DiskursReview

„Stadtbild“ – Eine gedankliche Chiffre im politischen Diskurs
von Friedemann Vogel und der FG Diskursmonitor
Version: 1.0 / 17.12.2025
In der zweiten Oktoberhälfte 2025 sorgte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) mit einer Äußerung zur Migrations- und Sicherheitspolitik für breite Diskussionen: Bei einem Regierungstermin am 14. Oktober sagte er mit Blick auf deutsche Innenstädte:
Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, … Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen, [1]
womit er vage einen Zusammenhang von urbanen Räumen und ‚problematischer‘ Migration herstellte. Auf Rückfragen erklärte er auf einer Bundespressekonferenz später nur: Fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte, und wiederholte, er habe gar nichts zurückzunehmen und wolle an dieser Politik festhalten [2]. Die Äußerungen führten bundesweit zu erheblicher Empörung und Protest: Talkshows passten ihr Programm an, in sozialen Medien kursierten auf das Thema bezogene Hashtags und Memes, auf TikTok ironisierten unzählige Kurzvideos die Äußerungen, Petitionen wurden gestartet, StipendiatInnen der „Deutschlandstiftung Integration“ verließen noch Wochen später bei einer Rede von Merz demonstrativ den Saal u.v.a.
Abbildung: Screenshot der Online-Petition https://innn.it/toechter ; Zugriff: 17.12.2025.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist zu beobachten, dass das Substantiv Stadtbild als politisches Schlagwort fungiert, als gedankliche Chiffre für eine Debatte über (die Diskriminierung von) Personengruppen mit Migrationshintergrund. Dies wird allein schon an der vergleichsweise deutlich gestiegenen Gebrauchshäufigkeit des Wortes in Pressetexten deutlich:
Abbildung 2: Gebrauchshäufigkeit des Ausdrucks Stadtbild über die Zeit in der Pressetextsammlung des DWDS.
(Link ; Zugriff: 12.12.2025)
Unmarkiert – das heißt, ohne sich damit automatisch politisch zu positionieren (‚pro‘ vs. ‚contra‘ Merz/Migration) – lässt sich das Wort seitdem und voraussichtlich auch für die nächste Zeit nicht mehr verwenden.
Sieht man sich punktuell den früheren Gebrauch des Wortes Stadtbild in Sprachkorpora an (z. B. in den Daten des DWDS[3]), dann zeigt sich, dass es dabei typischerweise um ästhetische Werturteile oder Positionierungen (X ‚gefällt‘ oder ‚gefällt nicht‘) sowie um Imagefragen (X ist dem Tourismus o.ä. zu- oder abträglich) rund um die Wahrnehmung urbaner Räume ging. Diese konnten auch politische Relevanz haben, aber sie waren nicht per se an einen bestimmten Diskurs geknüpft: ein ‚negatives‘ Stadtbild bezog sich oft auf die bautechnische Qualität oder fehlende stilistische Passung von Gebäuden oder Infrastrukturelementen, aber auch auf Drogenkriminalität oder Obdachlosigkeit; ein ‚positives‘ Stadtbild auf historische (‚römische‘, ‚mittelalterliche‘ usw.) Bausubstanz oder die Würdigung stilistischer Gemeinsamkeiten. Beispiele:
Einen schweren Verlust erlitt das Stadtbild im Jahr 1816 durch den Abbruch des Stadtturms, der einst in der Mitte des Stadtplatzes stand, sowie der Katharinenkapelle von 1315.
Das mittelalterliche Stadtbild ist weitgehend erhalten geblieben.
Linksextremisten hinterlassen immer öfter ihre Spuren im Buchholzer Stadtbild.
Der Turm passte nach Ansicht vieler Pariser Bürger nicht ins Stadtbild und wurde entsprechend schlecht gepflegt.
Semantisch war das Wort damit konnotativ sehr offen und bot sich geradezu an für eine politische Begriffsbesetzung. Friedrich Merz greift diese semantische Offenheit in einer polarisierenden, Aufmerksamkeit erzeugenden Initialäußerung auf, um damit migrantische Personengruppen pauschalisierend abzuwerten und zugleich eine diffuse Gefahrenkulisse zu evozieren, die sich politisch mobilisieren lässt, ohne konkret werden zu müssen. Dadurch verschiebt er den Diskurs von überprüfbaren Sachverhalten hin zu affektiven Deutungsmustern, die soziale Gruppen symbolisch markieren und sich zugleich als Projektionsfläche für sicherheits- und asylpolitische Forderungen instrumentalisieren lassen. Deutlich wird das durch Merz‘ Antwort auf die Nachfrage, bei der er weiterhin unkonkret bleibt und zugleich mit der Figur des sexualisierten Triebtäters (fragen Sie Ihre Töchter) ein verbreitetes rassistisches Ressentiment aufgreift. Diese Strategie – Polarisierung und Überschreitung moralkommunikativer Grenzen bei gleichzeitiger Vagheit zum Zwecke des Rückzugs nach erfolgter (kalkulierter) Skandalisierung – wurde in der linguistischen Diskursforschung auch als Teil (rechts)populistischer Rhetorik beschrieben [4]. Merz knüpft an diese Strategie wiederholt an (man denke an ähnliche Merz-Äußerungen zu Sozialtourismus, kleinen Paschas oder Zirkuszelt). Es überrascht daher auch nicht, dass andere rechtskonservative und nationalistische Akteure als Trittbrettfahrer aufsprangen und ihre eigenen polarisierenden Kampfbegriffe zu popularisieren versuchten, etwa die AfD mit dem Versprechen Remigration schaffe ein schöneres Stadtbild [5].
Abbildung 3: Antwort des Bundeskanzleramtes auf eine Anfrage der MdB Jamila Schäfer
Nachdem Merz mit seinen Initialäußerungen polarisierend Aufmerksamkeit akquiriert hatte, relativierte er Wochen später seine Äußerungen (Ich hätte vielleicht früher sagen sollen, was ich konkret damit meine [6]) und inszenierte sich zugleich als ‚ausgleichender Kümmerer, der die [von ihm zuvor behaupteten] Sorgen ernst nehme‘.
Der durch die Stadtbild-Debatte angeregte Diskurs wurde an zahlreiche andere Diskurse geknüpft und dort politisiert: aus konservativer Perspektive vor allem mit Diskursen zu Kriminalität und Sicherheit, aber auch tagesaktuell mit dem Israel-Palästina-Diskurs bzw. propalästinensischen Protesten; aus linksliberaler Perspektive mit Diskursen über (den Verstoß gegen) christliche Werte, Armut und soziale Ungerechtigkeit, Rassismus, Parkraumorganisation, Umwelt, Sexismus und Gewalt gegen Frauen.
Abbildung 4: Sarkastisches Posting mit großer Reichweite als Reaktion auf Merz‘ Töchter-Äußerung: Verknüpfung von CDU, Wertediskurs und Diskurs über Gewalt gegen Frauen.
Quellenverzeichnis
[1] Ausschnitt aufbereitet von Die Zeit, URL: https://www.youtube.com/shorts/Th5j9tbuqIA, (Zugriff: 16.10.2025).
[2] Ausschnitt aufbereitet von Die Zeit, URL: https://www.youtube.com/shorts/Th5j9tbuqIA, (Zugriff: 20.10.2025).
[3] Ausgewertet wurde eine Zufallsstichprobe von 50 Belegen im DWDS-Pressekorpus.
[4] Vogel, Friedemann (2018): Populismus – ein kurzer Forschungsüberblick. In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/populismus-ein-kurzer-forschungsueberblick.
[5] Vgl. Post auf X, URL: https://x.com/DoktorHuus/status/1979636430243873104, (Zugriff: 18.10.2025).
[6] Zeit Online vom 08.12.2025, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-12/friedrich-merz-ard-arena-bundeskanzler (Zugriff: 17.12.2025).
Zitiervorschlag
Vogel, Friedemann (2025): „Stadtbild“ – Eine gedankliche Chiffre im politischen Diskurs. In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/stadtbild-eine-gedankliche-chiffre-im-politischen-diskurs/.

