DiskursGlossar

Sündenbock

Kategorie: Techniken
Verwandte Ausdrücke: Prellbock, Bauernopfer, Blitzableiter, Prügelknabe, Schuldzuweisung, Schuldübertragung, Zielscheibe, Stigma, Opfer
Siehe auch: Opfer-Topos, Freund- und Feind-Begriffe, Antisemitismus
Autorin: Christine Viertmann
Version: 1.0 / Datum: 13.09.2024

Kurzzusammenfassung

Der Sündenbock bezeichnet eine Person oder Gruppe, die stellvertretend für etwas beschuldigt wird. Hinter dieser Schuldzuweisung steckt ein kommunikativer Mechanismus des Gruppenzusammenhalts, der sich in verschiedenen kulturellen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten durch Rituale, Mythen, Erzählungen oder Verhalten manifestiert. Dieser kommunikative Sündenbock-Mechanismus erfolgt unabhängig von der tatsächlichen Schuld oder Unschuld der betroffenen Person oder Gruppe. Die Merkmale, die zur Auswahl des Sündenbocks führen, sind oft stigmatisierend und basieren auf der symbolischen Ausgrenzung dunkler Aspekte der Gruppenidentität. Entlastungseffekte des Sündenbock-Mechanismus (alle gegen eine Person oder Gruppe vs. alle gegen alle) können den Gruppenzusammenhalt kurzfristig stärken. Jedoch kann sich die langfristige Fixierung auf den Sündenbock verheerend auswirken, da sie zur Abwertung, Entmenschlichung und Verfolgung von Individuen oder Gruppen führen kann.

Erweiterte Begriffsklärung

Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet ein Sündenbock eine Person oder Gruppe, die stellvertretend für etwas beschuldigt wird. Diese Schuldzuweisung basiert weniger auf tatsächlichem Fehlverhalten, sondern entspringt vielmehr einem Prozess des magischen Denkens – einer Denkweise, die, wie Lévi-Strauss (1973) beschreibt, versucht, durch symbolische Handlungen Einfluss auf die Welt zu nehmen. Die Struktur dieser symbolischen Schuldzuweisung entstammt alten Reinigungs- und Opferritualen, die in vielen Kulturen praktiziert wurden (vgl. Hicks 2001). Der Begriff Sündenbock stammt aus der hebräischen Tora bzw. der Übersetzung des AusdrucksBock für Asasel‘, ein Ziegenbock, der mit den Verfehlungen der Gemeinschaft symbolisch beladen in die Wüste geschickt wurde (vgl. Perera 1986: 16).

Im Laufe der Geschichte wurde aus dem Sündenbock-Ritual ein Mythos, eine traditionelle Erzählung, die als Mechanismus im Kontext sozialer Interaktionen auch heute fortbesteht (vgl. Girard 1998; Perera 1986; Pillari 1991). Das Phänomen der symbolischen Schuldübertragung impliziert sowohl einen Mechanismus des Gruppenerhalts als auch dessen mögliche soziale Konstruktion, d. h. auch dessen Ausprägung in Form einer (z. B. durch Medien vermittelten) Erzählung (vgl. strukturale Mythenanalyse bei Lévi-Strauss 1955 und Barthes 1957/2024). In der Analytischen Psychologie C. G. Jungs wird der Sündenbock als ‚Archetyp des Schattens‘ beschrieben, der alle negativen Aspekte einer Person oder Gruppe spiegelt (vgl. Jung 1954/2008). Der Kulturanthropologe René Girard untersucht in seiner Mimetischen Theorie die Rolle des individuellen Opfers für die Gemeinschaft im Verlauf der Menschheitsgeschichte und bezeichnet den Sündenbock als Friedensbringer und Quelle von Kultur (Girard 1998). In der modernen westlichen Gesellschaft herrsche aufgrund des Verlusts ritueller Praktiken eine Krise des Opferkultes. Dennoch habe die Zuschreibung von symbolischer Schuld nicht an Bedeutung verloren. Entscheidend für den Sündenbock-Mechanismus seien sogenannte Opfermerkmale, tatsächliche oder zugeschriebene Eigenschaften einer Person, die sie von der vermeintlichen Gruppennorm abheben (vgl. Girard 1998: 116).

Da es sich beim Sündenbock-Mechanismus um eine scheinbar unumgängliche, komplexitätsreduzierende Lösungsstrategie für soziale und gesellschaftliche Problemstellungen handelt, ist eine komplette Vermeidung der Suche nach dem Sündenbock illusorisch. Solange der Mensch als soziales und narratives Wesen fortbesteht, solange es (mediale) Erzählungen gibt, existiert auch der Kampf zwischen Licht und Schatten in allen gesprochenen und geschriebenen Texten. Die mediale Erzählung über den binären Code zwischen ‚Gut und Böse‘, ‚Schwarz und Weiß‘‚ ‚denen da oben und denen da unten‘ garantiert auch dank eines Bündels an darin enthaltenen Nachrichtenwertfaktoren wie Status (Prominenz, Macht und Sensation), Identifikation (Personalisierung) oder Valenz (Konflikt und Schaden) öffentliche Aufmerksamkeit in der Medienberichterstattung (vgl. Schulz 1976).

Die Motivation hinter dem Sündenbock-Mechanismus reicht von bewusst ausgelebter Feindseligkeit bis zu unbewussten Konflikten. Unangenehme Gefühle und Tatsachen werden auf eine andere Person oder Gruppe projiziert. Kurzfristig kann dies einen beruhigenden Effekt auf die Gruppe oder das System ausüben. Jedoch bleiben die zugrunde liegenden strukturellen oder emotionalen Herausforderungen von diesem Lösungsversuch unberührt. In der systemischen Familientherapie zeigt sich dies am Beispiel des schwarzen Schafs der Familie. Dieses Familienmitglied wird für unterschiedliche familiäre Probleme verantwortlich gemacht, selbst wenn es keine objektive Grundlage dafür gibt. Es entlastet die anderen Familienmitglieder, indem es das Konfliktpotenzial bündelt (alle gegen eine Person vs. alle gegen alle). Doch diese Entlastung ist trügerisch: Die eigentlichen Probleme bleiben ungelöst und das beschuldigte Familienmitglied erfährt erhebliche psychische Belastung (vgl. Pillari 1991). So zeigt sich der Sündenbock-Mechanismus als eine scheinbar zweckdienliche Strategie zur Konfliktbewältigung, die jedoch langfristig große Risiken birgt, indem sie unangenehme Wahrheiten verdrängt und nachhaltige Problemlösungen blockiert.

In modernen Wissensgesellschaften spiegelt der Sündenbock-Mechanismus in der öffentlichen Kommunikation außerdem die Flucht vor der Analyse komplexer gesellschaftlicher Strukturen und Probleme (vgl. Schwarz 2012). Die Konstruktion medialer Sündenböcke hemmt die Entwicklung tiefergehender Debatten zugunsten eines Gefühls der schnellen Erlösung und einer einfachen Story eines Kampfes von ‚Gut und Böse‘. Die Anforderung an Journalismus und strategische Kommunikation im Zeitalter von künstlicher Intelligenz und selektiver Mediennutzung ist die Abbildung möglichst vielfältiger Perspektiven und differenzierter Einschätzungen. Je nach Kultur, Zeit und Gesellschaft könnte jede gesellschaftliche Gruppe marginalisiert und potenziell entmenschlicht werden, sobald sich eine Gesellschaft vollständig auf den binären Code des Sündenbocks (‚wir gegen die anderen‘) einlässt (vgl. Freund-Feind-Begriffe, Antisemitismus).

Interessanterweise verliert ein Sündenbock seine Funktion als symbolisches Opfer in dem Moment, in dem er als solcher benannt oder erkannt wird. Sobald eine Person oder Gruppe in der öffentlichen Kommunikation als Sündenbock bezeichnet wird, geschieht dies durch verteidigende Kräfte, die den Prozess der symbolischen Schuldübertragung stören und damit den Mechanismus schwächen. Außerdem besteht die Möglichkeit, sich den Prozess der symbolischen Schuldübertragung strategisch zunutze zu machen. Im Kontext der strategischen Kommunikation, insbesondere in Krisensituationen, werden sogenannte Bauernopfer inszeniert (vgl. Coombs 2006). Dabei handelt es sich weniger um einen Sündenbock-Mechanismus, sondern eher um das gezielte Vorschicken einer Person, die eine begrenzte Verantwortung trägt, um eine Krise zu entschärfen. Diese strategisch inszenierten Opfer dienen dazu, den öffentlichen Diskurs zu beenden, ohne die eigentlichen Probleme zu lösen. Dabei wird nicht selten die Behauptung aufgestellt, man selbst oder die eigene Gruppe werde zum Sündenbock gemacht, um sich als Opfer zu inszenieren und sich gegen Kritik zu immunisieren. Es ist wichtig, zwischen diesen Fake-Goats, Bauernopfern oder Märtyrern, die sich freiwillig opfern, und den eigentlichen Sündenböcken zu unterscheiden, die unfreiwillig die Last der Schuld tragen (vgl. Viertmann 2015: 98–100). Während erstere oft Teil einer bewussten Strategie sind, die die Gemeinschaft retten soll, werden Sündenböcke offen als Täter bezichtigt, geächtet und schließlich verfolgt.

Die mediale Berichterstattung und öffentliche Diskussion über Sündenböcke zeigt sich konkret durch eine Häufung negativ oder ambivalent konnotierter Adjektive und Substantive, die in Zusammenhang mit der Darstellung von Personen oder Gruppen stehen. Diese Wörter beziehen sich häufig auf deren Gruppenzugehörigkeit, etwa die Ausländer, die Elite oder die Bürgergeldempfänger, oder auf vermeintliche Persönlichkeitsmerkmale wie abgehoben, arrogant oder faul. Stehen solche Merkmale im Vordergrund, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diesen Personen oder Gruppen in der Öffentlichkeit eine Sündenbock-Rolle zugeschrieben wird (Sündenbock-Potenzial). Personen, die zunächst aufgrund ihres charismatischen Auftretens oder ihrer Gruppenzugehörigkeit viel Sympathie erfahren, können später genau wegen dieser Eigenschaften symbolisch beschuldigt werden. Diese Dynamik zeigt, wie schnell öffentliche Sympathie in Schuldzuweisungen umschlagen kann, wenn gesellschaftliche Erwartungen enttäuscht werden, und wie die mediale Darstellung nicht selten die Entstehung neuer Sündenböcke fördert.

Deshalb wird oft eine ‚neue Medienkultur‘ gefordert, die vorschnelle Sündenbock-Zuschreibungen gründlicher hinterfragt und reflektiert. Dazu braucht es sorgfältigere, ausgewogenere Recherche sowie die Veröffentlichung von Richtigstellungen und Fehlerkorrekturen (vgl. Schertz und Schuler 2007). Einige sehen die Ursache für mediale Prangersituationen in der Ressourcenknappheit des klassischen Journalismus (vgl. Gmür 2007). Klar ist, dass soziale Medien die schnelle Verbreitung von Sündenbock-Erzählungen begünstigen. Hier sind staatliche Regulierung und Maßnahmen der Plattformbetreiber notwendig. Allerdings verstärken öffentliche Berichterstattung und ,Hatespeech‘ den Sündenbock-Mechanismus lediglich; sie verursachen ihn nicht. Letztlich spiegelt die Suche nach medialen Sündenböcken tief verwurzelte gesellschaftliche Vorurteile wider, also Überzeugungen, Gefühle und diskriminierendes Verhalten gegenüber Mitgliedern einer Gruppe aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (Leyens 2001, S. 11986).

Beispiele

Die drei Beispiele aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Themenbereichen spiegeln das Kontinuum der negativen Auswirkungen des Sündenbock-Mechanismus von harmlos (Trainerwechsel im Fußball) bis verheerend (Antisemitismus). Weitere Beispiele finden sich in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen (vgl. Viertmann 2015 für Beispiele aus dem Wirtschaftsjournalismus). Die Beispiele sollen die Bandbreite der journalistischen Reflexion über den Sündenbock-Mechanismus in der aktuellen Medienberichterstattung verdeutlichen. Es wird bewusst darauf verzichtet, die eigentlichen Beschuldigungen oder Hetzschriften über Geflüchtete, verschiedene Glaubensgemeinschaften, Arbeitssuchende, Führungspersonen und viele weitere gesellschaftliche Gruppen als Beispiele zu reproduzieren und damit in ihrer Wirkung zu verstärken.

(1) Der Sündenbock beim Trainerwechsel im Fußball (Spiegel Online)

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Offenlegung einer einseitigen Schuldzuweisung in der Öffentlichkeit den Sündenbock-Mechanismus selbst stören kann. Ein Sündenbock wird zum Opfer, sobald er in der Öffentlichkeit verteidigt wird.

Trainerwechsel bringen nichts

Fußballtrainer haben keinen sicheren Job – im Gegenteil: Wenn die Leistung nicht stimmt, werden sie auch mitten in der Saison gefeuert. Eine statistische Auswertung von über 150 Trainerwechseln in der Bundesliga zeigt jedoch, dass die Mannschaft davon nicht profitiert. (Dambeck 2011)

(2) Der Sündenbock in der Politik (NDR.de)

Menschen in der Politik sind dem Druck der veröffentlichten Meinung in besonderer Weise ausgesetzt. Dieses Beispiel zeigt einerseits, dass die charismatische Positionierung einer Person in der Öffentlichkeit zu überhöhten Erwartungen und schließlich zu einem erhöhten Sündenbock-Potenzial führen kann. Andererseits verdeutlicht es, wie die journalistische Arbeit die Entlarvung der Sündenbock-Erzählung ermöglicht. Durch die Erklärung komplexer Zusammenhänge wird die zuvor beschriebene öffentliche Sündenbock-Rolle Robert Habecks aufgelöst, indem differenzierte Informationen bereitgestellt und oberflächliche Schuldzuweisungen hinterfragt werden.

Absturz des Ikarus: Robert Habeck und das Elend der Ampel

Noch vor einem Jahr war Robert Habeck der beliebteste Politiker Deutschlands. Doch die Werte des Wirtschaftsministers befinden sich nun im freien Fall. Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke über das Elend der Ampel-Koalition.

(3) Der Sündenbock als Quelle des Antisemitismus (tagesschau24)

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass der Sündenbock-Mechanismus Teil und Ursache von Verschwörungstheorien sein kann. In der deutschen Geschichte hat der Sündenbock-Mechanismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen eine zentrale Rolle gespielt, indem er in seiner extremsten Form zur Verfolgung und Vernichtung von Menschen führte. Die Verfolgung stellt die letzte Konsequenz des Sündenbock-Mechanismus dar, bei der die symbolische Schuldübertragung in reale Gewalt und Ausgrenzung mündet.

„Die größte Verschwörungstheorie der Neuzeit“

[Interview mit dem Historiker Ulrich Herbert]

 

Herbert: Die Niederlage des Ersten Weltkriegs hat dem Antisemitismus sehr starken Auftrieb gegeben, weil die Juden dafür verantwortlich gemacht wurden, dass die Deutschen den Krieg verloren haben. […] Die Juden waren so eine Art Passepartout für alle Missbilligkeiten und Unerfreulichkeiten und Niederlagen der Deutschen, für die man sich, so hieß es damals, rächen wollte. Und das ist 1938 explodiert und hat die Situation auch in Nazideutschland doch stark verändert.

tagesschau24: Das heißt, im Vorfeld gab es, ich nenne es mal: Sündenbockdebatten?

Herbert: Sündenbock ist vielleicht etwas zu verniedlichend. Es geht darum, dass in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, die Juden verantwortlich gemacht wurden für die großen Umwälzungen der Moderne, der Kapitalismus ebenso wie der Kommunismus. Also all das, was neu für die Menschen gewesen ist, was über sie hereingestürzt ist, wurde nicht verstanden und auf eine geheime Macht zurückgeführt, die für all das verantwortlich war. Mit der Weltwirtschaftskrise hat sich das dann noch mal zugespitzt. (Tagesschau 2023)

 

Literatur

Zum Weiterlesen

  • Allport, Gordon W. (1979): ABC’s of Scapegoating. New York: Freedom Pamphlets. Anti-Defamation League of B’nai B’rith.
  • Campbell, Charlie (2011): Scapegoat. A History of Blaming Other People. London, New York: Duckworth Overlook.
  • Goffman, Erving (2024): Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 24. Aufl., Berlin: Suhrkamp.

Zitierte Literatur

  • Allport, Gordon W. (1958): The nature of prejudice. New York: Doubleday.
  • Barthes, Roland [1957] (2024): Mythen des Alltags. 7. Aufl. Berlin: Suhrkamp.
  • Coombs, W. Timothy (2006): The Protective Powers of Crisis Response Strategies: Managing Reputational Assets During a Crisis. In: Journal of Promotion Management, Jg. 12, Heft 3–4, S. 241–260.
  • Dambeck, Holger (2011): Trainerwechsel bringen nichts. In: Spiegel.de. Online unter: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/fussball-statistik-trainerwechsel-bringen-nichts-a-754907.html ; Zugriff: 10.09.2024.
  • Girard, René (1998): Der Sündenbock. Zürich: Benziger.
  • Gmür, Mario (2007): Das Medienopfersyndrom. München, Basel: E. Reinhardt.
  • Hicks, David (2001): Sacrifice. In: Smelser, Neil J; Baltes, Paul B. (Hrsg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences. Bd. 20, Amsterdam: Elsevier, S. 13439–13441.
  • Jung, Carl Gustav [1954] (2008): Archetypen. 14. Aufl. München: dtv.
  • Leyens, Jacques-Philippe (2001): Prejudice in Society. In: Smelser, Neil J.; Baltes, Paul B. (Hrsg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences. Bd. 17, Amsterdam: Elsevier, S. 11986–11989.
  • Lévi-Strauss, Claude (1955): The Structural Study of Myth. In: The Journal of American Folklore. Jg. 68 Heft 270, S. 428–444.
  • Lévi-Strauss, Claude (1973): Das wilde Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Lucke, Albert von (2023): Absturz des Ikarus: Robert Habeck und das Elend der Ampel. In: NDR.de. Online unter: https://www.ndr.de/kultur/Absturz-des-Ikarus-Robert-Habeck-und-Elend-der-Ampel,ikarus106.html ; Zugriff: 10.09.2024.
  • Perera, Sylvia Brinton (1986): The Scapegoat Complex: Toward a Mythology of Shadow and Guilt. Toronto: Inner City Books.
  • Pillari, Vimala (1991): Scapegoating in Families. Intergenerational Patterns of Physical and Emotional Abuse. New York: Brunner/Mazel.
  • Schertz, Christian; Schuler, Thomas (2007): Recherchieren und Belegen, Berichtigen und Kritisieren. Plädoyer für eine neue Medienkultur. In Schertz, Christian; Schuler, Thomas (Hrsg.): Rufmord und Medienopfer. Die Verletzung der persönlichen Ehre. Berlin: Ch. Links Verlag, S. 257–265.
  • Schulz, Winfried (1976): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg, München: Alber.
  • Schwarz, Andreas (2012): The Love Parade in Duisburg: Lessons from a tragic blame game. In: George, Amiso M.; Pratt, Cornelius B. (Hrsg.): Case studies in crisis communication: international perspectives on hits and misses. Hoboken, NJ: Routledge, S. 340–360.
  • Tagesschau (2023): „Die größte Verschwörungstheorie der Neuzeit“. Interview, in: tagesschau.de. Online unter: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/pogromnacht-gedenken-geschichte-100.html ; Zugriff: 10.09.2024.
  • Viertmann, Christine (2015): Der Sündenbock in der öffentlichen Kommunikation. Schuldzuweisungsrituale in der Medienberichterstattung. Wiesbaden: Springer VS.

Zitiervorschlag

Viertmann, Christine (2024): Sündenbock. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 13.09.2024. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/suendenbock.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Agenda Setting

Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Normalismus

Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.

Wissen

Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.

Werbung

Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf Einführung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.

Mediale Kontrolle

Medien werden vielfältig zur Durchsetzung von Macht verwendet. So in der Zensur, wenn eine politische Selektion des Sagbaren und des Unsagbaren stattfindet; in der Propaganda, wenn eine Bevölkerung von den Ansichten oder wenigstens der Macht einer bestimmten Gruppe überzeugt werden soll; oder in der Überwachung, die unerwünschtes Verhalten nicht nur beobachten, sondern unwahrscheinlich machen soll.

Freund- und Feind-Begriffe

Freund-, Gegner- und Feindbegriffe sind Teil der Politischen Kommunikation. Sie bilden die Pole eines breiten Spektrums von kommunikativen Zeichen, mit denen politische Akteure sich selbst und ihre politischen Gegner im Kampf um beschränkte Ressourcen auf dem diskursiven Schlachtfeld positionieren.

Techniken

Redenschreiben

Wer Reden schreibt, bereitet die schriftliche Fassung von Reden vor, die bei besonderen Anlässen gehalten werden und bei denen es auf einen ausgearbeiteten Vortrag ankommt.

Offener Brief

Bei einem offenen Brief handelt es sich um eine strategische Praktik, die genutzt wird, um Anliegen einer Person oder Gruppe öffentlich sichtbar zu machen. Die Texte, die als offene Briefe bezeichnet werden, richten sich an eine Person oder Institution und werden über Medien veröffentlicht.

Kommunikationsverweigerung

Unter dem Begriff Kommunikationsverweigerung lässt sich ein Bündel von Praktiken und Strategien fassen, die den kommunikativen Austausch zu erschweren oder zu verhindern suchen.

Flugblatt

Unter Flugblättern versteht man einseitige Druckerzeugnisse, die ursprünglich meist illustriert waren. Eng verwandt sind die mehrseitigen Flugschriften. Während Flugschriften und Flugblätter heute kostenlos verteilt werden oder zur Mitnahme ausliegen, wurden sie in der Frühen Neuzeit zunächst als Handelswaren verkauft und gingen so als frühe Massenmedien den Zeitungen voraus.

Passivierung

Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenüber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden müssen, was beispielsweise in Gesetzestexten für eine (gewünschte) größtmögliche Abstraktion sorgt („Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 3 GG).

Aufopferungs-Topos

Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren.

Opfer-Topos

Als Opfer-Topos bezeichnet man eine diskursive Argumentationsstrategie, bei der sich Akteure als ‚Opfer‘ gesellschaftlicher Urteilsbildung inszenieren und damit eigene Interessen – vor allem Aufmerksamkeit und Berücksichtigung von Bedürfnissen – geltend zu machen versuchen.

Analogie-Topos

Der Analogie-Topos zählt zu den allgemeinen bzw. kontextabstrakten Argumentationsmustern, die genutzt werden können, um für oder gegen eine Position zu argumentieren. Analogie-Topoi werden von verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen strategisch eingesetzt, um eine zustimmende Haltung bei den Zielgruppen zu bewirken.

Topos der düsteren Zukunftsprognose

Der Topos der düsteren Zukunftsprognose beschreibt ein Argumentationsmuster, bei dem eine negative, dystopische Zukunft prognostiziert wird. Dabei wird auf die drohenden Folgen einer Krise oder einer allgemeinen Gefahr verwiesen, aus der eine negative Zukunft bei falschem Handeln resultieren wird.

Negativpreis

Ein Negativpreis ist eine Auszeichnung an Personen oder Organisationen (meist Unternehmen), die sich oder ihre Produkte positiv darstellen und vermarkten, ihre Versprechen aus Sicht des Preisverleihers allerdings nicht einhalten. Dabei dient der Preis durch seine Vergabe vor allem dem Zweck, Aufmerksamkeit zu erregen, mediale Präsenz auf ein Thema zu lenken und den Preisträger in seinem moralischen Image zu beschädigen.

Schlagwörter

Verfassung

Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.

Toxizität / das Toxische

Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.

Zivilgesellschaft

Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.

Demokratie

Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.

Plagiat/Plagiarismus

Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.

Fake News

Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.

Lügenpresse

Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.

Antisemitismus

Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene Phänomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloßen Distanzierung und Behauptung jüdischer Andersartigkeit, über vollständig ausgearbeitete Weltbilder, die Jüdinnen*Juden für sämtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken.

Grammatiknazi / Grammar Nazi

Das überwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi – als Übersetzung von engl. grammar nazi – wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den Äußerungen anderer (häufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen üben.

Respekt

Respekt oder respektvolles Verhalten wird eingefordert für die Eigengruppe (bzw. von der Eigengruppe), für wirklich oder vermeintlich diskriminierte Gruppen, für abweichende Meinungen. Mitgemeint ist bei der Forderung nach Respekt meist eine positiv bewertete Szene der (sozialen, kulturellen, ethnischen, sexuellen etc.) Vielfalt/Diversität.

Verschiebungen

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Relativieren – kontextualisieren – differenzieren

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.

Neue Beiträge Zur Diskursforschung 2023

Mit Beginn des Wintersemesters laden die Forschungsgruppen CoSoDi und Diskursmonitor sowie die Akademie diskursiv ein zur Vortragsreihe Neue Beiträge Zur Diskursforschung. Als interdisziplinäres Forschungsfeld bietet die Diskursforschung eine Vielzahl an...

Tagung: Diskursintervention (31.01.2019–01.02.2019)

Welchen Beitrag kann (bzw. muss) die Diskursforschung zur Kultivierung öffentlicher Diskurse leisten? Was kann ein transparenter, normativer Maßstab zur Bewertung sozialer und gesellschaftlicher Diskursverhältnisse sein?

Was ist ein Volk?

Dass „Volk“ ein höchst schillernder und vielschichtiger politischer Leitbegriff der vergangenen Jahrhunderte gewesen ist (und nach wie vor ist), kann man schon daran erkennen, dass der Eintrag „Volk, Nation“ in Brunner, Conze & Kosellecks großem Nachschlagwerk zur politischen Begriffsgeschichte mehr als 300 Seiten umfasst.

Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft!

Im Herbst 2022 veranstalteten die Sender des Deutschlandradios eine Kampagne mit Hörerbeteiligung zur Auswahl eines Themas, mit dem sich ihre sogenannte „Denkfabrik“ über das kommende Jahr intensiv beschäftigen solle. Fünf Themen standen zur Auswahl, „wehrhafte Demokratie“ wurde gewählt, wenig überraschend angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine…