DiskursGlossar
Normalismus
Kategorie: Grundbegriffe
Verwandte Ausdrücke: Normalität, Normalitätskonstrukt
Siehe auch: Diskurs, Strategische Kommunikation, Perspektive, Freund-Feind-Begriffe
Autor: Friedemann Vogel
Version: 1.1 / Datum: 05.02.2023
Kurzzusammenfassung
Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben. ‚Normalität‘ ist demnach nicht immer schon da, sondern wird erst seit rund 250 Jahren durch Kommunikation und soziale Praxis (re)produziert. Was als ‚Normalität‘ gilt, wird so zum Gegenstand wie auch zu einer Technik gesellschaftlicher Kontrolle und Machtregulation. Die historische Voraussetzung für die Entwicklung des Normalismus als kulturelle Leitideologie seien zweierlei Entwicklungen gewesen: erstens die Vermessung und Verdatung aller Lebensbereiche, das Berechnen von erwartbaren ‚Durchschnitten‘ und von (zu kontrollierenden) ‚Ausnahmen‘ menschlichen Tuns und Lassens; zweitens die anschauliche Aufbereitung durch Kollektivsymbole und reichweitenstarke Kommunikation dieser Vermessungen in Massenmedien.
Historisch beobachtet Link zwei Idealtypen, die in verschiedenen Mischformen auftreten: Als Protonormalismus wird eine ‚(A-)Normalitäts‘-Ideologie bezeichnet, bei der Gesellschaften (von 1800 bis etwa 1945) nur einen engen Korridor des ‚Normal-Seins‘ akzeptieren und dagegen eine große Bandbreite des ‚A-Normalen‘ unter Androhung oder Umsetzung von Zwängen und Sanktionen auszuschließen versuchen. Als Flexiblen Normalismus bezeichnet Link dagegen eine ‚(A-)Normalitäts‘-Ideologie (vieler westlicher Gesellschaften ab etwa 1945), die – bis auf einen kleinen, illegitimen Randbereich – möglichst jede ‚A-Normalität‘ in das breite Spektrum des ‚als-noch-normal- Akzeptierten‘ zu integrieren versucht.
Das Umschlagen eines kollektiven Gefühls von ‚Normalität‘ zu ‚Anormalität‘ (Denormalisierung) nehmen moderne (westliche) Gesellschaften als Bedrohung wahr und rufen (re)normalisierende Gegenmaßnahmen auf den Plan.
Erweiterte Begriffsklärung
Den Begriff Normalismus hat der Literaturwissenschaftler und Diskursanalytiker Jürgen Link in mehreren Studien seit den 1990er Jahren prominent gemacht (2013a, 2013b, 2018). Die damit verbundene, an Foucault orientierte Theorie nimmt ihren Ausgang bei der Beobachtung, dass sich ab etwa 1800 zunächst in den Wissenschaften und später in der breiteren Medienöffentlichkeit ein Diskurs über ‚Normalität(en)‘ entwickelt. Dabei bildet sich eine Leitideologie heraus, die menschliches Denken, Fühlen und Handeln danach bemisst und ausrichtet, wie ‚normal‘ oder ‚anormal‘ es im Vergleich zu dem Denken, Fühlen und Handeln anderer ist. ‚Normalität‘ ist damit keine anthropologische Grundkonstante der Menschheit, sondern ein kulturelles Phänomen der Moderne von überwiegend westlichen Gesellschaften. Dass dieses Phänomen lange Zeit unbemerkt blieb und auch heute vom Großteil der Bevölkerung nicht reflektiert wird, liegt an seiner Omnipräsenz und Totalität – gleich dem blinden Fleck, den das Auge benötigt, um sehen zu können, den der Sehende an sich selbst jedoch nicht wahrnimmt.
Normalität ist von Normativität zu unterscheiden: Normativität bezieht sich auf ethische und rechtliche Verhaltensimperative, also Vorschriften und Normen, aber auch auf den Umgang mit Normbrüchen und Sanktionen in sozialen Gruppen. Normen spielen in jeder Gesellschaft eine grundlegende Rolle, andernfalls wäre ein Zusammenleben von Individuen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen nicht möglich. Normalität dagegen ist aus Sicht der Normalismustheorie ein diskursives und historisch relativ junges, kulturspezifisches Leitkonzept, das eine normative, regulative Wirkung entfaltet, indem Menschen sich an dem orientieren, was als ‚normal‘ oder ‚abnormal‘ gilt.
Die Herausbildung von totalitär wirksamen Normalitätsdiskursen ist laut Link an zweierlei historische Bedingungen geknüpft: Erstens mussten sich Kulturtechniken entwickeln, die ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ erfassen und messbar machen: empirische Erhebungs- und Analyseverfahren, Verdatung aller Lebensbereiche (Erfassung von Alterskohorten, Geschlechtern, Körpergewichten, Einkommensverhältnissen, Schuhgrößen, sexueller Orientierung usw. in einer sozialen Gruppe), mathematische Statistik (Berechnung von Verteilungen, Wahrscheinlichkeiten, Prognosen) und Visualisierung in Graphen. Zweitens mussten die zunächst vor allem in fachlichen Spezialdiskursen (z.B. an Universitäten) geschaffenen Informationen durch Massenmedien so aufbereitet und vervielfältigt werden, dass auch größere Bevölkerungsteile sie wahrnehmen und in ihr Weltbild integrieren konnten. Das bedeutet auch: Normalismus als gesellschaftliche Leitideologie hat keinen originären Erfinder oder manipulativ-steuernden Ursprung, sondern ist das Ergebnis eines Zusammenspiels verschiedener diskursiver Teilprozesse, Akteure und Ereignisse (ein sog. emergentes Phänomen). Wenn sie durchschaut wird, kann eine normalistische Funktionslogik allerdings durchaus strategisch eingesetzt werden, etwa durch kampagnenartiges Streuen von ‚Normalitätsbehauptungen‘ (was macht einen ‚normalen Deutschen‘, eine ‚normal-gute Mutter‘ oder einen ‚verantwortungsvoller Arbeiter‘ aus u.ä.) oder das Erzeugen von ‚Denormalisierungsängsten‘ mithilfe dystopischer Erzählungen (Topos der düsteren Zukunft).
Die Übersetzung und Zirkulation von teilweise komplexen fachlichen (oftmals statistischen) Zusammenhängen in massenmedial taugliche Informationsangebote erfolgt laut Link vor allem durch sprachliche und visuelle Bilder (Kollektivsymbole), Infografiken, Tabellen, Metaphern: abkühlendes Wachstum, Flüchtlingswelle, Börsenabsturz und ähnliche Metaphern perspektivieren die berichteten Sachverhalte nicht nur, sie vermitteln implizit auch ein ‚Normalitäts‘-Ordnungsschema, nach denen Ereignisse in der Welt klassifiziert und re-normalisierende Handlungsimperative in Politik, Wirtschaft, Recht etc. nahegelegt werden (ein sich abkühlendes Wachstum sollte angefeuert, eine Flüchtlingswelle mit Dämmen aufgehalten werden usw.). Prototypisch versinnbildlicht wird die Denkschablone des ‚(A-)Normalen‘ vor allem durch die Gauß‘sche Glockenkurve, die sogenannte „Normalverteilung […] mit ihrer perfekten Zentraltendenz und ihrer Symmetrie zwischen zwei gegen Null auslaufenden Extrempolen“ (Link 2009: 21 f.). Die Zentraltendenz um den Scheitelpunkt steht dabei für das Spektrum des ‚Normalen‘, die links und rechts gegen Null abfallenden Kurven stehen für die zunehmende Distanz zur ‚Normalität‘. Je nach historischem Kontext und Sachverhalt liegen die ‚Normalitätsgrenzen‘, an denen sich das ‚noch akzeptierte Normale‘ vom ‚inakzeptable A-Normale‘ trennt, mal näher oder mal weiter vom Scheitelpunkt entfernt.
Abb 1: Massenmediale Verbildlichung von ‚normaler‘ und ‚außergewöhnlicher‘ (hohe / jetzt viel höher) Inzidenz bzw. medienöffentlicher Aufmerksamkeit einschließlich Kurvendiagramm, Kollektivsymbol der Welle und Lesbarkeitshinweisen im Begleittext (Nürnberger Nachrichten, 22.06.2022).
Je nach historisch-kulturellem Kontext unterscheidet Link zwei verschiedene Ausprägungen der Normalismus-Ideologie:
- Als Protonormalismus wird eine ‚(A-)Normalitäts‘-Ideologie bezeichnet, bei der Gesellschaften (historisch von 1800 bis etwa 1945) nur einen engen Korridor des ‚Normal-Seins‘ akzeptieren und dagegen eine große Bandbreite des ‚A-Normalen‘ zu unterdrücken versuchen. Um die engen Grenzen des ‚Normalen‘ gegenüber dem omnipräsent-drohenden ‚Abnormalen‘ abzusichern, werden sie mit abschreckenden juristischen und normativen Erwartungen, Vorschriften und Sanktionsandrohungen bewehrt (Gefängnis, psychiatrische Anstalt, Arbeitslager usw.). Der Protonormalismus schließt Abweichungen von der Normalität mehrheitlich aus und prägt Gesellschaftsmitglieder mit autoritärem, außengeleitetem und diszipliniertem Charakter (vgl. Link 2013c: 203). Protonormalistisch geprägt in diesem Sinne war etwa die nationalsozialistische Herrschaft des Dritten Reiches durch Rassenlehre, geringe Toleranz gegenüber Abweichungen (in Herkunft, Aussehen und Statur, Sprache usw.) und Aussperrung, Inhaftierung oder Vernichtung von politisch Andersdenkenden, Juden, Sinti/Roma und Menschen mit Behinderung.
Abb 2: Protonormalismus als Kurven-Illustration
- Als Flexiblen Normalismus bezeichnet Link dagegen eine ‚(A-)Normalitäts‘-Ideologie (vieler westlicher Gesellschaften ab etwa 1945), die – bis auf einen kleinen, illegitimen Randbereich – möglichst jede Abweichung vom ‚Normalen‘ in das breite Spektrum des ‚als-noch-normal-Akzeptierten‘ zu integrieren versucht (anstelle einer Ausschließung). Die Normalitätsgrenzen sind also ,flexibel‘, harte Sanktionierung (wie im Protonormalismus) findet nur am Rande der Normalitätsskala statt. Menschen werden so weniger durch äußere Zwänge reguliert, sondern dazu angehalten, sich ihrerseits flexibel anhand der sie umgebenden Normalitätsgrenzen selbst zu regulieren, selbst zu normalisieren.
Abb. 3: Flexibler Normalismus als Kurven-Illustration
Diese beiden Ausprägungen von Normalismus sind nur idealtypisch trennbar, in der gesellschaftlichen Realität finden sich zahlreiche, auch phasenweise wechselnde Mischformen. Vor allem in historischen Situationen, in denen Gesellschaften mit einer nachhaltigen Denormalisierung konfrontiert sind (Energiekrise, Finanzkrise, Pandemie, Krieg), ist auch in heutigen, als demokratisch markierten westlichen Gesellschaften eine Tendenz zu protonormalistischer Politik und Medienaktivität beobachtbar.
Beispiele
(1) Die individuelle Wahrnehmung und die medienöffentliche Einordnung der politischen Parteienlandschaft erfolgt in der heutigen Gesellschaft der Bundesrepublik in einer flexibel-normalistischen Denkschablone. Als normal gelten alle Parteien und politischen Gruppen, die sich mehr oder weniger an der Mitte – so das zentrale Schlagwort – der Gesellschaft orientieren (d.h. auch: an derjenigen Bevölkerungsgruppe, die ihrem Einkommen und Vermögen nach als Durchschnitts- oder Normalverdiener im Unterschied zu den als ‚anormal‘ geltenden kleinen und deshalb vermeintlich belanglosen Rändern überdurchschnittlichen Reichtums und großer Armut). Die Mitte bildet den attraktiven Ort aller politischen Akteure und von der Nähe oder Distanz zur symbolischen Mitte aus beurteilen Massenmedien ihre Akzeptabilität: als die Piratenpartei erfolgreich erste Landesparlamente eroberte, war in der Presse kaum ihr Programm, dafür vor allem die Frage relevant, wo – rechts oder links von der Mitte – diese Partei einzuordnen sei. Außerhalb des politischen ‚Normalitätsspektrums‘ stehen kriminelles Bandentum und mangelnde Verfassungsmäßigkeit (d.h. praktisch, wenn eine Partei durch den Verfassungsschutz beobachtet wird). An den ‚Rändern‘ des breiten ‚Normalitätsspektrums‘ schließlich stehen als populistisch markierte Parteien, deren Einordnung im Interdiskurs noch nicht entschieden ist (vgl. Knobloch 2007).
(2) Jede gesellschaftliche Krise ist mit Denormalisierung(sängsten) und Renormalisierungsversuchen verbunden. Zuletzt besonders anschaulich wurde dies 2019-2022 infolge der Covid-19-Pandemie: das öffentliche Bild sämtlicher Massenmedien (und auch der sozialen Medien) war dominiert von einer „Kurvenlandschaft“ (Link), von Schaubildern und Verteilungsgrafiken, die tagesaktuell mit Angabe von Durchschnitts- und drohenden Extremwerten (zu Infektionen, Todesfällen, räumlicher Verbreitung usw.) ein Bild von sich wandelnden ‚(A-)Normalitäten‘ vermittelte. Auch in der subjektiven Wahrnehmung und in Alltagsgesprächen zeigte sich die Orientierung an diesen statistischen ‚Normalitätsindikatoren‘: kann das Kind bei diesen Infektionszahlen (im Vergleich zu denen der Vorwoche oder des Vormonats) noch/nicht mehr/schon wieder in den Kindergarten, in den Zoo, zu den Großeltern? Wie hoch ist das durchschnittliche Infektionsrisiko als Mann/Frau/Kind/jung/alt usw.? Talkshows diskutierten die Frage, wie in der Pandemie unter dem Eindruck von Gesundheitsschutzverordnungen und weitreichenden Einschränkungen des öffentlichen wie privaten Lebens neue Normalität und/oder die Rückkehr zur alten Normalität möglich sei und wie diese aussehe (zum Schlagwort New Normal/Neue Normalität vgl. auch Knobloch 2020).
Zu Beginn der Pandemie war vor allem der flexible Normalismus als regulierende Leitidee deutlich erkennbar: Politik und Medien appellierten an die individuelle Verantwortung für das eigene soziale Umfeld; Losungen, Kampagnen und Empfehlungen zu Selbstschutzmaßnahmen wurden ausgegeben; präventive Selbst-Regulation sollte die Einhaltung von Abstandsregeln, Selbstisolation und Impfbereitschaft gewährleisten. Mit zunehmender Denormalisierungsangst in der Bevölkerung (infolge von Gehaltseinbußen, psychischen Isolationsfolgen u.a.) und einer Zunahme an politischem Protest wechselte der öffentliche (politische wie mediale) Diskurs zunehmend zu protonormalistischen Rezepten: behördlich verordnete und polizeilich kontrollierte Isolation im (möglichen) Infektionsfall, Androhung und Durchsetzung von Grundrechtseinschränkungen (die teilweise von Gerichten wieder revidiert wurden), gesetzliche Regelung einer Teilimpfpflicht, deutliche Verengung des Normalitätskorridors auf regierungskonformes Verhalten, Verschärfung des öffentlichen Diskurses mit Freund-Feind-Begriffen und Kriegs-Metaphorik.
(3) Der historisch heraufziehende Normalismus, so Link (2013c, 204), zeige sich an vielerlei Stellen, unter anderem auch im Bereich der erzählenden Künste. In der Belletristik, etwa in (auto)Biographischen Erzählungen und Lebensreiseberichten von Individuen, die sich mit sich selbst und/oder der technologisierten Massenkultur auseinandersetzen, werden dem lesenden Publikum Geschichten der Normalisierung und Denormalisierung illustriert. Diese „(nicht) normalen Fahrt[en]“ (d.h. Lebensreisen) „beginnen in der Normalität und [‚weichen‘] dann schrittweise oder plötzlich ‚ab‘ (de-viance) in die Anormalität. […] Protagonisten sind Normalmenschen, dominante Probleme sind die normalistischen Komplexe: Sexualität und ihre ‚Abweichungen‘, Kriminalität, Psychopathologie, Sucht, Wahnsinn, Suizid“ (ebd.).
Literatur
Zum Weiterlesen
-
Link, Jürgen (2013): Normalismus. In: Borgards, Roland et al. (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart; Weimar: Verlag J.B. Metzler, S. 202–207.
Zitierte Literatur
- Knobloch, Clemens (2007): Einige Beobachtungen über den Gebrauch des Stigmawortes „Populismus“. In: Habscheid, Stephan; Klemm, Michael (Hrsg.): Sprachhandeln und Medienstrukturen in der politischen Kommunikation. Tübingen: Niemeyer, S. 113–132.
- Knobloch, Clemens (2020): New Normal / Neue Normalität. In: Diskursmonitor. Online-Plattform zur Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation. Online unter: https://diskursmonitor.de/review/corona-ck-2/ ; Zugriff: 28.12.2022.
- Link, Jürgen (2009): Zum Anteil des flexiblen Normalismus an der medialen Konsensproduktion. In: Habscheid, Stephan; Knobloch, Clemens (Hrsg.): Einigkeitsdiskurse. Zur Inszenierung von Konsens in organisationaler und öffentlicher Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden, S. 20–32.
- Link, Jürgen (2013a): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Link, Jürgen (2013b): Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart (mit einem Blick auf Thilo Sarrazin). Göttingen: Konstanz University Press.
- Link, Jürgen (2013c): Normalismus. In: Roland Borgards et al. (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, S. 202–207.
- Link, Jürgen (2018): Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Abbildungsverzeichnis
- Abb. 1: Massenmediale Verbildlichung von ‚normaler‘ und ‚außergewöhnlicher‘ (hohe / jetzt viel höher) Inzidenz bzw. medienöffentlicher Aufmerksamkeit einschließlich Kurvendiagramm, Kollektivsymbol der Welle und Lesbarkeitshinweisen im Begleittext (Nürnberger Nachrichten, 22.06.2022).
- Abb. 2: Protonormalismus als Kurven-Illustration, eigene Darstellung.
- Abb. 3: Flexibler Normalismus als Kurven-Illustration, eigene Darstellung.
Zitiervorschlag
Vogel, Friedemann (2023): Normalismus. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 05.02.2023. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/normalismus.
DiskursGlossar
Grundbegriffe
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Diskurskompetenz
Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.
Agenda Setting
Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.
Medien
Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.
Macht
Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.
Wissen
Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.
Werbung
Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf Einführung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.
Mediale Kontrolle
Medien werden vielfältig zur Durchsetzung von Macht verwendet. So in der Zensur, wenn eine politische Selektion des Sagbaren und des Unsagbaren stattfindet; in der Propaganda, wenn eine Bevölkerung von den Ansichten oder wenigstens der Macht einer bestimmten Gruppe überzeugt werden soll; oder in der Überwachung, die unerwünschtes Verhalten nicht nur beobachten, sondern unwahrscheinlich machen soll.
Freund- und Feind-Begriffe
Freund-, Gegner- und Feindbegriffe sind Teil der Politischen Kommunikation. Sie bilden die Pole eines breiten Spektrums von kommunikativen Zeichen, mit denen politische Akteure sich selbst und ihre politischen Gegner im Kampf um beschränkte Ressourcen auf dem diskursiven Schlachtfeld positionieren.
Sprachpolitik / Sprachenpolitik
Sprachpolitik bezeichnet allgemein alle politischen Prozesse, die auf eine Beeinflussung der Sprachverwendung in einer Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft abzielen. Unterschieden wird häufig zwischen Sprachenpolitik und Sprachpolitik im engeren Sinne.
Techniken
Sündenbock
Der Sündenbock bezeichnet eine Person oder Gruppe, die stellvertretend für etwas beschuldigt wird. Hinter dieser Schuldzuweisung steckt ein kommunikativer Mechanismus des Gruppenzusammenhalts, der sich in verschiedenen kulturellen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten durch Rituale, Mythen, Erzählungen oder Verhalten manifestiert.
Redenschreiben
Wer Reden schreibt, bereitet die schriftliche Fassung von Reden vor, die bei besonderen Anlässen gehalten werden und bei denen es auf einen ausgearbeiteten Vortrag ankommt.
Offener Brief
Bei einem offenen Brief handelt es sich um eine strategische Praktik, die genutzt wird, um Anliegen einer Person oder Gruppe öffentlich sichtbar zu machen. Die Texte, die als offene Briefe bezeichnet werden, richten sich an eine Person oder Institution und werden über Medien veröffentlicht.
Kommunikationsverweigerung
Unter dem Begriff Kommunikationsverweigerung lässt sich ein Bündel von Praktiken und Strategien fassen, die den kommunikativen Austausch zu erschweren oder zu verhindern suchen.
Flugblatt
Unter Flugblättern versteht man einseitige Druckerzeugnisse, die ursprünglich meist illustriert waren. Eng verwandt sind die mehrseitigen Flugschriften. Während Flugschriften und Flugblätter heute kostenlos verteilt werden oder zur Mitnahme ausliegen, wurden sie in der Frühen Neuzeit zunächst als Handelswaren verkauft und gingen so als frühe Massenmedien den Zeitungen voraus.
Passivierung
Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenüber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden müssen, was beispielsweise in Gesetzestexten für eine (gewünschte) größtmögliche Abstraktion sorgt („Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 3 GG).
Aufopferungs-Topos
Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren.
Opfer-Topos
Als Opfer-Topos bezeichnet man eine diskursive Argumentationsstrategie, bei der sich Akteure als ‚Opfer‘ gesellschaftlicher Urteilsbildung inszenieren und damit eigene Interessen – vor allem Aufmerksamkeit und Berücksichtigung von Bedürfnissen – geltend zu machen versuchen.
Analogie-Topos
Der Analogie-Topos zählt zu den allgemeinen bzw. kontextabstrakten Argumentationsmustern, die genutzt werden können, um für oder gegen eine Position zu argumentieren. Analogie-Topoi werden von verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen strategisch eingesetzt, um eine zustimmende Haltung bei den Zielgruppen zu bewirken.
Topos der düsteren Zukunftsprognose
Der Topos der düsteren Zukunftsprognose beschreibt ein Argumentationsmuster, bei dem eine negative, dystopische Zukunft prognostiziert wird. Dabei wird auf die drohenden Folgen einer Krise oder einer allgemeinen Gefahr verwiesen, aus der eine negative Zukunft bei falschem Handeln resultieren wird.
Schlagwörter
Verfassung
Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.
Toxizität / das Toxische
Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.
Zivilgesellschaft
Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.
Demokratie
Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.
Plagiat/Plagiarismus
Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.
Fake News
Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.
Lügenpresse
Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.
Antisemitismus
Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene Phänomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloßen Distanzierung und Behauptung jüdischer Andersartigkeit, über vollständig ausgearbeitete Weltbilder, die Jüdinnen*Juden für sämtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken.
Grammatiknazi / Grammar Nazi
Das überwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi – als Übersetzung von engl. grammar nazi – wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den Äußerungen anderer (häufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen üben.
Respekt
Respekt oder respektvolles Verhalten wird eingefordert für die Eigengruppe (bzw. von der Eigengruppe), für wirklich oder vermeintlich diskriminierte Gruppen, für abweichende Meinungen. Mitgemeint ist bei der Forderung nach Respekt meist eine positiv bewertete Szene der (sozialen, kulturellen, ethnischen, sexuellen etc.) Vielfalt/Diversität.
Verschiebungen
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.
DiskursReview
Review-Artikel
Relativieren – kontextualisieren – differenzieren
Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.
Wehrhafte Demokratie: Vom Wirtschaftskrieg zur Kriegswirtschaft
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Tagung 2025: „Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung und Delegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen
„Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung undDelegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen Tagung der Forschungsgruppe Diskursmonitor Tagung: 04. bis 5. Juni 2025 | Ort: Freie Universität...
„Remigration“ – Ein Riss im Schleier der Vagheit. Diskursive Strategien rund um das Remigrationskonzept und die Correctiv-Recherchen
Die am 10. Januar veröffentlichte Correctiv-Recherche über ein rechtes Vernetzungstreffen in Potsdam sorgte für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und die größten Demonstrationen gegen Rechtsaußen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Im Fokus der Kritik…
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Mit Beginn des Wintersemesters laden die Forschungsgruppen CoSoDi und Diskursmonitor sowie die Akademie diskursiv ein zur Vortragsreihe Neue Beiträge Zur Diskursforschung. Als interdisziplinäres Forschungsfeld bietet die Diskursforschung eine Vielzahl an...
Tagung: Zur Politisierung des Alltags – Strategische Kommunikation in öffentlichen Diskursen (01.–03.02.2023)
Die (krisenbedingt verschärfte) Politisierung der Alltagsdiskurse stehen im Zentrum der hier geplanten Tagung. Antworten auf folgende Leitfragen sollen dabei diskutiert werden: Was sind die sozialen, medial-räumlichen und sprachlichen Konstitutionsbedingungen…
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Welchen Beitrag kann (bzw. muss) die Diskursforschung zur Kultivierung öffentlicher Diskurse leisten? Was kann ein transparenter, normativer Maßstab zur Bewertung sozialer und gesellschaftlicher Diskursverhältnisse sein?
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Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft!
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[1] Was haben die Ausdrücke »Eskalationsphobie«, »Friedensmeute« und »Lumpenpazifismus« gemeinsam? Nun, zuerst einmal den Umstand, dass alle drei verdienstvolle Neuprägungen unserer medio-politischen Klasse sind…