DiskursGlossar

Bürokratie(-abbau)

Kategorie: Schlagwörter
Verwandte Ausdrücke: Bürokratisierung, Flexibilisierung, Deregulierung, Privatisierung
Siehe auch: Memes, Wahlplakat
Autorin: Susanna Weber
Version: 1.0 / Datum: 11.03.2025

Kurzzusammenfassung

Bürokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender Ausdrücke öffnet. Neben den direkten Ableitungen Bürokratisierung, Bürokratismus und Komposita, als wichtigstes Bürokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung. Im Alltagsverständnis wird Bürokratie meist als (unnötig) einschränkende, oft undurchschaubare und kostenintensive Struktur wahrgenommen, die wiederum durch die Gruppe der Berufsbeamten oder staatlichen Angestellten repräsentiert wird. Dem gegenüber steht das politisch-soziologische Fachkonzept Max Webers von der Bürokratie als Erscheinungsform „rationaler Herrschaft“, als ordnender, verlässlicher und transparenter Rahmen der Staatstätigkeit und Schutz gegen Willkür.

Im öffentlichen Sprachgebrauch dominiert die Verwendung mit negativer Bewertung (Konnotation), wie auch die synonym gebrauchten umgangssprachlichen Ausdrücke Amtsschimmel, Wasserkopf, Paragraphenreiter oder Papierkrieg zeigen. Sie verweisen auf Erfahrungen von fehlender Bürger- bzw. Kundenorientierung, mit Formalismus (,strikte Regeltreue‘), Realitätsferne.

Erweiterte Begriffsklärung

Mit der Entstehung neuzeitlicher Staatsformen waren konkurrierende theoretische Modelle und die Kritik an der jeweiligen Regierungspraxis verbunden. Seit dem 18. Jahrhundert wurde ein bedeutsamer Teil dieser Kritik an konkretem Regierungshandeln unter dem Schlagwort Bürokratie kommuniziert. Zum ersten Mal taucht der Terminus bureaucratie bei Vincent de Gournay in den 1760er Jahren auf, im Rahmen seiner Kritik an der absolutistischen Verwaltung (vgl. Becker 2015; Felsch 2022). De Gournay bezeichnete die bureaucratie als neue Regierungsform neben Monarchie, Aristokratie und Demokratie. In der Folgezeit wurde auch die sie tragende Schicht, die Beamten, mit diesem Namen belegt (vgl. Albrow 1972: 13 f; 33). Im deutschen Sprachraum wurde das Schlagwort im Kontext der Kritik an der preußischen Verwaltung verwendet (vgl. von Mohl 1864: 330).

Als einflussreichster Theoretiker des 20. Jahrhunderts, der sich mit dem Konzept Bürokratie auseinandersetzte, gilt Max Weber, der sie als (idealtypische) Form und Funktionsweise rationaler Herrschaft und Schutz vor (staatlicher) Willkür interpretierte. Ihre wesentlichen Kennzeichen seien Professionalität, Unpersönlichkeit (im Sinne von Neutralität), Berechenbarkeit (aufgrund festgelegter Verfahren) und Transparenz (durch schriftliche Dokumentation) (vgl. Krems 2013). Später wurde seine Formulierung vom „stahlharten Gehäuse“ (was zunächst den Kapitalismus im Ganzen meinte) im Kontext kritischer Positionen, wie sie z. B. von Theoretikern der Frankfurter Schule (Horkheimer/Adorno) geäußert wurden, als Metapher für die „verwaltete Welt“ bürokratischer Organisationen gebraucht (vgl. Brühlmeier 2024).

Abb. 1: Zeitliche Häufigkeitsverteilung des Ausdrucks Bürokratie in Zeitungstexten des DWDS (2025).

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Rahmen der politischen Aufarbeitung durch kritische Intellektuelle die NS-Verwaltung und die Organisation der Juden-Vernichtung als exemplarische Anwendung bürokratischer Herrschaft eingeordnet (vgl. z. B. Baumann 1989).

An Webers Konzept der Bürokratie knüpfen auch Michel Foucault und Niklas Luhmann als einflussreiche Gesellschaftstheoretiker der Nachkriegszeit an. Luhmann wurde als Vertreter der Systemtheorie prominent und konzeptualisierte die Bürokratie als eigentlich „erfolgreiche Arbeitsstruktur“, die jedoch an ihre Grenzen gekommen sei und nun „Rationalitätsschäden“ erzeuge (vgl. Luhmann in Geissler 1978: 112). Foucaults Texte zur „Disziplinargesellschaft“ und sein Konzept der „Gouvernementalität“ regten an, genauer in den Blick zu nehmen, welche Wechselwirkungen zwischen Organisations- und Selbsttechnologien bestehen (vgl. Felsch 2022; Bröckling et al. 2000). Von Renate Mayntz (2022), einer einflussreichen Soziologin der Nachkriegsjahre, stammt die Formulierung „Die bürokratische [Herv. d. Verf.] Verwaltung ist somit als Präzisionsinstrument zur Ausübung von Herrschaft konstruiert.“

In der strategischen Kommunikation von Regierungen, Parteien und sonstigen Organisationen ist das Thema Bürokratie/Bürokratieabbau ein zyklisch wiederkehrendes, strittiges Thema, das in Kommissionen, über Gutachten, mit Gesetzen und Verordnungen, aber auch in Wahlkämpfen traktiert wird (für die Nachkriegszeit nachweisbar seit 1947, vgl. Jann 2005). So ist der Dokumentation einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) vom April 1978 zu entnehmen, dass heute verwendete Topoi wie z. B. „Bürokratie als Investitions- und Wachstumsbremse“ schon seit Jahrzehnten im Umlauf sind (vgl. Geissler 1978). Selbst die genannten Beispiele sind denen ganz ähnlich, die in heutigen Debatten ins Feld geführt werden (vgl. etwa FAZ vom 02.11.2024, wo beklagt wird, dass 45% von 1694 befragten Unternehmen in den vergangenen Jahren wegen bürokratischer Hürden Investitionen aufgeschoben hätten). M. Albrow (1972: 23) bezeichnete den oft behaupteten „Gegensatz zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Bürokratie [Herv. d. Verf.]“ als „Standardelement“ konservativer Ideologen des 20. Jahrhunderts. Wie stabil es geblieben ist, zeigt sich auch an aktuellen Argumentationsmustern des Normenkontrollrates (NKR, siehe Beispiele unten).

An oben genannter Tagung nahm auch der britische Soziologe C. Northcote Parkinson teil, dessen Thesen zur Ineffizienz und zum Wachstum von Bürokratien als „Parkinsons Gesetze“ über Jahre kolportiert wurden (Geissler 1978: 93–99).

Ein wissenschaftliches Gutachten des Wissenschaftlichen Instituts Öffentlicher Dienst (WIÖD) unter dem Titel Bürokratisierung und Entbürokratisierung, das dem Innenministerium 1979 vorgelegt wurde, stellte ein „Raster zur Überprüfung von Organisationen im Hinblick auf Bürokratisierungsprozesse“ (Titel; Wittkämper 1979) vor, das in seiner Kleinteiligkeit geradezu ein Spiegelbild des Ausgangsphänomens darstellt (allein das Inhaltsverzeichnis nimmt 4 Seiten in Anspruch). Die Diskrepanz zwischen den notwendig zu stellenden Fragen und den intern gegebenen Möglichkeiten, sie tatsächlich stellen zu können und gar zu beantworten, erweist sich als kaum bis nicht überwindbar.

In einem Sonderheft der Zeitschrift Leviathan mit dem Titel Bürokratie als Schicksal? von 1985 (Diamond 1985) wurde aus seinerzeit (links-)sozialdemokratisch orientierter Sicht eine fulminant kapitalismuskritische Bürokratiekritik umrissen:

[…] funktioniert Bürokratie als Hauptmittel, alle Arten von sozialen Bewegungen, von Revolten und Widerstandsformen zu verhindern; […]. (Diamond et al. 1985: 12)

Die einschlägigen negativen Utopien Huxleys und Orwells werden ebenso zitiert wie Metaphern der Bürokratie als Maschine (vgl. Huxley 2008: 223) oder der Bürokratie und Technologie als „Zwillinge“ (Orwell 1984: 225).

Berechtigte, sachhaltige Kritik an konkreten bürokratischen Missverhältnissen wie Kompetenzdiffusion, steigenden Kosten und Intransparenz wird in der strategischen Kommunikation oft instrumentalisiert, um grundsätzliche ökonomische Richtungsentscheidungen vorzubereiten oder zu festigen. Als Gegenbegriff zu Bürokratie wird in diesem Kontext meist Deregulierung ins Spiel gebracht, eines der beliebtesten Schlagwörter des Neoliberalismus. Dass unter diesem Label (hierzulande und weltweit) ein beispielloser Abbau von Rechtspositionen in der Arbeitswelt stattfand (Agenda 2010, die Zunahme sogenannter ,prekärer Arbeitsverhältnisse‘ und anderes mehr), Anfang der 2000er Jahre die Finanzmärkte ,liberalisiert/flexibilisiert‘ wurden und damit ökonomische Verwerfungen stattfanden, die bis heute wirken, ist vielen nicht mehr präsent. Deregulierung, maskiert als Bürokratieabbau, bedeutet, dass das Konzept des sogenannten ,freien Marktes‘ die Allokation jeglicher Güter regeln soll, und zwar ohne ,lästige‘ Eingriffe des Staates und in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Die zugrundeliegenden politischen und ökonomischen Interessenlagen werden dabei jedoch kaum differenziert (vgl. Jann et al. 2007).

Bürokratiekritik zielt in der Regel auf staatliche Institutionen und die Ausführenden. Dabei bleibt oft unbeachtet, dass sie gegenüber privaten Unternehmen oft genauso zutrifft. Als Beispiele dafür können die zahlreichen, kaum überschau- und vergleichbaren Tarifoptionen von Mobilfunkanbietern oder die Angebotsvarianten verschiedener (Kranken-)Versicherungsanbieter gelten, die für Laien nur schwer zu entschlüsseln sind.

Auch in der Kritik des Staatshandelns sozialistischer Systeme hatte die Auseinandersetzung mit Bürokratie einen wichtigen Stellenwert: Mangelverwaltung, Begünstigung der Mitglieder des (Partei-)Apparates und anderer ,Eliten‘ wurden darüber thematisiert sowie grundsätzliche Differenzen in der Einschätzung von zentralistischer (Partei-)Bürokratie und Selbstverwaltungsoptionen (vgl. Meyer 1979).

Beispiele

(1)

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, INSM, ein strikt neoliberaler Think-Tank, der von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird, veröffentlichte 2024 Ergebnisse einer (weder repräsentativen noch methodisch validen) Befragung, die nahezu alle im Umlauf befindlichen Stereotypen zum Thema aufgreift und reproduziert: Bürokratie wachse unaufhaltsam und unnötig, Bürokratie verhindere sowohl Innovationen wie Investitionen, verschärfe den Fachkräftemangel und verhindere Unternehmensgründungen (vgl. INSM 2024a; INSM 2024b). Als Allheilmittel wird auch hier vor allem Digitalisierung propagiert, also eine technologische ,Lösung‘ für ein politisches Problem.

Von Mitgliedern der INSM wird der Vorwurf der Bürokratisierung bevorzugt zur Delegitimierung politischer Entscheidungen und Verfahren verwendet, etwa in Bezug auf das sogenannte ,Lieferkettengesetz‘. Im Rahmen des CDU-Parteitages im Mai 2024, bei dem die INSM prominent vertreten war, konnte dieses (neben anderen als unnötig oder falsch deklarierten Gesetzen) publikumswirksam in einer eigens dazu vorbereiteten Apparatur geschreddert werden, was Kanzlerkandidat Merz auch tat (vgl. medico international 2024).

(2)

Weniger ist mehr! Einfacher ist besser! Digital ist schneller! – das muss die Parole sein. (Goebel 2023: 7)

Mit diesen markigen Botschaften mahnte der Vorsitzende des NKR, des Nationalen Normenkontrollrats, Lutz Göbel, im Vorwort zum Jahresbericht für 2023 eine Trendwende beim Bürokratieabbau (NKR 2023: 6) an. Der Nationale Normenkontrollrat (NKR) ist laut Selbstdarstellung eine „unabhängige“ Institution, die seit 2006 den Bundestag berät. „Auftrag des NKR ist es, die Gesetzentwürfe der Bundesregierung dahingehend zu prüfen, ob die Kosten methodengerecht und verständlich dargestellt wurden, ob es praxistauglichere Alternativen gibt und ob die Ministerien bei der Gesetzestexterstellung eine digitale Umsetzung von Beginn an mitgedacht haben“ (NKR 2025). Der NKR sieht sich als gänzlich ,unpolitische‘ Einrichtung, in deren 2023 gegründetem Zentrum für Legistik vor allem die „Digitaltauglichkeit“ (NKR 2023: 37) von geplanten Gesetzen und Verordnungen geprüft werden soll.

(3)

Im Oktober 2024 verabschiedete der Bundestag das von der amtierenden Regierung eingebrachte, mittlerweile 4. Gesetz zum Bürokratieabbau (2024). Es enthält unter anderem die auf den ersten Blick unspektakuläre Regelung zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für Steuer- und Buchungsbelege (Art. 3) von 10 auf 8 (in bestimmten Fällen auf 6) Jahre. Nicht nur Landesfinanzministerien übten daran Kritik, wegen der zu erwartenden Steuer-Mindereinnahmen (aufgrund früher verjährender Steuerhinterziehungen; vgl. tagesschau 2024). Die Organisation Finanzwende machte darauf aufmerksam, dass diese Regelung unter anderem die großangelegten Steuerhinterziehungsaktionen begünstigt (durch die Möglichkeit, belastende Unterlagen früher zu vernichten), die unter dem Stichwort Cum-Ex bzw. Cum-Cum, bekannt und bisher nur zu einem kleinen Teil aufgeklärt oder gerichtlich verfolgt wurden, zu schweigen von der Erstattung der immensen Beträge, die als Steuereinnahmen verloren gingen (vgl. DLF 2024; Finanzwende e. V. 2024).

(4)

Es gibt nichts, was nicht ,eventisiert‘ wird, um in der herrschenden Aufmerksamkeitsökonomie wahrgenommen zu werden, so auch das Thema Bürokratie. Seit 2018 jährlich durchgeführt und in der Nach-Corona-Zeit im Rahmen eines sogenannten Deutschen Aufbau- und Resilienzplan(s) besonders gefördert (mit EU-Mitteln), wird das Creative Bureaucracy-Festival. Ähnlich wie in den Hochglanz-Angeboten der Unternehmensberater wird auch hier Kreativität als catchword eingesetzt, um zu suggerieren, dass mit höherem Einsatz individueller Ressourcen das System Bürokratie wesentlich verbessert werden könne (vgl. Creative Bureaucracy 2024a). In welchem Rahmen das gesamte Projekt zu denken ist, lässt sich an einzelnen Programmpunkten des vorangegangenen Festivals ablesen, bei denen auch die Akteure der Hinterbühnen benannt sind, z. B. wenn ein Workshop, der sich damit beschäftigt, wie Städte als Experimentierfeld für demokratische Innovationen und gesellschaftlichen Fortschritt dienen können ausgerechnet von der BMW-Stiftung Herbert Quandt gesponsert wird (Creative Bureaucracy 2024b).

Anders einordnen lassen sich Events wie diese mit dem Buch des Organisationssoziologen Stefan Kühl mit dem Titel Brauchbare Illegalität (2020) in dem der Autor (scharfsinnig bis manchmal zynisch) Funktion und Folgen sowohl der strikten Regelbefolgung – als zentrales Element von Bürokratie – und ihrer Nichtbeachtung, ihres Unterlaufens zu unterschiedlichen Zwecken darstellt. Jenseits von Schlagwörtern und Appellen an disruptive, innovative Potentiale kreativer Bürokratie wird hier das Funktionieren von Herrschaftssystemen und -techniken plausibel beschrieben. Weitere erhellende und zum Teil brisante Einsichten zum Thema, die die skizzierten Sichtweisen mit dem Fokus auf die „politische Ökonomie“ schärfen, bieten Studien und Analysen, die über die (immer noch bestehende bzw. neu formierte) Macht von Mafia-Organisationen publiziert wurden (letztere profitieren vor allem von Verflechtungen illegaler/extralegaler und legaler Strukturen in der Verwaltung des Staates, seiner Bürokratie (vgl. Saviano 2007)) und Analysen zu weiteren „Rackets“, wie z. B. Netzwerken und Oligarchien, ob im nach-sowjetischen Osten und Lateinamerika (vgl. Lindemann 2024), aber auch hierzulande im Kontext von Lobbyisten-Netzwerken (vgl. Lobbypedia 2024). Sogar der inzwischen ernannte erste Minister für Entbürokratisierung in Hessen räumte ein: „Fast jede Regelung hat eine Lobby“ (FAZ 2025).

 

Literatur

Zum Weiterlesen

Zitierte Literatur und Belege

Abbildungsverzeichnis

Zitiervorschlag

Weber, Susanna (2025): Bürokratie. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 11.03.2025. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/buerokratie.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Diskurssemantische Verschiebung

Mit dem Begriff der diskurssemantischen Verschiebung wird in der Diskursforschung ein Wandel in der öffentlichen Sprache und Kommunikation verstanden, der auf mittel- oder län-gerfristige Veränderung des Denkens, Handelns und/oder Fühlens größerer Gesellschafts-gruppen hinweist.

Domäne

Der Begriff der Domäne ist aus der soziologisch orientierten Sprachforschung in die Diskursforschung übernommen worden. Hier wird der Begriff dafür verwendet, um Muster im Sprachgebrauch und kollektiven Denken von sozialen Gruppen nach situationsübergreifenden Tätigkeitsbereichen zu sortieren.

Positionieren

Positionieren ist Grundbestandteil menschlicher Kommunikation. Wann immer wir miteinander interagieren und kommunizieren, bringen wir uns selbst, andere und die Objekte, über die wir sprechen, in bestimmte Relationen zueinander.

Deutungsmuster

Unter einem Deutungsmuster wird die problem- und lösungsbezogene Interpretation gesellschaftlicher und politischer Tatbestände verstanden, die Aussicht auf Akzeptanz in sozialen Gruppen hat. Der Begriff des Deutungsmusters hat Ähnlichkeit mit den Begriffen der Theorie und Ideologie. Meist werden gesellschaftlich verbreitete Leitdeutungen, die oft mit Schlagwörtern und Argumentationsmustern einhergehen (wie Globalisierung, Kapitalismus, Leistungsgesellschaft, Chancengleichheit etc.) als Beispiele für Deutungsmuster genannt.

Sinnformel

‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und ähnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.

Praktik

Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes Bündel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrücken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).

Kontextualisieren

Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.

Narrativ

Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.

Argumentation

Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Techniken

Dogwhistle

Unter Dogwhistle wird in Teilen der Forschung eine doppeldeutige Äußerung verstanden, die eine offene und eine verdeckte Botschaft an jeweils eine Zuhörerschaft kommuniziert.

Boykottaufruf

Der Boykottaufruf ist eine Maßnahme, die darauf abzielt, ein Ziel, also meist eine Verhaltensänderung des Boykottierten, hervorzurufen, indem zu einem Abbruch etwa der wirtschaftlichen oder sozialen Beziehungen zu diesem aufgefordert wird.

Tabuisieren

Das Wort Tabuisierung bezeichnet die Praxis, etwas Unerwünschtes, Anstößiges oder Peinliches unsichtbar zu machen oder als nicht akzeptabel zu markieren. Das Tabuisierte gilt dann moralisch als unsagbar, unzeigbar oder unmachbar.

Aus dem Zusammenhang reißen

Das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen gehört in den Funktionskreis der Redewiedergabe bzw. der Wiedergabe kommunikativer Ereignisse. Es kann (1) als intentionale argumentativ-polemische Strategie für ganz unterschiedliche diskursive Zielsetzungen von Akteuren genutzt werden, oder (2) es kann SprecherInnen und SchreiberInnen in unbeabsichtigter, fehlerhafter Weise unterlaufen.

Lobbying

Lobbying ist eine Form strategischer Kommunikation, die sich primär an Akteure in der Politik richtet. Beim Lobbying wird ein Bündel von kommunikativen Tätigkeiten mit dem Ziel eingesetzt, die Entscheidungen von Personen mit politischem Mandat oder den Entstehungsprozess von neuen Gesetzestexten interessengeleitet zu beeinflussen.

Karten

Karten dienen dazu, Raumausschnitte im Hinblick auf ausgewählte Charakteristika so darzustellen, dass die Informationen unmittelbar in ihrem Zusammenhang erfasst und gut kommuniziert werden können. Dazu ist es notwendig, Daten und Darstellungsweisen auszuwählen und komplexe und oft umkämpfte Prozesse der Wirklichkeit in einfachen Darstellungen zu fixieren.

Pressemitteilung

Pressemitteilungen sind standardisierte Mitteilungen von Organisationen, die sich an Journalist:innen und andere Multiplikator:innen richten. Sie dienen der offiziellen und zitierfähigen Informationsweitergabe und übernehmen zugleich strategische Funktionen in der öffentlichen Kommunikation und Meinungssteuerung.

Shitstorm

Der Begriff Shitstorm beschreibt eine relativ junge Diskurskonstellation, die seit den 2010er Jahren an Bedeutung gewonnen hat und gemeinhin als Online-Wutausbruch bezeichnet wer-den kann.

Tarnschrift

Als Tarnschrift bezeichnet man unter den Bedingungen von Zensur und Verfolgungsrisiko veröffentliche Texte, die insbesondere in der strategischen Kommunikation des NS-Widerstands eine zentrale Rolle spielten.

Ortsbenennung

Die Benennung von Orten dient in erster Linie dazu, den jeweiligen geografischen Ort zu lokalisieren und ihn zu identifizieren. Doch Ortsnamen besitzen eine soziale Dimension und spielen eine entscheidende Rolle bei der sprachlich-kulturellen Identitätskonstruktion.

Schlagwörter

Echokammer

Der Begriff der Echokammer steht in seiner heutigen Verwendung vor allem im Zusammenhang mit der Nutzung Sozialer Medien. Er verweist metaphorisch auf einen digitalen Kommunikations- und Resonanzraum, in dem Mediennutzer*innen lediglich Inhalten begegnen, die ihre eigenen, bereits bestehenden Ansichten bestätigen, während abweichende Perspektiven und Meinungen ausgeblendet bzw. abgelehnt werden.

Relativieren

Der Ausdruck relativieren besitzt zwei zentrale Bedeutungsvarianten: In bildungssprachlichen und wissenschaftlichen Kontexten bezeichnet er eine analytische Praxis, bei der Aussagen, Begriffe oder Phänomene durch Bezugnahme auf andere Sachverhalte eingeordnet, differen-ziert und in ihrer Geltung präzisiert werden.

Massendemokratie

Geprägt wurde der Begriff Massendemokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von völkisch-konservativen Akteuren (prominent darunter Carl Schmitt 1926). Der Ausdruck Masse hatte damals bei den bürgerlichen Eliten eine rundum bedrohliche Assoziation.

Social Bots

Als Social Bots werden Computerprogramme bezeichnet, die in der Lage sind, in sozialen Medien Kommunikation menschlicher Nutzer*innen (teilweise) automatisiert nachzuahmen.

Kriegsmüdigkeit

Der Ausdruck Kriegsmüdigkeit bezeichnet die emotionale und physische Erschöpfung von Menschen, die einen Krieg erleben, sowie die gesellschaftliche und politische Ermüdung angesichts langanhaltender Konflikte. Er beschreibt den sinkenden Kampfeswillen bei Kriegsparteien und heute wird er auch für das wachsende Desinteresse an Kriegsthemen in Medien und Öffentlichkeit genutzt.

Woke

Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunächst den Bewusstseinszustand der Aufgeklärtheit über die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.

Identität

Unter Identität versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.

Wohlstand

Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.

Remigration

Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.

Radikalisierung

Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.

Verschiebungen

Dehumanisierung

Mit Dehumanisierung bzw. Anthropomorphisierung werden solche kommunikativen Techniken und Praktiken bezeichnet, die Personen, Sachverhalten oder Gegenständen menschliche Eigenschaften ab- bzw. zusprechen. Dehumanisierung und Anthropomorphisierung können sowohl durch sprachliche Mittel als auch durch andere, z. B. bildliche, Zeichen vollzogen werden.

Kriminalisierung

Kriminalität meint ein Verhalten, das gegen ein Gesetz verstößt. Folglich bedeutet Kriminalisierung im engeren Sinne den Vorgang, durch den Verhalten ungesetzlich gemacht wird – indem Gesetze geschaffen werden.

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Partizipatorischer Diskurs

Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im Europäischen Parlament

Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ für die Erweiterung der militärischen Ausstattung und der Verlängerung des Krieges aussprachen. Vorschläge oder Vorstöße auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)

Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit

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Die Macht der Worte 3/4: Sprachliche Denkschablonen

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Die Macht der Worte 2/4: Freund-Feind-Begriffe

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Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen

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Relativieren – kontextualisieren – differenzieren

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.