DiskursGlossar

Antisemitismus

Kategorie: Schlagwörter
Verwandte Ausdrücke: Judenfeindschaft, Antijudaismus, Judenhass, Antizionismus, Philosemitismus
Siehe auch: Freund-Feind-Begriffe
Autor: Peter Ullrich
Version: 1.1 / Datum: 21.11.2022

Kurzzusammenfassung

Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene Phänomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloßen Distanzierung und Behauptung jüdischer Andersartigkeit, über vollständig ausgearbeitete Weltbilder, die Jüdinnen*Juden für sämtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken. Je nach Begriffsverständnis sind diese Phänomene historisch bis in die Antike oder zumindest das christliche Mittelalter zurück nachweisbar, sind aber von besonderer Bedeutung im Prozess der kapitalistischen Modernisierung und Nationalstaatsbildung im postaufklärerischen Europa.

Diese Breite der angesprochenen Erscheinungen verdeutlicht, dass der Begriff Antisemitismus als Konzept von hohem Abstraktionsgrad notwendig Unschärfen aufweist und wie die mit ihm bezeichneten Gegenstände geschichtlichen Wandlungen unterliegt. Damit sperrt er sich gegen eine bündige, abgeschlossene Definition. Um das oben skizzierte ,Basiskonzept‘ (Michael Kohlstruck) gruppiert sich entsprechend eine Vielzahl von teils stark divergierenden Antisemitismusverständnissen. Dies hängt neben der Geschichtlichkeit des Themas auch mit disziplinären Differenzierungen der damit befassten Wissenschaften zusammen (Geschichtswissenschaft, Soziologie, Sozialpsychologie, Politikwissenschaft u.a.) sowie mit der diskursiven Überlagerung und Verknüpfung des Themas Antisemitismus mit anderen Diskursen: mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust, mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt, mit Debatten um Migration, ‚Integration‘ und (Post-)Kolonialismus. Alle diese Themen sind Gegenstand heftiger diskursiver Kämpfe. Deshalb ist Antisemitismus nur in seinem Doppelcharakter als Problem und Symbol zu behandeln.

Erweiterte Begriffsklärung

Das Wort Antisemitismus entstand als Selbstbezeichnung einer Bewegung, die sich gegen die rechtliche Emanzipation der Jüdinnen*Juden bildete. Die der Sprachwissenschaft entlehnte Bezeichnung (als ‚semitisch‘ wird eine Gruppe von Sprachen bezeichnet, zu der auch Hebräisch gehört) sollte Modernität und Wissenschaftlichkeit signalisieren und sich vom mittelalterlich-religiösen Antijudaismus absetzen. Stattdessen gewannen moderne – nationalistische und rassistische – Begründungen dafür an Bedeutung, warum Jüdinnen*Juden ‚nicht zu uns passen‘ oder ‚uns‘ schaden würden. Daraus wurden unterschiedliche Forderungen – von Absonderung über ökonomische Beschränkungen bis zu rechtlicher Ausgrenzung und Vertreibung – abgeleitet und in der Folge teilweise auch umgesetzt.

Die Termini Antisemitismus/Antisemit wandelten sich von dieser Selbstbezeichnung, die noch bis in die Weimarer Republik einen akzeptierten und einigenden kulturellen Code des rechten Lagers darstellte (vgl. Volkov 2000), zur analytischen oder politisch-moralischen Fremdbezeichnung. Angesichts des Holocaust und der damit einhergehenden Desavouierung des Antisemitismus in der Öffentlichkeit gibt es heute jedoch nur in der extremen, völkischen Rechten eine affirmative Verwendung des Wortes. Angesichts des negativen Signalcharakters von Antisemitismus, der sich in den Nachkriegsjahrzehnten herausgebildet hat, weisen viele antisemitisch argumentierende Positionen eine solche Einordnung von außen strikt von sich.

In Wissenschaft wie Öffentlichkeit ist heute ein Sprachgebrauch weit verbreitet, der alle Formen spezifisch antijüdischer Vorurteile, Feindschaft, Diskriminierung und Gewalt über alle Zeiten hinweg unter Antisemitismus als Oberbegriff fasst (vgl. Bergmann 2006), während im engeren Sinne darunter nur der ‚klassische‘ oder ‚moderne‘, postaufklärerische Antisemitismus verstanden wird. In dieser Phase, ab dem 18. Jahrhundert (vgl. Weyand 2016) gewinnen antisemitische Phänomene auch ihre umfassende weltanschauliche Qualität: das Judentum und die Jüdinnen*Juden werden in antisemitischer Perspektive zur Verkörperung, ja zu den Urheber*innen der Verwerfungen der Modernisierung. Dieser Vorgang ist besonders eng verbunden mit der Herausbildung des modernen Nationalismus, aus dessen Perspektive Jüdinnen*Juden nicht nur Andere sind (wie die anderen ‚normalen‘ Nationen). Vielmehr verkörpern sie für den Antisemitismus die Ambivalenzen der modernen Gesellschaft und somit eine Art Anti-Prinzip. Sie gelten in der als natürlich vorgestellten nationalen Ordnung der Welt als nicht-identische Gruppe, die die dominanten Zugehörigkeitsregeln unterläuft und deshalb bekämpft wird (vgl. Holz 2001; vgl. auch Freund-Feind-Begriff).

Angesichts der verbreiteten historisch-weiten Begriffsverwendung werden üblicherweise Hauptformen unterschieden, die im Kern auch für eine zeitliche Abfolge stehen: antike Judenfeindschaft, christlicher Antijudaismus, moderner Antisemitismus, postnazistischer oder sekundärer Antisemitismus (der sich insbesondere mit der antisemitischen Umdeutung des Völkermords an den Jüdinnen*Juden befasst), neuer Antisemitismus (der sich am Thema Nahostkonflikt abarbeite). Ein großer Teil der Debatten der Antisemitismusforschung lässt sich als Ringen um diese Ab-/Eingrenzungsfragen deuten, die um zwei Komplexe kreisen:

  • Wo und wann bildet sich der Antisemitismus als eine spezifische Form von Feindschaft heraus, die sich von anderen Konflikt- und Feindschaftskonstellationen, die verschiedene Gruppen, auch Jüdinnen*Juden, betreffen können, unterscheidet, u.a. weil sich kein ‚rationaler‘ oder ‚realistischer‘ Konfliktkern finden lässt (Spezifitätsproblem)? Gavin Langmuir (1990) sieht dies im Spätmittelalter mit der Herausbildung der antijüdischen Mythen von Hostienfrevel, Kindsmord oder Brunnenvergiftungen gegeben, andere Autor*innen erst in der Moderne mit dem Aufkommen der Verschwörungstheorien über geheime, weltumspannende jüdische Macht.
  • In welchem Verhältnis stehen Kontinuität und Bruch in der Geschichte der Judenfeindschaft(en)? Kaum mehr bestritten wird heute die Verflechtung und Kopräsenz zunächst unterschiedlich gedachter Phänomene: ‚Moderne‘ proto-rassistische Formen des Antisemitismus bilden sich beispielsweise schon im christlich-antijudaistischen Spanien der Reconquista. Im Rahmen der Politik der ‚Blutreinheit‘ entfiel die Konversion zum Christentum als Mittel, der Verfolgung zu entgehen. Abstammung wurde schon hier zum Merkmal, das Verfolgung, Tötung oder Ausweisung nach sich zog. Gleichzeitig ist auch in der Gegenwart Antisemitismus vor dem Hintergrund primär christlicher Selbstbilder nicht verschwunden. Denn das fortbestehende Judentum ist weiterhin eine Herausforderung für die christliche Theologie, die sich ja gerade als Überwinderin desselben sieht und sehen muss.

Die reichhaltige empirische Forschung zu gegenwärtigem Antisemitismus und das Monitoring staatlicher und zivilgesellschaftlicher Stellen erfasst eine Vielzahl von aktuellen Erscheinungsformen (im Überblick bspw. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus (UEA) 2017; vgl. auch Kleinmann und Goldenbogen 2021). Dokumentiert werden regelmäßig relevante Anteile antisemitisch eingestellter Personen in der Bevölkerung (über alle Schichten und politischen Spektren hinweg), Beleidigungen und verbale Attacken sowie Gewaltvorfällen bis hin zu Anschlägen wie auf die Hallenser Synagoge im Jahr 2019. Besonders in der Neuen Rechten scheint die Bedeutung des Antisemitismus als Kitt des vordergründig meist islamfeindlichen Weltbildes zudem zuzunehmen.

Aktuelle Herausforderungen und Entwicklungslinien

Viele der gegenwärtigen Debatten um Antisemitismus hängen mit den Bedingungen der Kommunikation über Antisemitismus zusammen. Der öffentliche anti-antisemitische Meinungsdruck nach dem Ende des Nationalsozialismus sorgte, neben dem weitgehenden Verschwinden der Selbstidentifikation als antisemitisch, dafür, dass antisemitische Einstellungen weniger offen kommuniziert werden („Kommunikationslatenz“, Bergmann und Erb 1986) und entsprechend weniger leicht nachweisbar sind. Zugleich gab es aber auch nachhaltige Erfolge des Zurückdrängens antisemitischer Einstellungen (vgl. Bergmann 2004), die zu einer teilweisen Fragmentierung des Weltbildes führten, das oft nur noch in einzelnen Elementen Zustimmung findet (Ullrich 2013: 51 ff.), allerdings in teils erheblichem Ausmaß. Dieser Umstand wird wiederum wenig erfasst von einer öffentlichen Debatte, die stark zu Personalisierung neigt, also Antisemitismus nicht als soziale und kulturelle, mithin überindividuelle Tatsache fasst, sondern als personale Pathologie. Oder: die nicht Antisemitismus, sondern vor allem Antisemit*innen sieht.

Ein Aspekt der Kommunikationslatenz ist die sogenannte Umwegkommunikation, also das Ausweichen auf Themenfelder, bei denen das antisemitische Ressentiment ‚gefahrloser‘ artikuliert werden kann. Insbesondere Israel als jüdischer Staat spielt hier eine große Rolle als Thema antisemitischer Kommunikation (vgl. Holz und Haury 2021). Zugleich ist zu konstatieren, dass sich mit der gestiegenen Aufmerksamkeit für israelbezogenen Antisemitismus wiederum das Antisemitismusverständnis verschiebt: während Antisemitismus ursprünglich eine Mehrheits-Minderheits-Konstellation beschrieb, steht nun mit Israel eine regionale Staatsmacht mit atomarer Bewaffnung, die seit Jahrzehnten Besatzungsmacht palästinensischer Gebiete und Bevölkerung ist, im Fokus. Der gegenwärtig verbreitete Reduktionismus, Feindschaft gegen Israel einfach definitorisch dem Antisemitismus zuzuschlagen, wird der Ambivalenz nicht gerecht, die schon von Anfang an dem Zionismus innewohnt. Dieser war ebenso Befreiungsbewegung für vom Antisemitismus Verfolgte wie geprägt vom europäisch-kolonialistischen und nationalistischen Geist, dessen Leidtragende auch die einheimische Bevölkerung im Mandatsgebiet Palästina wurde (vgl. Vogt 2016). Israel ist (und war) in diesem Sinne sowohl Ziel antisemitischer Propaganda wie es auch Kritik an seiner Politik gab und gibt, die menschen- wie völkerrechtlich oder antirassistisch motiviert ist oder schlicht aus Erfahrungen Leidtragender im Nahostkonflikt schöpft.

Diese angesprochene reduktionistische Tendenz, die auch zu falschen Antisemitismusvorwürfen führt, schöpft aus verschiedenen Quellen, darunter die israelische Politik, die sich des Antisemitismusvorwurfs zur Kritikabwehr bedient und die deutsche Politik, in der das Bekenntnis zu Israel mittlerweile den Status der ,Staatsräson (so unter anderem die damalige Kanzlerin Angela Merkel) erhalten hat. Hinter dieser deutschen Positionierung stehen widersprüchliche Motive von einerseits historischer Sensibilität und Empathie mit den Opfern des Nationalsozialismus bis andererseits hin zu instrumentellen Momenten der Legitimation deutscher Geltung und Großmachtansprüche unter Anerkennung von Auschwitz und in der Selbststilisierung als ,Erinnerungsweltmeister. Diese instrumentelle Funktion der Antisemitismuskritik in ihrer inneren Widersprüchlichkeit, also die Symbolbedeutung von Anti-Antisemitismus für politische Legitimität deutscher Politik, trägt dazu bei, dass der Diskurs über Antisemitismus Aspekte von Ritualisierung und Floskelhaftigkeit aufweist. Er wird genutzt, um das Problem der Mehrheitsgesellschaft mit Antisemitismus als übergreifendes kulturelles Muster zu externalisieren (insbesondere an die klassischen Beobachtungsfelder des Verfassungsschutzes: rechter, linker und ,ausländischer ,Extremismus, wobei besonders stark Muslime als Täter*innen in den Blick genommen werden). Antisemitismus als Vorwurf bekommt dann einen politischen Zusatznutzen als wirksame diskursive Waffe gegen unliebsame Positionen.

Beispiele

Die beiden folgenden Beispiele sollen die mit dem Spannungsfeld von „Antisemitismus als Problem und Symbol“ (Kohlstruck und Ullrich 2015) aufgemachte Breite des Themas verdeutlichen. Es geht einerseits um seine Virulenz als Problem für Jüdinnen*Juden im Besonderen und Demokratie und Menschenrechte im Allgemeinen. Es geht aber auch um die Gefahr vorschneller Urteile und reflexhafter Vorwürfe, die Grauzonen negieren oder gar gänzlich anders gelagerte Fälle fälschlich als Ausdruck von Judenfeindschaft deuten.

(1) NS-Erinnerung und postnazistischer Antisemitismus

Am 9. November 2013, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, veröffentlichte der Linken-Politiker Gregor Gysi auf der Social-Media-Plattform Facebook ein Statement in Erinnerung an dieses Verbrechen und als Aufruf zum Kampf gegen Antisemitismus. Eine Vielzahl von Kommentator*innen reagierte auf den Post mit massiven antisemitischen Anwürfen. Menschen mit Namen, die neben Deutschland auf unterschiedlichste nationale Herkünfte schließen lassen, leugneten oder bagatellisierten den Holocaust, beschuldigten Jüdinnen*Juden als Kollektiv von Unterdrückten zu Unterdrückern geworden zu sein, deren ,Schaltzentrale Israel die Welt beherrsche. Jüdinnen*Juden und Israel werden Taten vorgeworfen, die denen der Nationalsozialisten in nichts nachstünden (Täter-Opfer-Umkehr), während die Deutschen als zu Unrecht beschimpft stilisiert und von historischer Schuld entlastet werden. Das Beispiel verdeutlicht diverse Tendenzen: Die sozialen Medien werden zum Schauplatz offenen Antisemitismus, der sich dort auch wieder weniger in die Anonymität zurückzuziehen genötigt sieht. Die Vorurteile werden vor dem Hintergrund nicht nur deutsch-nationaler, sondern auch islamistischer, christlicher, türkischer oder arabischer Selbstbilder formuliert. Es wird Gewalt gegen Jüdinnen*Juden als ‚Reaktion‘ legitimiert. Der Holocaust bleibt für jeden Antisemitismus ein Legitimationsproblem, weshalb seine Negierung im Zentrum antisemitischer Diskurse steht. Die Gleichsetzung Israels mit allen Jüdinnen*Juden ist weit verbreitet. Motive des klassischen und des postnazistischen Antisemitismus treten gemeinsam, vermischt auf. Und viele der nämlichen Beiträge weisen den (nicht getätigten) Antisemitismusvorwurf gegen sich strikt zurück.

(2) Antisemitismus und Antisemitismusvorwürfe: #documenta15, BDS und Provinzialismus

Die bedeutende Kasseler Kunstausstellung Documenta, die diesmal von einem indonesischen Künstler*innenkollektiv kuratiert wurde, wurde im Jahr 2022 Schauplatz von Antisemitismusdebatten, die die Widersprüchlichkeit des ritualisierten Antisemitismusdiskurses verdeutlichten. Zum einen wurden klar antisemitische Motive in einem ausgestellten Großwerk gefunden und zu Recht skandalisiert. Es handelt sich um eine stereotype, abwertende und dämonisierende Darstellung einer jüdischen Figur: grotesk verzerrt, mit SS-Insignien und typischen antisemitischen Motiven versehen. Die Kritik wurde aber zum Ausgangspunkt einer regelrechten Suche nach weiterem Antisemitismus, in deren Verlauf eine Vielzahl von Funden überwiegend vorschnell und ohne Kontextualisierung präsentiert und oft unzulässig vereindeutigend dargestellt wurde. So wurde eine indonesische Kopfbedeckung als (jüdische) Kippa fehlidentifiziert. Abwertende Darstellungen von westlichen Geheimdienstlern, darunter der israelische Mossad, die in die indonesische Militärdiktatur Suhartos involviert waren, als Schweine wurden als spezifisch antijüdisch interpretiert, ohne die allgemeine Ikonographie der Urheber*innen und ihres politischen Kampfes zu reflektieren. Eine Parallelisierung der Situation im palästinensischen Gaza-Streifen mit Picassos Guernica-Motiv wurde als unangemessen und unsensibel kritisiert, obwohl eine lange Geschichte der Verwendung dieses Anti-Kriegs-Motivs in vielerlei Kontexten bisher zu keinerlei Debatten Anlass bot. So konnte der Eindruck einer stark antisemitischen Kunstschau entstehen, während eine Auseinandersetzung mit dem Sprechort, den Anliegen und Hintergründen der Künstler*innen, überwiegend aus dem globalen Süden, in der rein auf den deutschen Diskursrahmen bezogenen, damit ,provinziellen‘ Debatte weitgehend ausblieb und von diesen mit Rassismusvorwürfen gekontert wurde. Diese Debattenstruktur steht auch im Einklang mit der sich immer mehr verfestigenden antagonistischen Konfrontation von Antisemitismuskritik und (postkolonialer) Rassismuskritik, die teilweise für genuin antisemitisch erklärt wird (vgl. dazu Biskamp 2021; Mendel, Cheema, Arnold 2022). Der reduktionistische Documenta-Diskurs erinnert wiederum stark an die seit Jahren andauernde deutsche Debatte um die israelkritische bis israelfeindliche BDS-Bewegung. Diese wird von (pro-)palästinensischer Seite nachdrücklich als antirassistische Menschenrechtsbewegung gutgeheißen und von relevanten Teilen der Antisemitismuskritik rundheraus als antisemitisch interpretiert. Dabei wird vor allem auf die Assoziation zum nationalsozialistischen Judenboykott (nicht aber zu anderen Boykotten) hingewiesen und die Bewegung nicht selten gar als NS-affin interpretiert (Ullrich 2020). Diese Struktur, Antisemitismus- und Rassismuskritik nicht zusammen, sondern fast nur gegeneinander denken zu können, wurde entsprechend als das „unglückliche Bewusstsein“ der Linken unserer Zeit kritisiert (Holz und Haury 2021).

Literatur

Zum Weiterlesen

Zitierte Literatur

Zitiervorschlag

Ullrich, Peter (2022): Antisemitismus. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 21.11.2022. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/antisemitismus.  

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Agenda Setting

Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Normalismus

Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.

Wissen

Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.

Werbung

Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf Einführung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.

Mediale Kontrolle

Medien werden vielfältig zur Durchsetzung von Macht verwendet. So in der Zensur, wenn eine politische Selektion des Sagbaren und des Unsagbaren stattfindet; in der Propaganda, wenn eine Bevölkerung von den Ansichten oder wenigstens der Macht einer bestimmten Gruppe überzeugt werden soll; oder in der Überwachung, die unerwünschtes Verhalten nicht nur beobachten, sondern unwahrscheinlich machen soll.

Freund- und Feind-Begriffe

Freund-, Gegner- und Feindbegriffe sind Teil der Politischen Kommunikation. Sie bilden die Pole eines breiten Spektrums von kommunikativen Zeichen, mit denen politische Akteure sich selbst und ihre politischen Gegner im Kampf um beschränkte Ressourcen auf dem diskursiven Schlachtfeld positionieren.

Sprachpolitik / Sprachenpolitik

Sprachpolitik bezeichnet allgemein alle politischen Prozesse, die auf eine Beeinflussung der Sprachverwendung in einer Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft abzielen. Unterschieden wird häufig zwischen Sprachenpolitik und Sprachpolitik im engeren Sinne.

Techniken

Offener Brief

Bei einem offenen Brief handelt es sich um eine strategische Praktik, die genutzt wird, um Anliegen einer Person oder Gruppe öffentlich sichtbar zu machen. Die Texte, die als offene Briefe bezeichnet werden, richten sich an eine Person oder Institution und werden über Medien veröffentlicht.

Kommunikationsverweigerung

Unter dem Begriff Kommunikationsverweigerung lässt sich ein Bündel von Praktiken und Strategien fassen, die den kommunikativen Austausch zu erschweren oder zu verhindern suchen.

Flugblatt

Unter Flugblättern versteht man einseitige Druckerzeugnisse, die ursprünglich meist illustriert waren. Eng verwandt sind die mehrseitigen Flugschriften. Während Flugschriften und Flugblätter heute kostenlos verteilt werden oder zur Mitnahme ausliegen, wurden sie in der Frühen Neuzeit zunächst als Handelswaren verkauft und gingen so als frühe Massenmedien den Zeitungen voraus.

Passivierung

Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenüber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden müssen, was beispielsweise in Gesetzestexten für eine (gewünschte) größtmögliche Abstraktion sorgt („Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 3 GG).

Aufopferungs-Topos

Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren.

Opfer-Topos

Als Opfer-Topos bezeichnet man eine diskursive Argumentationsstrategie, bei der sich Akteure als ‚Opfer‘ gesellschaftlicher Urteilsbildung inszenieren und damit eigene Interessen – vor allem Aufmerksamkeit und Berücksichtigung von Bedürfnissen – geltend zu machen versuchen.

Analogie-Topos

Der Analogie-Topos zählt zu den allgemeinen bzw. kontextabstrakten Argumentationsmustern, die genutzt werden können, um für oder gegen eine Position zu argumentieren. Analogie-Topoi werden von verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen strategisch eingesetzt, um eine zustimmende Haltung bei den Zielgruppen zu bewirken.

Topos der düsteren Zukunftsprognose

Der Topos der düsteren Zukunftsprognose beschreibt ein Argumentationsmuster, bei dem eine negative, dystopische Zukunft prognostiziert wird. Dabei wird auf die drohenden Folgen einer Krise oder einer allgemeinen Gefahr verwiesen, aus der eine negative Zukunft bei falschem Handeln resultieren wird.

Negativpreis

Ein Negativpreis ist eine Auszeichnung an Personen oder Organisationen (meist Unternehmen), die sich oder ihre Produkte positiv darstellen und vermarkten, ihre Versprechen aus Sicht des Preisverleihers allerdings nicht einhalten. Dabei dient der Preis durch seine Vergabe vor allem dem Zweck, Aufmerksamkeit zu erregen, mediale Präsenz auf ein Thema zu lenken und den Preisträger in seinem moralischen Image zu beschädigen.

Be-/Überlastungs-Topos

Der Be-/Überlastungstopos ist ein Argumentationsmuster, das vorwiegend in der politischen Kommunikation eingesetzt wird. Als zu vermeidende Konsequenz einer konkreten Situation wird mit dem Be-/Überlastungstopos ein Be- bzw. Überlastungs-Szenario skizziert.

Schlagwörter

Verfassung

Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.

Toxizität / das Toxische

Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.

Zivilgesellschaft

Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.

Demokratie

Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.

Plagiat/Plagiarismus

Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.

Fake News

Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.

Lügenpresse

Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.

Grammatiknazi / Grammar Nazi

Das überwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi – als Übersetzung von engl. grammar nazi – wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den Äußerungen anderer (häufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen üben.

Respekt

Respekt oder respektvolles Verhalten wird eingefordert für die Eigengruppe (bzw. von der Eigengruppe), für wirklich oder vermeintlich diskriminierte Gruppen, für abweichende Meinungen. Mitgemeint ist bei der Forderung nach Respekt meist eine positiv bewertete Szene der (sozialen, kulturellen, ethnischen, sexuellen etc.) Vielfalt/Diversität.

Geschlechtergerechte Sprache

Mit dem heute als Fahnenwort gebrauchten Ausdruck geschlechtergerechte Sprache ist die Forderung verbunden, bei Personenbezeichnungen die einseitige, für diskriminierend erklärte Bezugnahme auf einen bestimmten Sexus, konkret: auf das männliche Geschlecht, zu unterlassen.

Verschiebungen

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Neue Beiträge Zur Diskursforschung 2023

Mit Beginn des Wintersemesters laden die Forschungsgruppen CoSoDi und Diskursmonitor sowie die Akademie diskursiv ein zur Vortragsreihe Neue Beiträge Zur Diskursforschung. Als interdisziplinäres Forschungsfeld bietet die Diskursforschung eine Vielzahl an...

Tagung: Diskursintervention (31.01.2019–01.02.2019)

Welchen Beitrag kann (bzw. muss) die Diskursforschung zur Kultivierung öffentlicher Diskurse leisten? Was kann ein transparenter, normativer Maßstab zur Bewertung sozialer und gesellschaftlicher Diskursverhältnisse sein?

Was ist ein Volk?

Dass „Volk“ ein höchst schillernder und vielschichtiger politischer Leitbegriff der vergangenen Jahrhunderte gewesen ist (und nach wie vor ist), kann man schon daran erkennen, dass der Eintrag „Volk, Nation“ in Brunner, Conze & Kosellecks großem Nachschlagwerk zur politischen Begriffsgeschichte mehr als 300 Seiten umfasst.

Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft!

Im Herbst 2022 veranstalteten die Sender des Deutschlandradios eine Kampagne mit Hörerbeteiligung zur Auswahl eines Themas, mit dem sich ihre sogenannte „Denkfabrik“ über das kommende Jahr intensiv beschäftigen solle. Fünf Themen standen zur Auswahl, „wehrhafte Demokratie“ wurde gewählt, wenig überraschend angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine…