskursforschung ein Wandel in der öffentlichen Sprache und Kommunikation verstanden, der auf mittel- oder län-gerfristige Veränderung des Denkens, Handelns und/oder Fühlens größerer Gesellschafts-gruppen hinweist.
Domäne
Der Begriff der Domäne ist aus der soziologisch orientierten Sprachforschung in die Diskursforschung übernommen worden. Hier wird der Begriff dafür verwendet, um Muster im Sprachgebrauch und kollektiven Denken von sozialen Gruppen nach situationsübergreifenden Tätigkeitsbereichen zu sortieren.
Positionieren
Positionieren ist Grundbestandteil menschlicher Kommunikation. Wann immer wir miteinander interagieren und kommunizieren, bringen wir uns selbst, andere und die Objekte, über die wir sprechen, in bestimmte Relationen zueinander.
Deutungsmuster
Unter einem Deutungsmuster wird die problem- und lösungsbezogene Interpretation gesellschaftlicher und politischer Tatbestände verstanden, die Aussicht auf Akzeptanz in sozialen Gruppen hat. Der Begriff des Deutungsmusters hat Ähnlichkeit mit den Begriffen der Theorie und Ideologie. Meist werden gesellschaftlich verbreitete Leitdeutungen, die oft mit Schlagwörtern und Argumentationsmustern einhergehen (wie Globalisierung, Kapitalismus, Leistungsgesellschaft, Chancengleichheit etc.) als Beispiele für Deutungsmuster genannt.
Sinnformel
‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und ähnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.
Praktik
Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes Bündel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrücken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).
Kontextualisieren
Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.
Narrativ
Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.
Argumentation
Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Techniken
Dogwhistle
Unter Dogwhistle wird in Teilen der Forschung eine doppeldeutige Äußerung verstanden, die eine offene und eine verdeckte Botschaft an jeweils eine Zuhörerschaft kommuniziert.
Boykottaufruf
Der Boykottaufruf ist eine Maßnahme, die darauf abzielt, ein Ziel, also meist eine Verhaltensänderung des Boykottierten, hervorzurufen, indem zu einem Abbruch etwa der wirtschaftlichen oder sozialen Beziehungen zu diesem aufgefordert wird.
Tabuisieren
Das Wort Tabuisierung bezeichnet die Praxis, etwas Unerwünschtes, Anstößiges oder Peinliches unsichtbar zu machen oder als nicht akzeptabel zu markieren. Das Tabuisierte gilt dann moralisch als unsagbar, unzeigbar oder unmachbar.
Aus dem Zusammenhang reißen
Das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen gehört in den Funktionskreis der Redewiedergabe bzw. der Wiedergabe kommunikativer Ereignisse. Es kann (1) als intentionale argumentativ-polemische Strategie für ganz unterschiedliche diskursive Zielsetzungen von Akteuren genutzt werden, oder (2) es kann SprecherInnen und SchreiberInnen in unbeabsichtigter, fehlerhafter Weise unterlaufen.
Lobbying
Lobbying ist eine Form strategischer Kommunikation, die sich primär an Akteure in der Politik richtet. Beim Lobbying wird ein Bündel von kommunikativen Tätigkeiten mit dem Ziel eingesetzt, die Entscheidungen von Personen mit politischem Mandat oder den Entstehungsprozess von neuen Gesetzestexten interessengeleitet zu beeinflussen.
Karten
Karten dienen dazu, Raumausschnitte im Hinblick auf ausgewählte Charakteristika so darzustellen, dass die Informationen unmittelbar in ihrem Zusammenhang erfasst und gut kommuniziert werden können. Dazu ist es notwendig, Daten und Darstellungsweisen auszuwählen und komplexe und oft umkämpfte Prozesse der Wirklichkeit in einfachen Darstellungen zu fixieren.
Pressemitteilung
Pressemitteilungen sind standardisierte Mitteilungen von Organisationen, die sich an Journalist:innen und andere Multiplikator:innen richten. Sie dienen der offiziellen und zitierfähigen Informationsweitergabe und übernehmen zugleich strategische Funktionen in der öffentlichen Kommunikation und Meinungssteuerung.
Shitstorm
Der Begriff Shitstorm beschreibt eine relativ junge Diskurskonstellation, die seit den 2010er Jahren an Bedeutung gewonnen hat und gemeinhin als Online-Wutausbruch bezeichnet wer-den kann.
Tarnschrift
Als Tarnschrift bezeichnet man unter den Bedingungen von Zensur und Verfolgungsrisiko veröffentliche Texte, die insbesondere in der strategischen Kommunikation des NS-Widerstands eine zentrale Rolle spielten.
Ortsbenennung
Die Benennung von Orten dient in erster Linie dazu, den jeweiligen geografischen Ort zu lokalisieren und ihn zu identifizieren. Doch Ortsnamen besitzen eine soziale Dimension und spielen eine entscheidende Rolle bei der sprachlich-kulturellen Identitätskonstruktion.
Schlagwörter
Echokammer
Der Begriff der Echokammer steht in seiner heutigen Verwendung vor allem im Zusammenhang mit der Nutzung Sozialer Medien. Er verweist metaphorisch auf einen digitalen Kommunikations- und Resonanzraum, in dem Mediennutzer*innen lediglich Inhalten begegnen, die ihre eigenen, bereits bestehenden Ansichten bestätigen, während abweichende Perspektiven und Meinungen ausgeblendet bzw. abgelehnt werden.
Relativieren
Der Ausdruck relativieren besitzt zwei zentrale Bedeutungsvarianten: In bildungssprachlichen und wissenschaftlichen Kontexten bezeichnet er eine analytische Praxis, bei der Aussagen, Begriffe oder Phänomene durch Bezugnahme auf andere Sachverhalte eingeordnet, differen-ziert und in ihrer Geltung präzisiert werden.
Massendemokratie
Geprägt wurde der Begriff Massendemokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von völkisch-konservativen Akteuren (prominent darunter Carl Schmitt 1926). Der Ausdruck Masse hatte damals bei den bürgerlichen Eliten eine rundum bedrohliche Assoziation.
Social Bots
Als Social Bots werden Computerprogramme bezeichnet, die in der Lage sind, in sozialen Medien Kommunikation menschlicher Nutzer*innen (teilweise) automatisiert nachzuahmen.
Kriegsmüdigkeit
Der Ausdruck Kriegsmüdigkeit bezeichnet die emotionale und physische Erschöpfung von Menschen, die einen Krieg erleben, sowie die gesellschaftliche und politische Ermüdung angesichts langanhaltender Konflikte. Er beschreibt den sinkenden Kampfeswillen bei Kriegsparteien und heute wird er auch für das wachsende Desinteresse an Kriegsthemen in Medien und Öffentlichkeit genutzt.
Woke
Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunächst den Bewusstseinszustand der Aufgeklärtheit über die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.
Identität
Unter Identität versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.
Wohlstand
Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.
Remigration
Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.
Radikalisierung
Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.
Verschiebungen
Dehumanisierung
Mit Dehumanisierung bzw. Anthropomorphisierung werden solche kommunikativen Techniken und Praktiken bezeichnet, die Personen, Sachverhalten oder Gegenständen menschliche Eigenschaften ab- bzw. zusprechen. Dehumanisierung und Anthropomorphisierung können sowohl durch sprachliche Mittel als auch durch andere, z. B. bildliche, Zeichen vollzogen werden.
Kriminalisierung
Kriminalität meint ein Verhalten, das gegen ein Gesetz verstößt. Folglich bedeutet Kriminalisierung im engeren Sinne den Vorgang, durch den Verhalten ungesetzlich gemacht wird – indem Gesetze geschaffen werden.
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Partizipatorischer Diskurs
Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.
DiskursReview
Review-Artikel
Musk, Zuckerberg, Döpfner – Wie digitale Monopole die Demokratie bedrohen und wie könnte eine demokratische Alternative dazu aussehen?
Die Tech-Milliardäre Musk (Tesla, X,xAI) Zuckerberg (Meta), Bezos (Amazon) oder Pichai (Alphabet) sind nicht Spielball der Märkte, sondern umgekehrt sind die Märkte Spielball der Tech-Oligopolisten geworden.
Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im Europäischen Parlament
Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ für die Erweiterung der militärischen Ausstattung und der Verlängerung des Krieges aussprachen. Vorschläge oder Vorstöße auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)
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Relativieren – kontextualisieren – differenzieren
Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.
Wehrhafte Demokratie: Vom Wirtschaftskrieg zur Kriegswirtschaft
Weitgehend ohne Öffentlichkeit und situiert in rechtlichen Grauzonen findet derzeit die Militarisierung der ursprünglich als „Friedensprojekt“ gedachten EU statt.
Tagung 2025: „Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung und Delegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen
„Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung undDelegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen Tagung der Forschungsgruppe Diskursmonitor Tagung: 04. bis 5. Juni 2025 | Ort: Freie Universität Berlin...
„Remigration“ – Ein Riss im Schleier der Vagheit. Diskursive Strategien rund um das Remigrationskonzept und die Correctiv-Recherchen
Die am 10. Januar veröffentlichte Correctiv-Recherche über ein rechtes Vernetzungstreffen in Potsdam sorgte für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und die größten Demonstrationen gegen Rechtsaußen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Im Fokus der Kritik…