DiskursGlossar

Kollektivsymbol

Kategorie: Grundbegriffe
Verwandte Ausdrücke: Deutungsmuster, Bildspendesphäre, Interdiskurs, Spezialdiskurs
Siehe auch: Metapher, Diskurs, Normalismus, Wissen
Autor: Clemens Knobloch
Version: 1.2 / Datum: 19.07.2022

Kurzzusammenfassung

Zur Kollektivsymbolik einer Kultur rechnet man den gesellschaftlich geteilten Vorrat an sprachlichen, bildlichen, schematischen und anderen Ressourcen, derer sich politische und mediale Akteure bedienen, um Ereignisse und Handlungen für die Allgemeinheit deutbar und verständlich zu machen. Kollektivsymbole sind interdiskursive Ressourcen (Interdiskurs), d.h. sie werden eingesetzt, um fachliches und sonstiges Spezialwissen, das der Allgemeinheit nicht direkt zugänglich ist, für die Öffentlichkeit aufzubereiten. Die Kollektivsymbolik einer Kultur ist überwiegend metaphorisch, sie nutzt die analogischen Potenziale allgemein bekannter und vertrauter Erfahrungssphären als Bildspender und projiziert sie in Erfahrungsbereiche, die politisch relevant, aber nicht allgemein zugänglich sind. Was wir als ,Klimawandel‘ oder als ,Globalisierung‘ bezeichnen, besteht fachdiskursiv aus einer ganz unübersichtlichen Fülle von Daten, Erkenntnissen, Details, die womöglich in den Fachdiskursen nicht eindeutig, sondern höchst umstritten sind. Kollektivsymbole rekodieren und resynthetisieren solche spezialdiskursiven Befunde für die Allgemeinheit. Mit Hilfe von Kollektivsymbolen kann Widersprüchliches und gänzlich Neues in die Sphäre des Vertrauten integriert und dort verarbeitet werden. Die soziologische Funktion der interdiskursiven Kollektivsymbolik besteht darin, hochgradig ausdifferenzierte gesellschaftliche Subsysteme und Funktionsbereiche durch allgemein zugängliche Deutungsmuster symbolisch zu reintegrieren. Öffentlichkeit gibt es für spezialdiskursives Wissen nur im Medium interdiskursiver Kollektivsymbolik.

Theorie und Begrifflichkeit der Kollektivsymbolik entstammen im Kern dem Umfeld von Jürgen Link und der Zeitschrift kultuRRevolution.

Erweiterte Begriffsklärung

In aller Regel geht es bei Kollektivsymbolik nicht um einzelne, isolierte Metaphern, sondern um Bildspendesphären, die ein eigenes Ausbaupotential haben wie ,Sport‘, ,Verkehr‘, ,Gesundheit/Krankheit/Medizin‘. Es handelt sich bei den typischen kollektivsymbolischen Sphären um Titel oder Überschriften für allgemein vertraute Bereiche der gesellschaftlichen Kommunikation. Genutzt wird dieses Potenzial als Basis für konventionelle Inferenzen und Folgerungen. Das gilt sowohl für die pragmatische Ebene des Folgehandelns als auch für das jeweilige Begriffsnetz. Wenn ich ein feindliches Land als Krebsgeschwür bezeichne, dann legitimiert das radikale, im Zweifel auch militärische Operationen auf der Handlungsebene und adelt zugleich den militärischen Akteur als verantwortlichen Arzt. Und wenn migrationspolitisch das Boot voll ist, dann legitimiert das ebenso radikale Gegenmaßnahmen, weil sonst Gefahr besteht, dass alle gemeinsam untergehen. Das soziale Netz ist eine Schutz- und Sicherungseinrichtung, es verhindert, dass die Arbeitenden abstürzen, es darf aber nicht zur Hängematte werden, weil es die Betroffenen dann zu Bequemlichkeit verführt. All das sind Sprachbilder, die mit ihren konventionellen Folgerungen zusammen Deutungs- und Orientierungsmuster bilden.

Kollektivsymbole versorgen den politischen Diskurs mit Bildsphären, deren Konnotationen und Implikationen allen Teilnehmern vertraut sind. Sie vereinfachen komplexe Zusammenhänge suggestiv und machen sie öffentlich verhandelbar.

Was das Metaphorische an der Kollektivsymbolik betrifft, so ist daran zu erinnern, dass kein sprachlicher Ausdruck für sich betrachtet metaphorisch ist. Metaphorisch sind stets nur bestimmte Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke, wenn sie Merkmale ihres angestammten und ,eigentlichen‘ Gebrauchs auf andersartige Anwendungssphären projizieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass allenthalben ,metaphorischer‘ und ,eigentlicher‘ Gebrauch sprachlicher Ausdrücke und Ausdrucksnetze nahtlos ineinander übergehen. Wer möchte entscheiden, ob die Begriffsnetze des ,Wettbewerbs‘ eigentlich vornehmlich in den Sport, in die Wirtschaft, in die Politik (oder gar in die Wissenschaft) gehören? Sie werden überall verwendet, und eben das qualifiziert sie für den kulturellen Vorrat an allgemein zirkulationsfähigen Kollektivsymbolen. Das Repertoire kollektivsymbolisch nutzbarer Themen- und Motivfelder wird oft dargestellt im folgenden Schema:

cocsys
Abb. 1: Synchrones System der Kollektivsymbole

Im Allgemeinen werden auch Statistiken, Kurven, Schaubilder zur Kollektivsymbolik „normalistischer“ Kulturen (vgl. Link 2006) gerechnet. Ökonomisch repräsentiert eine von links nach rechts in Wellenlinien leicht ansteigende Kurve das ,Normalwachstum‘, ein plötzlich steiler Abfall repräsentiert eine Krise, eine alsbald wieder steil zur Normalität zurückkehrende V-Kurve beruhigt das Publikum in der Krise, weil sie die Rückkehr zur Normalität repräsentiert. Bleibt sie als L-Kurve nach dem Einbruch dauerhaft niedrig, symbolisiert das die Verstetigung der Krise. Alle Formen der Verpunktung und Verdatung von Gesellschaften nötigen den Einzelnen dazu, sich selbst permanent innerhalb der Verhältnisse zu verorten: Ausbildung, Einkommen, Wohnverhältnisse, politische Orientierung, überall erfahren wir, ,wo wir stehen‘ und ob wir uns noch im gesellschaftlichen Normalfeld aufhalten. Rankings gibt es mittlerweile für Urlaubsorte, Wirtschaftsstandorte und Universitäten, um nur einige Felder zu nennen. Sie spornen die Verantwortlichen an, ihre Position zu verbessern.

Nicht selten sind kollektivsymbolische Darstellungen im politischen Feld durch Bildbrüche (Katachresen) gekennzeichnet. Im politischen Interdiskurs werden derartige Bildbrüche toleriert, während in literarischen Interdiskursen erwartet wird, dass die Bildspendesphäre halbwegs folgerichtig integriert (oder wenigstens integrierbar) sein sollte. In der strukturellen Semantik literarischer Texte (A. Greimas) spricht man in diesem Zusammenhang von semantischen Isotopien (= die textuelle Verkettung rekurrenter semantischer Merkmale). Kollektivsymbolische politische Interdiskurse sind demgegenüber stärker auf der Ebene des Gemeinten semantisch integriert. Wir tolerieren durchaus Leitartikel, in denen die Konjunkturlokomotive den Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig macht und in der Oberliga hält. Und wenn in der Finanzkrise Banken zu Patienten werden, dann wird die staatliche Bankenrettung zur medizinischen Aktion. Lehrbuchbeispiele für Bildbrüche stammen darum meist aus der politischen Sphäre (noch mehr von der Medizin, mit der die überkontrollierte und vom Staat dirigierte deutsche Wirtschaft in den Graben gefahren wurde; FAZ vom 20. Juni 2005; oder der Patient Deutschland, der in den Stürmen vom Weg abgekommen ist etc.).

Da sich kollektivsymbolische Darstellungsweisen den Weg vom Fach- zum Interdiskurs bahnen, sind interdiskursiv zirkulationsfähige Konzepte und Termini durchaus auch in Fach- und Spezialdiskursen beliebt. Sie bahnen sich damit auch den Zugang zur allgemeinen Aufmerksamkeit (und oft auch zu Ressourcen, die mit öffentlicher Aufmerksamkeit verbunden sind). In der Fachkommunikation sollten sie freilich Elemente eines definierten terminologischen Netzwerkes („terministic screen“ bei Kenneth Burke) sein. Im Ergebnis (siehe hierzu unter [3] das Beispiel der Coronapandemie-Kollektivsymbolik) kommt es oft zu konkurrierenden fachlichen und interdiskursiven Lesarten der gleichen Ausdrücke.

Das ist darum relevant, weil Expertise und populäre Wissenschaftsversionen zu wichtigen Bildspendesphären geworden sind. Was auf den Wissensseiten der Zeitungen, in den Wissenschaftsformaten von Fernsehen und Internet präsentiert wird, das ist durchweg kollektivsymbolisch zirkulationsfähig gemachter Fachdiskurs (oder es soll jedenfalls so aussehen). Hinter Eröffnungen des Typs Experten haben herausgefunden, dass… verbirgt sich in der Regel die doppelte Autorität kollektivsymbolischer Präsentation und wissenschaftlicher Beweisbarkeit.

Im medio-politischen Interdiskurs wirken Experten durch die (weitgehend automatisierten) Schlussfolgerungen, mittels derer ihre Thesen und ,Tatsachen‘ mit den alltagspraktischen Maximen, Normen, Deutungsmustern und Ideologien der Laien verbunden sind – bzw. durch die Politik verbunden werden können. Im Fachdiskurs sind die gleichen Thesen und Tatsachen mit ganz anderen, nämlich den fachlich geteilten Wissensbeständen verbunden und verbindbar. Eine jede Tatsache ist somit zunächst nicht mehr als ein allgemein akzeptierter Ausgangspunkt für Weiterungen und Folgerungen. Und das müssen keinesfalls überall die gleichen sein. Schon gar nicht bei Experten und Laien. Die Medien wählen darum gerne Experten und Tatsachen, die erwünschte Verbindungen mit der jeweils eigenen Agenda und Position ermöglichen.

Beispiele

(1) Ein besonders interessantes Beispiel bietet die Kollektivsymbolik in der Coronapandemie, und zwar darum, weil die Kollektivsymbolik der ansteckenden Krankheit (Viren, Kontaktbeschränkungen, Quarantäne, Impfung, Prävention etc.), die ja auch zur Bearbeitung politischer Beziehungen zwischen Staaten oder Blöcken eingesetzt werden kann, zur politischen Bewältigung einer ansteckenden Krankheit verwendet wurde (also gewissermaßen auf sich selbst). Eine solche Deckung und Konkurrenz von Kollektivsymbolik und eigentlichem medizinischem Fachdiskurs (von pictura und subscriptio), erlaubt dem Publikum gewissermaßen den direkten Vergleich beider Diskurse. Dass in der Pandemie die Stunde der medientüchtigen Virologen schlug, ist kein Zufall, Widersprüche wurden beobachtbar und Kollateralschäden unübersehbar: Als Kollektivsymbol ‚verhindert eine Impfung die Infektion‘, im Pandemiediskurs musste man dem Publikum erklären, warum die Coronaimpfung die Infektion weder verhindert noch die Umgebung des Geimpften vor Infektion schützt. Experten, die nicht auf der Linie des politischen Interdiskurses lagen, galten plötzlich auch im fachlichen Spezialdiskurs als Verschwörungstheoretiker. Die direkte Berührung beider Ebenen sortiert das Feld auch auf beiden Seiten um. Zu beobachten war auch offene Konkurrenz zwischen medizinischen Fachverbänden (z.B. der Ständigen Impfkommission oder dem Netzwerk der evidenzbasierten Mediziner) und Medien, was die Ausdeutung von Fallzahlen, Todesursachen, Impfwirkungen betrifft (vgl. Knobloch 2020).

(2) Zu den häufig zitierten Standardbeispielen in der Literatur zur Kollektivsymbolik gehört die Abbildung wirtschaftlicher Dynamik im Medium von Transport und Verkehr: Der Konjunkturmotor stottert, die Wirtschaft nimmt Fahrt auf, die Konjunktur stürzt ab, wird gebremst. Die Wirtschaft bleibt auf Kurs, bekommt Rückenwind etc. Autobahn, Überholspur, Stau etc. gehören auch in dieses Repertoire. Auch die Symbolik von Schiff, Kapitän, Ausguck, Sturm, Untergang etc. wird gern für wirtschaftliche und politische Prozesse verwendet.

(3) Zu den Kernbeständen der Kollektivsymbolik gehört das Orientierungsschema für den politischen Raum, das aus den Positionen Links–Mitte–Rechts besteht. Dieses Schema ermöglicht ein bewegliches Management von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, von Innen und Außen, sowie die fallweise Verräumlichung des politischen Feldes. Es gibt zwei Varianten dieses Schemas: einmal die ,Gleichgewichtswaage‘, bei der die Mitte ein Wunschort sowie das Zentrum der ,Normalität‘ ist, während die Ränder für bedrohlich, tendenziell nicht normal, aber partiell integrierbar gelten. Typische Themen- und Personenkarrieren beginnen an den Rändern, die aufmerksamkeitspolitisch privilegiert sind, und enden in der Mitte. Die Ränder wiederum werden gegliedert in links/rechts – radikal – extremistisch – terroristisch. Die Ausschließungszone (Beobachtung durch den Verfassungsschutz, drohendes Verbot etc.) beginnt mit dem Prädikat extremistisch. Themen, Personen und Organisationen können im politischen Raum strategisch verschoben werden, aus der gehegten Mitte heraus an die Ränder und von den Rändern zur Mitte.

Die zweite Variante des Schemas, meist mit der krisenhaften Spätphase der Weimarer Republik assoziiert, ist die des ,symbolischen Bürgerkriegs‘, bei der die Mitte als verächtlicher Ort gilt und die extremen Ränder sie gemeinsam bekämpfen.

(4) Die Kollektivsymbolik der ,sozialen Landschaft‘, zum Verhältnis von attraktiver, Stabilität garantierender Mittelschicht, Reichen, Superreichen und Marginalisierten, Armen etc. bildet ebenfalls ein Zentralgebiet von Politik und Medien. Ursula Kreft (2001) hat das Verhältnis bildlicher, narrativer und sonstiger kollektivsymbolischer Ressourcen zu diesem Feld untersucht: Die einschlägige Kollektivsymbolik macht Gebrauch von exemplarischen Einzelfallgeschichten (rasche Aufstiege nach oben, steile Abstürze von oben), Modellcharakteren (Selbstunternehmer etc.), bildlichen Darstellungen der Sozialordnung (Schiff mit Sonnendeck und Unterdeck für die Ruderer etc.), Warngeschichten über die schrumpfende Mitte etc.

(5) Zu den typischen Anwendungsfeldern von Kollektivsymbolik gehört auch deren kritisch-satirischer Einsatz, wie z.B. im folgenden Bild von Michael Sowa, das ein Sprachbild mit Hilfe einer Illustration ,veranschaulicht‘:

Kollektivsymbol Abb2 Boot ist voll
Abb. 2: Michael Sowa: „Das Boot ist voll“

 

Literatur

Zum Weiterlesen

  • Becker, Frank; Gerhard, Ute; Link, Jürgen (1997): Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (II). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. (IASL), Heft 1, Jg. 22, S. 70–154.
  • Gerhard, Ute; Link, Jürgen; Schulte-Holtey, Ernst (Hrsg.)(2001): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartographie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg: Synchron.

Zitierte Literatur

  • Becker, Frank; Gerhard, Ute; Link, Jürgen (1997): Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (II). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. (IASL), Heft 1, Jg. 22, S. 70–154.
  • Burke, Kenneth (1966): „Terministic Screens“. In: Ders.: Language as Symbolic Action. Berkeley, L.A.: University of California Press. S. 44–62.
  • Gerhard, Ute; Link, Jürgen; Schulte-Holtey, Ernst (Hrsg.)(2001): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartographie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg: Synchron.
  • Greimas, Algirdas J. (1966): Sémantique structurale. Paris: Larousse.
  • Jäger, Margarete; Jäger, Siegfried (2007): Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse. Wiesbaden: VS Verlag.
  • Knobloch, Clemens (2001): Aus Alt mach Neu: Links, Mitte, Rechts. In: Gerhard, Ute; Link, Jürgen; Schulte-Holtey, Ernst (Hrsg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartographie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg: Synchron. S. 175–190.
  • Knobloch, Clemens (2020): „Über die Rolle der Experten im Corona-Notstand“. In: kultuRRevolution – Zeitschrift für Angewandte Diskurstheorie, Heft 79, S. 39–45
  • Kreft, Ursula (2001): Tiefe Risse, bedrohliche Verwerfungen. Soziale Ordnung und soziale Krise in deutschen Printmedien. In: Gerhard, Ute; Link, Jürgen; Schulte-Holtey, Ernst (Hrsg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartographie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg: Synchron. S. 127–148.
  • Link, Jürgen (1997): Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Stuttgart: UTB.
  • Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität hergestellt wird. Göttingen: Vandenhoeck.

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Synchrones System der Kollektivsymbole. In: Link, Jürgen (1984): Diskursive Rutschgefahren ins vierte Reich? Rationales Rhizom, In: kultuRRevolution – Zeitschrift für Angewandte Diskurstheorie, Heft 5, S. 12–20.
  • Abb. 2: Michael Sowa: „Das Boot ist voll“. In: Claudia Roth (Hrsg.): Neue Mauern. Ein Postkartenbuch von 1994. o. S.

Zitiervorschlag

Knobloch, Clemens (2022): Kollektivsymbol. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 19.07.2022. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/kollektivsymbol.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Argumentation

Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Agenda Setting

Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Normalismus

Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.

Wissen

Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.

Werbung

Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf Einführung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.

Mediale Kontrolle

Medien werden vielfältig zur Durchsetzung von Macht verwendet. So in der Zensur, wenn eine politische Selektion des Sagbaren und des Unsagbaren stattfindet; in der Propaganda, wenn eine Bevölkerung von den Ansichten oder wenigstens der Macht einer bestimmten Gruppe überzeugt werden soll; oder in der Überwachung, die unerwünschtes Verhalten nicht nur beobachten, sondern unwahrscheinlich machen soll.

Techniken

Nicht-Entschuldigen / Nonpology

Mit der Nicht-Entschuldigung verfolgen Diskursakteure verschiedene Ziele: sie wollen Ablenken von der eigenen Schuld, erhoffen sich eine Reputationsverbesserung durch vorgespielte Reue oder wollen (andere) negative Konsequenzen abwenden und sich in der Öffentlichkeit positiv als fehlereinsichtig und selbstkritisch darstellen.

Hashtag

Mit dem Begriff Hashtag wird auf eine kommunikative Technik der spontanen Verschlagwortung und Inde-xierung von Postings in der Internetkommunikation verwiesen, bei der Sprache und Medientechnik sinnstif-tend zusammenwirken. Der Gebrauch von Hashtags hat eine diskursbündelnde Funktion: Er ermöglicht es, Inhalte zu kategorisieren (#Linguistik, #Bundestag), such- und auffindbar zu machen (#Bundestags-wahl2025), aber auch zu bewerten (#nicetohave) und zu kontextualisieren (#Niewiederistjetzt).

Diminutiv

Auch in Politik, Wirtschaft, Presse und Werbung werden Diminutiv-Formen zu rhetorischen Zwecken eingesetzt, um etwa emotionale Nähe zu konstruieren (unser Ländle), eine Person abzuwerten (die ist auch so ein Schätzchen), einen als ‚riskant‘ geltenden Sachverhalt zu ‚verharmlosen‘ (ein Bierchen) oder eine ‚Sachverhaltsbanalisierung‘ zurückzuweisen (Ihre ‚Demonstratiönchen‘).

Sündenbock

Der Sündenbock bezeichnet eine Person oder Gruppe, die stellvertretend für etwas beschuldigt wird. Hinter dieser Schuldzuweisung steckt ein kommunikativer Mechanismus des Gruppenzusammenhalts, der sich in verschiedenen kulturellen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten durch Rituale, Mythen, Erzählungen oder Verhalten manifestiert.

Redenschreiben

Wer Reden schreibt, bereitet die schriftliche Fassung von Reden vor, die bei besonderen Anlässen gehalten werden und bei denen es auf einen ausgearbeiteten Vortrag ankommt.

Offener Brief

Bei einem offenen Brief handelt es sich um eine strategische Praktik, die genutzt wird, um Anliegen einer Person oder Gruppe öffentlich sichtbar zu machen. Die Texte, die als offene Briefe bezeichnet werden, richten sich an eine Person oder Institution und werden über Medien veröffentlicht.

Kommunikationsverweigerung

Unter dem Begriff Kommunikationsverweigerung lässt sich ein Bündel von Praktiken und Strategien fassen, die den kommunikativen Austausch zu erschweren oder zu verhindern suchen.

Flugblatt

Unter Flugblättern versteht man einseitige Druckerzeugnisse, die ursprünglich meist illustriert waren. Eng verwandt sind die mehrseitigen Flugschriften. Während Flugschriften und Flugblätter heute kostenlos verteilt werden oder zur Mitnahme ausliegen, wurden sie in der Frühen Neuzeit zunächst als Handelswaren verkauft und gingen so als frühe Massenmedien den Zeitungen voraus.

Passivierung

Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenüber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden müssen, was beispielsweise in Gesetzestexten für eine (gewünschte) größtmögliche Abstraktion sorgt („Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 3 GG).

Aufopferungs-Topos

Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren.

Schlagwörter

Verfassung

Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.

Toxizität / das Toxische

Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.

Zivilgesellschaft

Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.

Demokratie

Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.

Plagiat/Plagiarismus

Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.

Fake News

Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.

Lügenpresse

Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.

Antisemitismus

Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene Phänomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloßen Distanzierung und Behauptung jüdischer Andersartigkeit, über vollständig ausgearbeitete Weltbilder, die Jüdinnen*Juden für sämtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken.

Grammatiknazi / Grammar Nazi

Das überwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi – als Übersetzung von engl. grammar nazi – wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den Äußerungen anderer (häufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen üben.

Respekt

Respekt oder respektvolles Verhalten wird eingefordert für die Eigengruppe (bzw. von der Eigengruppe), für wirklich oder vermeintlich diskriminierte Gruppen, für abweichende Meinungen. Mitgemeint ist bei der Forderung nach Respekt meist eine positiv bewertete Szene der (sozialen, kulturellen, ethnischen, sexuellen etc.) Vielfalt/Diversität.

Verschiebungen

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Relativieren – kontextualisieren – differenzieren

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.

Neue Beiträge Zur Diskursforschung 2023

Mit Beginn des Wintersemesters laden die Forschungsgruppen CoSoDi und Diskursmonitor sowie die Akademie diskursiv ein zur Vortragsreihe Neue Beiträge Zur Diskursforschung. Als interdisziplinäres Forschungsfeld bietet die Diskursforschung eine Vielzahl an...

Tagung: Diskursintervention (31.01.2019–01.02.2019)

Welchen Beitrag kann (bzw. muss) die Diskursforschung zur Kultivierung öffentlicher Diskurse leisten? Was kann ein transparenter, normativer Maßstab zur Bewertung sozialer und gesellschaftlicher Diskursverhältnisse sein?

Was ist ein Volk?

Dass „Volk“ ein höchst schillernder und vielschichtiger politischer Leitbegriff der vergangenen Jahrhunderte gewesen ist (und nach wie vor ist), kann man schon daran erkennen, dass der Eintrag „Volk, Nation“ in Brunner, Conze & Kosellecks großem Nachschlagwerk zur politischen Begriffsgeschichte mehr als 300 Seiten umfasst.

Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft!

Im Herbst 2022 veranstalteten die Sender des Deutschlandradios eine Kampagne mit Hörerbeteiligung zur Auswahl eines Themas, mit dem sich ihre sogenannte „Denkfabrik“ über das kommende Jahr intensiv beschäftigen solle. Fünf Themen standen zur Auswahl, „wehrhafte Demokratie“ wurde gewählt, wenig überraschend angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine…