DiskursGlossar

Identität

Kategorie: Schlagwörter
Verwandte Ausdrücke: Selbstbild, Fremdbild, Subjekt, Persönlichkeit, Individuum, Identifizierung
Siehe auch: Identitätspolitik
Autor*innen: Aleksandra Salamurović, Jonas Vollert
Version: 1.0 / Datum: 01.08.2025

Kurzzusammenfassung

Unter Identität versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden. Solche Zuschreibungen beruhen auf einer realen oder vorgestellten Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem. Sie erfolgen häufig auf Basis von Eigenschaften, die als besonders relevant für persönliches und soziales Handeln oder für die Positionierung im sozialen Raum gelten. Identitätszuschreibungen wirken auf unterschiedlichen Ebenen – von der individuellen Selbstverortung über Prozesse sozialer Gruppierung bis hin zu politischen Auseinandersetzungen wie etwa in Form von Identitätspolitik.

In der strategischen Kommunikation wird das Konzept der Identität benutzt, um Eigenschaften oder Aktivitäten eines Individuums sozial zu kategorisieren und damit ‚sinnvoll‘ zu machen (z. B. die Benennung einer Protestgruppe als Aktivisten oder Terroristen). Jede persönliche Identität – sei es geschlechterbezogen oder anderweitig definiert – entsteht erst in Interaktion mit der Umwelt, in welcher das Individuum agiert. Daneben wird der Ausdruck als Schlagwort dafür verwendet, um Gemeinsamkeiten zwischen Mitgliedern einer bestimmten Gruppe (religiöse, ethnische, nationale) oder Kategorie, oft in pauschalisierender Weise, hervorzuheben. Diese Gemeinsamkeiten können auf subjektiv wahrgenommener Übereinstimmung von Werten oder Überzeugungen beruhen, aber auch durch konkrete gemeinsame Übereinstimmungen, wie etwa den gleichen Beruf oder das gleiche Geschlecht, geäußert werden. Sie können strategisch eingesetzt werden, um sich von anderen abzugrenzen, Gruppeninteressen zu vermitteln, daraus Handlungsaufforderungen abzuleiten und sie zu rechtfertigen. Identität dient nicht nur der Abgrenzung und Rechtfertigung von Gruppeninteressen. Sie ermöglicht darüber hinaus kollektive Selbstverständnisse, aus denen sich politisches Handeln ableiten kann. Bei den kollektiven Identitätsformen sind die Übergänge zu Identitätspolitik fließend, da das Schlagwort Identität oft bedeutungsähnlich für Identitätspolitik verwendet wird.

Erweiterte Begriffsklärung

Der Begriff Identität wurde im 17. Jhd. als lateinisches Lehnwort ins Deutsche übernommen (vgl. Felgner 2020). Abgeleitet vom Lateinischen idem lässt sich Identität zunächst mit ‚Selbigkeit‘ übersetzen, wie der Eintrag im Grimmschen Wörterbuch aus dem Jahr 1854 lautete (vgl. Zirfas 2010: 11). In dieser Bedeutung stechen Unveränderlichkeit und Wiedererkennung als zentrale Elemente von Identität hervor (vgl. Zirfas 2010: 11). Sie spiegeln sich v. a. im juristischen Bereich wider, wenn „Echtheit einer Person oder Sache fest[zu]stellen“ ist (Duden Online). Gleichzeitig spielen diese Elemente für Praktiken der Identifizierung und Zugangskontrolle eine wesentliche Rolle. Die Festlegung oder Absprache von Merkmalen, die für eine Person oder Entität gelten und die diese dann als (Nicht-)Teil der Gruppe bestimmen, setzt voraus, dass diese Merkmale zuvor als wiedererkennbar, relevant und/oder kollektiv geltend definiert werden. Das bedeutet wiederum, dass Identität in der Praktik der Identifizierung als sozial, medial und situativ konstruierbar ist (vgl. Vogel 2022). Da soziale Positionierung und Zugehörigkeit verhandelbar sind, wird Identität in sozialer Praxis handlungsrelevant, was zu einem strategischen Einsatz in der öffentlichen Kommunikation führt.

In seiner ursprünglichen, mathematisch-logischen Verwendung verweist Identität auf ein duales Verhältnis zwischen Objekten, die sich entweder durch Einzigartigkeit oder Gleichheit auszeichnen (vgl. Malešević 2006: 15). Bereits in der Logik werden Transitivität und Reflexivität als prägende Merkmale des Konzeptes ‚Identität‘ genannt. Das bedeutet, dass sich Identität nur in Bezug auf etwas/jemanden feststellen lässt. Die beschriebene theoretisch-konzeptuelle Erläuterung spiegelt sich im Verb sich identifizieren mit wider (vgl. Knobloch 2023).

Das Konzept von Identität (in der Form, in der der Begriff heute verwendet wird) ist historisch noch sehr jung und überwiegend geprägt durch westliche akademische Tradition, allen voran Psychologie und Soziologie, die sich mit dem Individuum und seinen Rollen in sozialen Systemen befasste (vgl. Malešević 2006: 22). Der Begriff wurde lange deskriptiv gebraucht, um historisch relativ stabile, sozial stärker institutionalisierte Gruppenzugehörigkeiten zu beschreiben. Das Subjekt wurde über seine Funktion oder Rolle im sozialen Gefüge definiert: Milieu, Klasse, Lebenslauf. Im Zuge der kulturellen Pluralisierung in den 1970 Jahren kommt es zum Funktionswandel des Identitätsbegriffs: von einem deskriptiven Ordnungsbegriff wird Identität zu einem strategischen Individualisierungs- und Machtmarker. Es geht nicht mehr darum, in bestehende Anerkennungsordnungen aufgenommen zu werden, sondern um die Erweiterung oder Unterbrechung dieser Ordnungen. Soziale Pluralisierung und Fragmentierung führen schließlich dazu, dass Identität aktuell als mehrdimensional (biografisch, sozial, kulturell), diskursiv vermittelt, prozesshaft und veränderlich wahrgenommen wird und ständig neu ausgehandelt werden muss.

Identität fungiert sowohl als analytische Kategorie (z. B. in der Gender-, Migrations- und Nationalismusforschung) als auch als Kategorie der Praxis (politische Kommunikation) (vgl. Brubaker/Cooper 2000: 4). In den Geistes- und Sozialwissenschaften wurde der Begriff stark kritisiert und sogar für unbrauchbar erklärt (vgl. Brubaker/Cooper 2000). Besonders kritisiert wurde die Annahme, dass der Begriff Identität semantisch einfache binäre Unterscheidung beinhaltet und Zugehörigkeit, Gleichheit oder zumindest Ähnlichkeit mit einer Gruppe, gleichzeitig aber die Abgrenzung von einer anderen Gruppe impliziert. Dieses starre Schema lässt sich jedoch nur schwer auf die hochdynamischen, wechselhaften und flüchtigen Prozesse im sozialen Leben übertragen (vgl. Malešević 2006: 15 f.). Ungeachtet dieser Kritik wird sie als Kategorie der Praxis oft unreflektiert in die politische Kampfarena übernommen.

So wird Identität zum Topos in den Debatten um z. B. Migration und Integration, Sprachpurismus, Sicherheits- und Außenpolitik, oder zur Grundlage der jeweiligen moralisierenden politischen Position. Angela Merkel etwa legitimierte 2015 ihren berühmten Satz Wir schaffen das mit den Worten: Ich kann das sagen, weil es zur Identität unseres Landes gehört, Größtes zu leisten. (SZ online vom 14.12.2015). Im Interview für die Tagesschau am 14. Juni 2023 sagte Kanzler Olaf Scholz, dass die Verankerung in der Europäischen Union und im transatlantischen Bündnis zentral für die sicherheitspolitische Identität Deutschlands bleibe.

Mit Identität versucht man, andere Schlagwörter wie etwa Ideologie, Gender, Race, Solidarität zu erklären oder gar zu ersetzen. Gleichzeitig subsumiert man darunter viele Formen der sozialen Kategorisierungen und Verortungen, um Widersprüche und Umbrüche zu rationalisieren bzw. diese zu umgehen. Wie der Soziologe Malešević pointiert formulierte: in der Postmoderne wird fast jedes soziale Problem als ein Identitätsproblem benannt und erklärt (vgl. Malešević 2006: 34).

Mittels einer Wortumfeldanalyse (sog. Kookurrenzanalyse) im Deutschen Referenzkorpus lässt sich ermitteln, dass das Wort Identität vor allem in Verbindung mit den Attributen national, eigen, und kulturell vorkommt. Tatsächlich handelt es sich um die häufigsten Identitätsformen, die in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen. Die persönliche/individuelle Identität als zentraler Bestandteil einer Persönlichkeit/eines Subjektes umfasst nicht nur charakteristische physische und psychische Merkmale einer Person, die sie von anderen unterscheidet, sondern auch distinkte Erfahrungen, Werte, Zugehörigkeiten, die in der sozialen Interaktion (Erziehung, Bildung) zustande kommen. Insofern kann man individuelle Identität nicht von den kollektiven Formen scharf trennen. Kulturelle und nationale Identität werden teilweise synonym benutzt, da beide voraussetzen, dass bestimmte kollektive Attribute wie etwa Herkunft, Sprache, Religion, Geschichte in einer größeren Gemeinschaft geteilt werden. Historisch betrachtet hatten beide kollektive Identitätsformen ihre prägende Rolle bei der Auflösung der Imperien bzw. kolonialer Herrschaft und bei der Herausbildung der Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert.

Das kollektive Verständnis von Identität wird sich zudem mitunter zu eigen gemacht, um vermeintliche kulturelle Gemeinsamkeiten oder mythologisch konstruierte kollektive Narrative zu schaffen, um etwa Handlungen, Abgrenzungen und Gewalt zu rechtfertigen. Gleichermaßen findet es Verwendung darin, negative Aspekte wie gemeinsam erlebte Unterdrückung oder die Folgen eines Minderheitenstatus in Abhängigkeit von vorherrschenden Gruppen aufzuzeigen (vgl. Kopp/Steinbach 2016). Diese Verwendung findet sich vor allem wieder in Verbindung mit Race, Gender, Nationalismus (vgl. Brubaker/Cooper 2000).

Beispiele

(1) Persönlichkeitsbezogene Identitäten

Auszug aus dem Gesetzesentwurf zur Einfügung des Merkmals sexuelle Identität

Der Artikel fügt das Merkmal der sexuellen Identität in Artikel 3 Absatz 3 GG ein. Unter dem Merkmal der sexuellen Identität wird ein andauerndes Muster emotionaler, romantischer oder sexueller Anziehung zu Menschen eines bestimmten oder verschiedener Geschlechter verstanden. Die geschlechtliche Identität hingegen ist bereits vom Merkmal Geschlecht umfasst und wird deshalb nicht aufgenommen (https://dserver.bundestag.de/btd/19/131/1913123.pdf)

Der Gesetzentwurf der Fraktionen FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus dem Jahr 2019 verfolgte das Ziel, eine wirkmächtige Diskriminierungspraxis zu beenden, indem er die Rechte von lesbischen, schwulen und bisexuell orientierten Personen durch ihre explizite Aufnahme in das Grundgesetz – und damit auf höchster rechtlicher Ebene – stärken und schützen wollte. Dazu führten die Fraktionsvertreter:innen eine weitere Unterscheidung in der Kategorie der geschlechtlichen Identität ein, und zwar sexuelle Identität, die nicht lediglich auf Gender, sondern auf Sexualität und romantischem Begehren als zentralen Merkmalen beruht. Identität steht hier für die Gesamtheit aller individuellen und sexuellen Prozesse und Dynamiken, die die sexuelle Identität bilden. Dabei ist auffällig, dass Identität als andauerndes Muster erklärt wird, also einen relativ unveränderlichen Aspekt des Charakters bildet. Die aufgrund von diesem Gesetzentwurf beantragte Änderung wurde nicht ins Grundgesetz übernommen. Im Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (Selbstbestimmungsgesetz, in Kraft ab 1.11.2024) wird der Umgang mit der Geschlechtsidentität geregelt. Sowohl die Geschlechtsidentität wie auch der Vorname, der als stabiles Merkmal dieser Identitätszuschreibung festgelegt wird, können selbstbestimmt, d. h. auf der Basis der Selbstwahrnehmung, rechtlich geändert werden. (https://www.gesetze-im-internet.de/sbgg/__1.html)

(2) Nationale Identität

(a) Auf der Seite des Online Portals abgeordnetenwatch.de (https://www.abgeordnetenwatch.de/profile/hanna-steinmueller/fragen-antworten/warum-hat-deutschland-keine-identitaet) wurde im August 2021 folgende Frage an die Abgeordnete Hanna Steinmüller des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gestellt: Warum hat Deutschland keine Identität? Steinmüllers Antwort:

Lieber Herr Haller, da sind wir vielleicht unterschiedlicher Auffassung. Ich finde, dass Deutschland sehr wohl eine Identität, also eine gewisse „Wesenseinheit“, hat. Diese setzt sich aus all den unterschiedlichen Normen und Wertvorstellungen zusammen, welche die Menschen, die in Deutschland leben, haben und einbringen. Dadurch entsteht eine gemeinsame, vielfältige Identität, die sich ständig weiterentwickelt und so auch Raum für neues lässt. Diese offene Gesellschaft ist es, was Deutschland ausmacht und worauf wir stolz sein können! Herzliche Grüße, Hanna Steinmüller

Im Deutschland der Nachkriegszeit und als Folge des Nationalsozialismus wurde die Frage nach einer nationalen Identität zunächst gemieden und im Laufe der Zeit die Idee einer europäischen Identität favorisiert. Seit 2000 (mit der Prägung und Instrumentalisierung des Begriffs Leitkultur), aber vor allem mit der großen Flucht- und Migrationsbewegung 2015, der Stärkung des rechten und rechtsradikalen politischen Spektrums, den Diskussionen um Integration und Staatsbürgerschaft, letztendlich auch mit der Covid19-Pandemie mit Grenzschließungen und besonderen nationalen Reiseregimes wird nationale Identität im innerdeutschen Kontext prominent. Dabei fallen zwei Varianten auf: in der einen Variante ist die kollektive Identitätsform allumfassend wie hier im Beispiel (in Anlehnung an eine soziologisch-analytische Bestimmung der Veränderbarkeit und Prozesshaftigkeit) gemeint. In der zweiten Variante wird kollektive Identität ex-negativo geprägt, also im Hinblick darauf, was nicht zu ihr gehört (wie z. B. in der Aussage von Markus Söder in einem Interview im Spiegel aus 2018, der Islam sei nicht identitätsstiftend und kulturprägend für Deutschland, https://www.spiegel.de/spiegel/markus-soeder-der-islam-ist-nicht-kulturpraegend-fuer-unser-land-a-1202857.html).

(b) Die Debatten um nationale, mitunter oft synonym benutzte ethnische Identität sind in Ost- und Südosteuropa nach wie vor harte politische Realität. In der strategischen Kommunikation dient das Schlagwort zur Legitimierung von Ausgrenzungen und befeuert damit verbundene Konflikte. So hat der russische Präsident Putin in seiner dem Krieg vorausgehenden Rede vom 21.02.2022 unter anderem gesagt:

Ich betone nochmals: Die Ukraine ist für uns nicht einfach ein Nachbarland. Sie ist integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur, unseres geistigen Raums. […] Menschen, die sich als Russen identifizieren und ihre Identität, Sprache und Kultur bewahren wollen, erhalten das Signal, dass sie in der Ukraine nicht erwünscht sind. (http://www.kremlin.ru/events/president/transcripts/speeches/67828).

In seiner Rede entwirft Putin ein Verständnis von Identität als etwas, was angeboren, vorgegeben und vor allem unveränderbar ist. In seiner Argumentations- und Legitimierungskette diene der Angriff auf die Ukraine dazu, diese ‚russische Identität‘um jeden Preis zu verteidigen und aufrechtzuerhalten.

 

Literatur

Zum Weiterlesen

  • Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten. In: Kreckel, Reinhard (1983): Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Schwartz Verlag, S. 35–74.

  • Niethammer, Lutz (2000): Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek: Rowohlt.

Zitierte Literatur

  • Brubaker, Rogers; Cooper, Frederick (2000): Beyond Identity. In: Theory and Society, Jg. 29, Heft 1, S. 1–47.

  • Felgner, Ulrich (2020): Die Begriffe der Äquivalenz, der Gleichheit und der Identität. In: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 122, Nummer 2, S. 109–129.

  • Kopp, Johannes; Steinbach, Anja (Hrsg.) (2016): Grundbegriffe der Soziologie. 11. Auflage, Wiesbaden: Springer VS. 
  • Malešević, Siniša (2006): Identity as Ideology. Understanding Ethnicity and Nationalism. Hampshire; New York: Palgrave Macmillan.

  • Knobloch, Clemens (2023): Identität und Identitätspolitik: zur Anatomie eines modernen Zauberwortes. In: kultuRRevolution, Jg. 84, S. 48–53.

  • Vogel, Friedemann (2022): Identifizierung und Authentifizierung in digitalen Diskursen. In: Gredel, Eva (Hrsg.): Diskurse-digital. Theorien, Methoden, Anwendungen, Berlin: De Gruyter, S. 191–212.

  • Zirfas, Jörg (2010): Identität in der Moderne. In: Jörissen, Benjamin; Zirfas, Jörg (Hrsg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 9–17.

Zitiervorschlag

Salamurović, Aleksandra; Vollert, Jonas (2025): Identität. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 01.08.2025. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/identitaet.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Sinnformel

‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und ähnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.

Praktik

Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes Bündel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrücken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).

Kontextualisieren

Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.

Narrativ

Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.

Argumentation

Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Agenda Setting

Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Techniken

Inszenierte Kontroverse

Inszenierte Kontroversen liegen vor, wenn Politiker, Vertreter von Interessengruppen, Aktivisten, Journalisten, Influencer oder andere öffentlich wirksame Akteure potentiell strittige Themen möglichst effektvoll in einen Diskurs einbringen oder einen entsprechenden Diskurs auslösen, und zwar um entsprechende Perspektivierungen bestimmter Konfliktlagen im eigenen Interesse konfrontativ zu prägen.

-ismus

Bei Ismen geht es ursprünglich um die Wortendung (sog. Suffix) -ismus (Plural -ismen), mit der Substantive mit substantivischem oder adjektivischem Wortstamm (Basis) gebildet werden (z.B. Vulkan-ismus oder Aktiv-ismus).

Persuasion

Persuasion kommt vom lateinischen Verb persuadere und bedeutet ‚überzeugen, überreden‘ (gebildet aus suadere ‚raten, empfehlen‘ und per ‚durch, über‘).‘). Der Begriff stammt aus der Rhetorik, in der es vor allem darum geht, wie man Hörer:innen oder Leser:innen auf seine Seite bringt: wie man sie zum Beispiel in einem Gerichtsprozess von der Schuld oder Unschuld eines/einer Angeklagten überzeugt, wie man sie politisch zur Parteinahme überredet oder wie man sie ganz allgemein für sich selbst oder einen bestimmten Gegenstand/Sachverhalt einnimmt.

Ironie

Ironie (altgriechisch εἰρωνεία (eirōneía), wörtlich ‚Verstellung‘, ‚Vortäuschung‘) ist in unserer unmittelbaren und massenmedialen Kommunikationskultur sehr bedeutsam. Sie arbeitet mit einem Bewertungsgegensatz zwischen Gesagtem und Gemeintem.

Wiederholen

Das Wiederholen von Äußerungen in öffentlichen (politischen) Diskursen zielt darauf, das Denken anderer zu beeinflussen, Wissen zu popularisieren, einseitige (z. B. fanatisierende, beschwörende, hysterische, ablenkende, pseudosachliche) Konstruktionen von Wahrheit zu erzeugen, um die soziale Wirklichkeit als intersubjektiven Konsens im einseitigen Interesse des „Senders“ zu verändern. Grundvoraussetzung ist die Annahme, dass das kollektive Denken stets mächtiger als das individuelle Denken ist.

Diskreditieren

Das Diskreditieren ist eine Praktik, mit der Diskursakteure durch verschiedenste Strategien, die von Verunglimpfungen und Verleumdungen bis hin zu rufschädigenden Äußerungen reichen, abgewertet und herabgesetzt werden.

Nähe inszenieren

Die Inszenierung von Nähe beschreibt eine Kommunikations>>praktik, bei der Akteur:innen Techniken einsetzen, um Vertrautheit, Sympathie und Authentizität zu vermitteln (z.B. das Angebot einer:s Vorgesetzten, zu duzen).

Diplomatie

Diplomatie bezeichnet im engeren Sinne eine Form der Kommunikation zwischen offiziellen Vertretern von Staaten, die die Aufgabe haben, zwischenstaatliche Beziehungen durch und für Verhandlungen aufrecht zu erhalten. Diese Vertreter können Politiker oder Beamte, insbesondere des diplomatischen Dienstes, sowie Vertreter internationaler Organisationen sein.

Typografie

Typografie bezeichnet im modernen Gebrauch generell die Gestaltung und visuelle Darstellung von Schrift, Text und (in einem erweiterten Sinne) auch die Dokument-Gesamtgestaltung (inklusive visueller Formen wie Abbildungen, Tabellen, Taxono-mien usw.) im Bereich maschinell hergestellter Texte (sowohl im Druck als auch auf dem Bildschirm)

Fact Checking

Fact Checking ist eine kommunikationsstrategische Interventionstechnik, bei der eine Diskursaussage auf Bild oder Textbasis unter dem Gesichtspunkt der Faktizität bewertet wird. Sie ist überwiegend in journalistische Formate eingebettet, die als Faktencheck bezeichnet werden.

Schlagwörter

Woke

Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunächst den Bewusstseinszustand der Aufgeklärtheit über die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.

Wohlstand

Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.

Remigration

Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.

Radikalisierung

Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.

Bürokratie

Bürokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender Ausdrücke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen Bürokratisierung, Bürokratismus und Komposita, als wichtigstes Bürokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.

Politisch korrekt / Politische Korrektheit

Der Ausdruck politisch korrekt / Politische Korrektheit und die amerikanischen Vorbilder politically correct /P.C. / Political Correctness (Gegenteile, etwa politisch unkorrekt etc., sind mitzudenken) repräsentieren ein seit den frühen Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts populäres Deutungsmuster, mit dem weltanschauliche, ästhetische und politische Konflikte berichtet/bewertet werden, meist zuungunsten der als politisch korrekt bezeichneten Positionen, denen man eine überzogene, sowohl lächerliche als auch gefährliche Moralisierung unterstellt.

Kipppunkt

Als öffentliches Schlagwort ist Kipppunkt Teil eines Argumentationsmusters: es behauptet ein ‚Herannahen und baldiges Überschreiten einer unumkehrbaren Sachverhaltsänderung, die fatale bzw. dystopische Folgeschäden auslöst, wenn nicht umgehend bestimmte Maßnahmen eingeleitet oder unterlassen werden.‘

Verfassung

Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.

Toxizität / das Toxische

Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.

Zivilgesellschaft

Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.

Verschiebungen

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Partizipatorischer Diskurs

Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im Europäischen Parlament

Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ für die Erweiterung der militärischen Ausstattung und der Verlängerung des Krieges aussprachen. Vorschläge oder Vorstöße auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)

Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit

DiskursReview Die Macht der Worte (4/4):So geht kultivierter Streit Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...

Die Macht der Worte 3/4: Sprachliche Denkschablonen

DiskursReview Die Macht der Worte (3/4):Sprachliche Denkschablonen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...

Die Macht der Worte 2/4: Freund-Feind-Begriffe

DiskursReview Die Macht der Worte (2/4): Freund-Feind-Begriffe Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...

Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen

DiskursReviewDie Macht der Worte (1/4): Wörter als Waffen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 / 06.03.2025...

Relativieren – kontextualisieren – differenzieren

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.