DiskursGlossar

Cancel Culture

Kategorie: Schlagwörter
Verwandte AusdrĂŒcke: Ausgrenzen, Diskursverweigerung, canceln
Siehe auch: IdentitÀtspolitik, Moralisierung, Politische Korrektheit, Sagbarkeit
Autoren: Clemens Knobloch, Fabian Deus
Version: 1.3 / Datum: 06.05.2021

Kurzzusammenfassung

Cancel Culture ist ein Kampf- und Stigmawort, das sich in skandalisierender Absicht gegen die Praxis (und oft auch bereits gegen die Forderung) des Absagens, Ausladens, Boykottierens moralisch missliebiger und politisch bekÀmpfter Personen, Organisationen und Positionen in Wissenschaft, Kultur und Politik wendet. Der Ausdruck beschreibt und behauptet eine (weitverbreitete) Neigung, die argumentative und kritische Auseinandersetzung mit abgelehnten Positionen und ihren Vertretern zu verweigern, und stattdessen missliebige Standpunkte, Veranstaltungen und Personen aus dem Diskurs zu drÀngen. Dieser Sicht zufolge treten an die Stelle der inhaltlich-argumentativen Auseinandersetzung die Zurschaustellung von Emotionen und Empfindungen (z.B. Diskriminierungserfahrungen oder die Erwartung derselben) oder identitÀtspolitische Merkmale (Ethnie, Geschlecht, Alter etc.) beteiligter Personen.

Der Vorwurf der Cancel Culture ist politisch kaum festzulegen. Er Àhnelt in vielen Aspekten der Kritik an der Politischen Korrektheit und scheint momentan hÀufig an dessen Stelle zu treten.

Erweiterte BegriffsklÀrung

Das Schlagwort Cancel Culture taucht praktisch ausschließlich als Anglizismus im deutschsprachigen Sprachgebrauch auf. Absage– oder Löschkultur (die ÜbersetzungsvorschlĂ€ge der Wikipedia) tragen andere Konnotationen und sind daher zur Wiedergabe nicht geeignet.

Der Vorwurf der Cancel Culture taucht gegenwĂ€rtig hĂ€ufig in Kontexten auf, in denen man zuvor das Vorkommen des Stigmawortes Politische Korrektheit erwartet hĂ€tte, und beide AusdrĂŒcke dienen der Bearbeitung Ă€hnlicher Konflikte. WĂ€hrend Politische Korrektheit jedoch zumindest fĂŒr Teile des Publikums ihre negativen Assoziationen abgestreift hat, und sich verschiedene Akteure (von der Bundeszentrale fĂŒr politische Bildung bis zum Duden-Verlag) positiv auf sie beziehen und sich offen zu ihr bekennen, ist ein solcher affirmativer (zustimmender) Gebrauch des Ausdrucks Cancel Culture bislang kaum zu beobachten. Die HĂ€ufigkeit, mit der der Ausdruck und mit ihm verbundene Wahrnehmungen von Ereignissen zu beobachten sind, sowie die Heftigkeit der (zustimmenden wie ablehnenden) Reaktionen, die sein Gebrauch oft provoziert, indizieren eine lagerĂŒbergreifende weitverbreitete Wahrnehmung grundsĂ€tzlicher VerĂ€nderungen des allgemeinen Debattenklimas.

Der Ausdruck taucht hauptsĂ€chlich in zwei gegenlĂ€ufigen Narrationen auf: FĂŒr Kritiker einer Cancel Culture bezeichnet der Begriff in anklagender oder skandalisierender Absicht eine Kultur der Diskreditierung und Ausschließung von Personen oder Gruppen, deren Argumente oder Positionen damit als nicht diskursfĂ€hig markiert und aus dem Feld des Sagbaren ausgeschlossen werden. Als BegrĂŒndung fĂŒr den Ausschluss werde entweder die Gruppenzugehörigkeit der Sprechenden angefĂŒhrt (und bewertet) oder aber der Verdacht, ihre Themen und Äußerungen könnten verletzend, traumatisierend, beleidigend auf anerkannte Opfergruppen wirken. Hierbei genĂŒge hĂ€ufig allein die Äußerung einer subjektiv wahrgenommen Diskriminierung (auch in Stellvertretung), und die Forderung nach sachlicher ErhĂ€rtung der VorwĂŒrfe kann bereits als ĂŒbergriffig gewertet werden. Hinzu komme oft der Anspruch, ĂŒber die Angelegenheiten anerkannter Opfergruppen dĂŒrften nur deren Angehörige legitim sprechen (und schon gar nicht Angehörige von Gruppen, die aus identitĂ€tspolitischer Perspektive als ‚TĂ€tergruppen‘ gelten). Somit beschreibt der Ausdruck Cancel Culture aus dieser Sicht ein repressives Diskursklima, in dem eine tonangebende Elite an UniversitĂ€ten oder im Medien- und Kulturbetrieb abweichende Meinungen und Sichtweisen radikal unterdrĂŒckt und ausschließt, was dazu fĂŒhre, dass viele Akteure sich aus Angst vor Ausgrenzungen nicht mehr trauen, frei zu sprechen. Teilweise wird in diesen Kontexten Cancel Culture auch als identitĂ€tspolitische Praxisform beschrieben, die in neoliberalen Gesellschaften Vorteile bei der Durchsetzung individueller Interessen verspreche. Derartige Cancel CultureKritik wird typischerweise von klassischen linken oder liberalen Positionen aus formuliert.

Andererseits wird die Existenz einer Cancel Culture von einigen politischen oder journalistischen Autoren grundsĂ€tzlich bestritten. Die Skandalisierung einer vermeintlichen Cancel Culture diene den etablierten Vertretern ĂŒberkommender Machtstrukturen dazu, berechtigte Kritik marginalisierter Gruppen abzuwehren. In diesem Sinne könne der Gebrauch des Ausdrucks Cancel Culture (Ă€hnlich wie Politische Korrektheit) fĂŒr aufmerksamkeitspolitische Schattendebatten taugen: Akteure erweckten so den Eindruck, es drohe ihr Ausschluss aus dem Diskurs, wenn es (möglicherweise berechtigte) Kritik an ihren Taten oder Äußerungen gibt. Das sichere Resonanz und schĂŒtze gegen weitere Angriffe.

Im Effekt etabliert sich ein Spielfeld öffentlicher und politischer Kommunikation, auf dem konkurrierende Opfer-Gemeinschaften (und vor allem: ihre FĂŒrsprecher) einander symbolisch mit Empörung ĂŒberziehen. Denn auch Anti-Cancel-Culture-Communities wie das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit oder der Appell fĂŒr freie DebattenrĂ€ume inszenieren sich Ă€hnlich wie ihre Gegner als Opfergruppen (bzw. als Vertretung von ‚Cancelopfern‘).

Vor diesem Hintergrund ist die Kritik an der Cancel Culture im politischen links-rechts Kontinuum kaum zu lokalisieren und entzieht sich einfachen Festlegungen: Einerseits wird der Ausdruck gegenwĂ€rtig hĂ€ufig von rechts-konservativen Positionen aus eingesetzt. Das Stigmawort ist hierbei immer da prĂ€sent, wo es politisch gegen progressiv-neoliberale Moralisierungen und Empfindlichkeiten geht, die als ‚links‘ kodiert werden können. Andererseits waren und sind es aber gerade traditionelle sozialpolitisch linke Positionen, von denen die Cancel-Culture-Kritik ausging (Bernd Stegemann, Robert Pfaller, Noam Chomsky, Sahra Wagenknecht, um nur einige zu nennen) [1]. Der Versuch, die Kritik an Cancel Culture pauschal als ‚rechts‘ zu diffamieren, erscheint daher hĂ€ufig als naheliegende Verteidigungsstrategie der (auch von links) Herausgeforderten. Die innerlinke Kontroverse wurde indes alsbald von rechten Diskursstrategen als Chance zur aktiven Spaltung des linken Lagers entdeckt und (nicht ohne Erfolg) eingesetzt.

Ähnliche Konfliktlinien lassen sich auch innerhalb anderer politischer Lager ausmachen (siehe unten). Relevanter fĂŒr Zuordnungen in diesem Konfliktfeld scheinen andere Aspekte zu sein: Die Cancel-Culture-Kritiker sind hĂ€ufig Ă€ltere (und etablierte) Vertreter gesellschaftlicher Institutionen, die sich mit dem Ausdruck gegen neue und als bedrohlich wahrgenommene Politikstile jĂŒngerer Generationen auch in den eigenen Reihen zur Wehr setzten; Cancel Culture wird eher in urbanen RĂ€umen praktiziert und in der Peripherie abgelehnt, sie wird in akademischen Milieus geleugnet und bildungsbĂŒrgerlich kritisiert. Ihre Kritiker beziehen sich auf die Meinungsfreiheit und die demokratische Öffentlichkeit als Ort der Vermittlung kollektiver Interessen, wĂ€hrend sich die Gegenseite mehr fĂŒr individuelle Persönlichkeitsmerkmale und damit verknĂŒpfte Privilegien und Diskriminierungserfahrungen interessiert.

Beispiele und Anwendungskontexte

EinschlĂ€gige Kontroversen werden performativ (in der praktischen Anwendung) vornehmlich in den sozialen Medien ausgetragen, aber von reflexiven Bearbeitungen in den Feuilletons der großen Zeitungen thematisiert. HĂ€ufig genannte Beispielereignisse fĂŒr Cancel Culture sind:

  • die Störung und Verhinderung der Vorlesung des AfD-MitgrĂŒnders Bernd Lucke an der Uni Hamburg;
  • der Wirbel um die Einladung von Thilo Sarrazin und Marc Jongen in ein Philosophieseminar zum Thema Meinungsfreiheit an der Uni Siegen (hierzu AG Siegen Denken 2019);
  • die Streichung des Kabarettisten Dieter Nuhr aus dem Internetauftritt der DFG, nachdem dieser sich ĂŒber die Parole „Folgt der Wissenschaft!“ lustig gemacht hatte;
  • die Ausladung (und Wiedereinladung) der Kabarettistin Lisa Eckhart vom Hamburger Harbour Front Literaturfestival wegen angeblich rassistischer und antisemitischer Äußerungen.

Das sind höchst vielfĂ€ltige Ereignistypen, und in der KabarettsphĂ€re ist der Skandal aufmerksamkeitspolitisch oft durchaus willkommen. Hier gilt: Wer es schafft, ausgeladen zu werden, hat als Satiriker oft eine Menge gewonnen. Ein wenig anders liegen die Dinge in der gegenwĂ€rtig hochsensiblen SchnittflĂ€che zwischen Wissenschaft und Politik, in der Politiker ihre ausnahmestaatlichen Entscheidungsbefugnisse mit wissenschaftlichen AutoritĂ€ten legitimieren, wĂ€hrend zugleich politische Akteure mit wissenschaftlichen AnsprĂŒchen auftreten. Im Umfeld des Kabaretts erinnern viele Cancel-Culture-Konstellationen an die Korrektheitsstreitereien der 1990er Jahre (vgl. Erdl 2004). Mit dem HerĂŒberschwappen ‚korrekter‘ SprachsensibilitĂ€ten aus den USA galten plötzlich die Äußerungen mancher Kabarettisten fĂŒr ‚menschenverachtend‘, wenn sie sich ĂŒber Minderheiten lustig machten.

Ein typisches Beispiel fĂŒr die erwĂ€hnten Turbulenzen innerhalb bestehender politischer Communities lieferte die Social-Media-PrĂ€senz der FDP-nahen Friederich-Naumann-Stiftung im Dezember 2020: Die in ihrer Selbstbeschreibung liberalen Werten wie der Meinungsfreiheit verpflichtete Stiftung sah sich auf Twitter mit dem Vorwurf konfrontiert, Personen eine BĂŒhne zu bieten, die dem hegemonialen Pandemiediskurs in inakzeptabler Weise (‚quer‘, ‚rechts abgebogen‘) widersprechen. Konkret hatte ein libertĂ€rer Blogger und Youtuber bei einer Veranstaltung als Moderator fungiert, bei der ironischerweise ĂŒber „Intoleranz, offene Debattenkultur und Cancel Culture“ [2] gestritten wurde. Die Stiftung reagierte auf die Anschuldigungen zunĂ€chst mit der AnkĂŒndigung, man „nehme die Sache ernst und prĂŒfe“ den Vorgang. SpĂ€ter wurde als Ergebnis dieser PrĂŒfung verkĂŒndet, der inkriminierte Blogger arbeite „mit rechtspopulistischem und verschwörungstheoretischem Gedankengut“, man habe selber im Vorfeld nicht ausreichend „geprĂŒft“ und werde „Vorsorge treffen, dass so etwas nicht mehr passieren kann“. Abgesehen von der bemerkenswerten Wortwahl, zu der sich die „Stiftung fĂŒr die Freiheit“ hier verleiten ließ, zeigen sich hier typische Diskursmerkmale, die mit der Rede von der Cancel Culture in Verbindung stehen: ZunĂ€chst fĂ€llt direkt auf, dass (jedenfalls zunĂ€chst) von Seiten der ausgrenzenden Partei keine direkte Auseinandersetzung mit der passiven Seite stattfand, und weiterhin (fĂŒr die primĂ€r adressierte Öffentlichkeit) keinerlei inhaltliche ErhĂ€rtung oder argumentative BekrĂ€ftigung der infrage stehenden Punkte geliefert wurden. Gerade diese mĂŒssten als Ergebnis einer „genauen PrĂŒfung“ ja unmittelbar vorhanden sein. Die Belegung der von Ausgrenzung betroffenen Person mit den Attributen rechtspopulistisch und verschwörungstheoretisch ist dabei als typischer Kontaminationsversuch (siehe unten) zu verstehen: Wenn die Attribute an der Person ‚haften‘ bleiben, indem sich relevante Akteure dieser Normierung anschließen, erscheint ihr Ausschluss und der Kontaktabbruch als zwingende Konsequenz – unabhĂ€ngig von jeder argumentativen KlĂ€rung oder BegrĂŒndung der Anschuldigungen und ungeachtet der Reaktionen der von Ausschluss bedrohten oder betroffenen Person. Nicht untypisch ist an diesem Fall jedoch auch, dass derartige Ausschließungspraktiken keineswegs immer erfolgreich verlaufen: Die ĂŒberwiegende Mehrheit der Reaktionen zeigte, dass das Agieren der Stiftung vom eigenen Publikum kaum goutiert wurde.

Aufschlussreich fĂŒr die Verwendung des Ausdrucks sind auch Ereignisse, die man fĂŒr einschlĂ€gig halten könnte, die aber nicht als Cancel Culture kodiert werden, wie z.B. die Forderung rechter Gruppen (und auch der AfD), die akademische Genderforschung nicht weiter zu finanzieren. Auch hat niemand es als Cancel Culture kodiert, als neulich der bayrische MinisterprĂ€sident Söder kurzerhand dem Philosophieprofessor Christoph LĂŒtge den Stuhl vor die TĂŒr des Bayrischen Ethikrates gesetzt hat, nachdem dieser die Coronamaßnahmen fĂŒr „unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig“ und â€žĂŒberzogen“ erklĂ€rt hatte. Man muss dazu freilich wissen, dass der geschasste ‚Wirtschaftsethiker‘ selbst insofern bereits ‚skandalös‘ ist, als er das von Facebook an der TU MĂŒnchen finanzierte und bemannte Ethikinstitut leitet und insofern das klassische Beispiel eines Bocks ist, den man zum GĂ€rtner gemacht hat. Oder anders gesagt: Bereits die Berufung der Person LĂŒtge steht fĂŒr den Versuch, Wissenschaft aus ökonomisch-politischen Machtpositionen heraus zu steuern und zu begrenzen. Auch da, wo das Streichen ganzer StudiengĂ€nge ‚progressive‘ Wissenschaftlergruppen trifft, wie etwa bei der kompletten Streichung der Studiengebiete Critical Management Studies und Political Economy an der UniversitĂ€t Leicester (GB), spricht öffentlich niemand von Cancel Culture.

Im Hinblick auf den typischen im Cancel-Culture-Diskurs zu beobachtenden Sprachgebrauch kann eine diskursive ‚Bresche‘ nicht ĂŒbersehen werden, die mit Hilfe des Cancel-Culture-Vorwurfs erweitert werden soll: Im Kontext progressiv-neoliberaler Moralisierungstendenzen gibt es eine starke Neigung, ultimative Kontaminationsbegriffe wie Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Verschwörungstheorie in ihrem Gebrauch auszuweiten und so kasuistisch (haarspalterisch, spitzfindig) zu ĂŒberdehnen (der Kommunikationstheoretiker Kenneth Burke (1984 [1937]) spricht von „casusistic overstretching“), dass sie tendenziell auf alle gesellschaftlichen Formen gruppenbezogener Vorurteile gegen anerkannte und moralisch geschĂŒtzte Opfergruppen angewandt werden können – oft schon auf eine falsche Wortwahl. Kontaminationsbegriffe dienen tendenziell dem Ausschluss der als ‚ansteckend‘ markierten Personen und Gruppen aus dem regulĂ€ren Diskurs. Zugleich dienen sie der moralischen SelbstermĂ€chtigung derjenigen, die sie so freigiebig verwenden: Mit Rassisten und Antisemiten diskutiert man nicht, man schließt sie aus, nachdem man sie als solche identifiziert hat. Und wo die Bereitschaft wĂ€chst, etwa im Migrationsbereich von Rassismus zu sprechen, wenn jemand die offizielle Migrationspolitik kritisiert (oder bereits, wenn jemand einen gebrochen Deutsch Sprechenden nach seiner Herkunft fragt), da wĂ€chst naturgemĂ€ĂŸ auch die Bereitschaft, den Diskurs abzubrechen. Insofern fördert der Cancel-Culture-Vorwurf die Polarisierung innerhalb der angegriffenen (und als ‚links‘ kodierten) liberalen Meinungselite und denen, die der Ansicht sind, dass die Praktiken der US-Polizei gegenĂŒber der schwarzen Bevölkerung, die Praktiken der sĂŒdspanischen und sĂŒditalienischen (und auch der deutschen) Agrar- und Fleischindustrie, die mit unterbezahlten, kasernierten und völlig entrechteten illegalen Einwanderern arbeiten, als rassistisch gebrandmarkt werden sollten.

Diese Überdehnung ‚bewĂ€hrter‘ Kontaminationsbegriffe suggeriert semantische KontinuitĂ€t. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte leuchtet es ein, dass Rassismus, Antisemitismus etc. zum Ausschluss aus dem gehegten Bereich der politischen Kommunikation fĂŒhren. Indem man aber diese Begriffe so ausweitet, dass sie bereits fĂŒr taktloses Alltagsverhalten, keckes Kabarett oder minimale Abweichungen von einer vorgegebenen politischen Linie stehen, fĂŒhrt man durch die HintertĂŒr (und gedeckt durch bewĂ€hrte Begriffe) ganz neue Spielregeln in den Diskurs ein. Ist erst einmal jede ‚unkorrekte‘ Äußerung ĂŒber ‚Fremde‘ rassistisch und jede Kritik an George SorosÂŽ „Open Society Foundation“ antisemitisch, dann verschwimmen die Grenzen. Am Ende normalisiert die kasuistische Überdehnung solcher Begriffe eben das, wogegen sie sich richten.

Fußnoten

[1] Belege fĂŒr die bis heute anhaltende Kritik von links an den identitĂ€tspolitischen Empfindlichkeitspraktiken, die unter CC bekĂ€mpft werden, findet man u.a. bei. Fourest (2020) und Stegemann (2021).

[2] https://www.welt.de/kultur/plus222624690/Skandal-um-Naumann-Stiftung-Die-Person-Gunnar-Kaiser.html

 

Literatur

Zitierte Literatur und Belege

  • AG Siegen Denken (Hrsg.) (2019): Neue Rechte und UniversitĂ€t. In: Navigationen, Heft 2, Jg. 19.
  • Burke, Kenneth (1984 [1937]): Attitudes toward History. Berkeley, L.A.: University of California Press.
  • Erdl, Marc F. (2004): Die Legende von der politischen Korrektheit. Zur Erfolgsgeschichte eines importierten Mythos. Bielefeld: transcript.
  • Fourest, Caroline (2020): Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker IdentitĂ€rer. Berlin: tiamat.
  • Stegemann, Bernd (2021): Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Stuttgart: Clett-Kotta.

Zitiervorschlag

Knobloch, Clemens; Deus, Fabian (2021): Cancel Culture. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 06.05.2021. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/Cancel-culture.

Grundbegriffe

Diskurssemantische Verschiebung

Mit dem Begriff der diskurssemantischen Verschiebung wird in der Diskursforschung ein Wandel in der öffentlichen Sprache und Kommunikation verstanden, der auf mittel- oder lĂ€n-gerfristige VerĂ€nderung des Denkens, Handelns und/oder FĂŒhlens grĂ¶ĂŸerer Gesellschafts-gruppen hinweist.

Positionieren

Positionieren ist Grundbestandteil menschlicher Kommunikation. Wann immer wir miteinander interagieren und kommunizieren, bringen wir uns selbst, andere und die Objekte, ĂŒber die wir sprechen, in bestimmte Relationen zueinander.

Deutungsmuster

Unter einem Deutungsmuster wird die problem- und lösungsbezogene Interpretation gesellschaftlicher und politischer TatbestĂ€nde verstanden, die Aussicht auf Akzeptanz in sozialen Gruppen hat. Der Begriff des Deutungsmusters hat Ähnlichkeit mit den Begriffen der Theorie und Ideologie. Meist werden gesellschaftlich verbreitete Leitdeutungen, die oft mit Schlagwörtern und Argumentationsmustern einhergehen (wie Globalisierung, Kapitalismus, Leistungsgesellschaft, Chancengleichheit etc.) als Beispiele fĂŒr Deutungsmuster genannt.

Sinnformel

‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und Ă€hnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.

Praktik

Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes BĂŒndel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrĂŒcken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).

Kontextualisieren

Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.

Narrativ

Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.

Argumentation

Argumentation bezeichnet jene sprachliche TĂ€tigkeit, in der man sich mithilfe von GrĂŒnden darum bemĂŒht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klĂ€ren.

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung fĂŒr FĂŒhrung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative FĂ€higkeit, lĂ€ngere zusammenhĂ€ngende sprachliche Äußerungen wie ErzĂ€hlungen, ErklĂ€rungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Techniken

Aus dem Zusammenhang reißen

Das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen gehört in den Funktionskreis der Redewiedergabe bzw. der Wiedergabe kommunikativer Ereignisse. Es kann (1) als intentionale argumentativ-polemische Strategie fĂŒr ganz unterschiedliche diskursive Zielsetzungen von Akteuren genutzt werden, oder (2) es kann SprecherInnen und SchreiberInnen in unbeabsichtigter, fehlerhafter Weise unterlaufen.

Lobbying

Lobbying ist eine Form strategischer Kommunikation, die sich primĂ€r an Akteure in der Politik richtet. Beim Lobbying wird ein BĂŒndel von kommunikativen TĂ€tigkeiten mit dem Ziel eingesetzt, die Entscheidungen von Personen mit politischem Mandat oder den Entstehungsprozess von neuen Gesetzestexten interessengeleitet zu beeinflussen.

Pressemitteilung

Pressemitteilungen sind standardisierte Mitteilungen von Organisationen, die sich an Journalist:innen und andere Multiplikator:innen richten. Sie dienen der offiziellen und zitierfĂ€higen Informationsweitergabe und ĂŒbernehmen zugleich strategische Funktionen in der öffentlichen Kommunikation und Meinungssteuerung.

Shitstorm

Der Begriff Shitstorm beschreibt eine relativ junge Diskurskonstellation, die seit den 2010er Jahren an Bedeutung gewonnen hat und gemeinhin als Online-Wutausbruch bezeichnet wer-den kann.

Tarnschrift

Als Tarnschrift bezeichnet man unter den Bedingungen von Zensur und Verfolgungsrisiko veröffentliche Texte, die insbesondere in der strategischen Kommunikation des NS-Widerstands eine zentrale Rolle spielten.

Ortsbenennung

Die Benennung von Orten dient in erster Linie dazu, den jeweiligen geografischen Ort zu lokalisieren und ihn zu identifizieren. Doch Ortsnamen besitzen eine soziale Dimension und spielen eine entscheidende Rolle bei der sprachlich-kulturellen IdentitÀtskonstruktion.

Finanz-Topos

Mit dem Finanz-Topos werden im Diskurs Argumente gebildet, mit denen Akteure bestimmte Maßnahmen als finanziell sinnvoll befĂŒrworten oder als unrentabel zurĂŒckzuweisen.

Strategische ProzessfĂŒhrung

Der Begriff strategische ProzessfĂŒhrung kombiniert die Worte Strategie im Sinne von Plan und Taktik‘ und ProzessfĂŒhrung im Sinne von ‚Klage vor Gericht‘. Eine einheitliche Definition des Konzepts existiert bislang nicht. Meist werden hierunter (Muster)Klagen von NGOs und BĂŒrgerrechtsorganisationen verstanden, mit denen ĂŒber den Einzelfall hinausgehende soziale und gesellschaftspolitische Ziele verfolgt werden.

Inszenierte Kontroverse

Inszenierte Kontroversen liegen vor, wenn Politiker, Vertreter von Interessengruppen, Aktivisten, Journalisten, Influencer oder andere öffentlich wirksame Akteure potentiell strittige Themen möglichst effektvoll in einen Diskurs einbringen oder einen entsprechenden Diskurs auslösen, und zwar um entsprechende Perspektivierungen bestimmter Konfliktlagen im eigenen Interesse konfrontativ zu prÀgen.

-ismus

Bei Ismen geht es ursprĂŒnglich um die Wortendung (sog. Suffix) -ismus (Plural -ismen), mit der Substantive mit substantivischem oder adjektivischem Wortstamm (Basis) gebildet werden (z.B. Vulkan-ismus oder Aktiv-ismus).

Schlagwörter

Relativieren

Der Ausdruck relativieren besitzt zwei zentrale Bedeutungsvarianten: In bildungssprachlichen und wissenschaftlichen Kontexten bezeichnet er eine analytische Praxis, bei der Aussagen, Begriffe oder PhÀnomene durch Bezugnahme auf andere Sachverhalte eingeordnet, differen-ziert und in ihrer Geltung prÀzisiert werden.

Massendemokratie

GeprĂ€gt wurde der Begriff Massendemokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von völkisch-konservativen Akteuren (prominent darunter Carl Schmitt 1926). Der Ausdruck Masse hatte damals bei den bĂŒrgerlichen Eliten eine rundum bedrohliche Assoziation.

Social Bots

Als Social Bots werden Computerprogramme bezeichnet, die in der Lage sind, in sozialen Medien Kommunikation menschlicher Nutzer*innen (teilweise) automatisiert nachzuahmen.

KriegsmĂŒdigkeit

Der Ausdruck KriegsmĂŒdigkeit bezeichnet die emotionale und physische Erschöpfung von Menschen, die einen Krieg erleben, sowie die gesellschaftliche und politische ErmĂŒdung angesichts langanhaltender Konflikte. Er beschreibt den sinkenden Kampfeswillen bei Kriegsparteien und heute wird er auch fĂŒr das wachsende Desinteresse an Kriegsthemen in Medien und Öffentlichkeit genutzt.

Woke

Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunĂ€chst den Bewusstseinszustand der AufgeklĂ€rtheit ĂŒber die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.

IdentitÀt

Unter IdentitĂ€t versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.

Wohlstand

Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darĂŒber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.

Remigration

Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die RĂŒckkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.

Radikalisierung

Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu Ă€ndern sucht.

BĂŒrokratie

BĂŒrokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender AusdrĂŒcke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen BĂŒrokratisierung, BĂŒrokratismus und Komposita, als wichtigstes BĂŒrokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.

Verschiebungen

Dehumanisierung

Mit Dehumanisierung bzw. Anthropomorphisierung werden solche kommunikativen Techniken und Praktiken bezeichnet, die Personen, Sachverhalten oder GegenstÀnden menschliche Eigenschaften ab- bzw. zusprechen. Dehumanisierung und Anthropomorphisierung können sowohl durch sprachliche Mittel als auch durch andere, z. B. bildliche, Zeichen vollzogen werden.

Kriminalisierung

KriminalitĂ€t meint ein Verhalten, das gegen ein Gesetz verstĂ¶ĂŸt. Folglich bedeutet Kriminalisierung im engeren Sinne den Vorgang, durch den Verhalten ungesetzlich gemacht wird – indem Gesetze geschaffen werden.

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen SicherheitsverstĂ€ndnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurĂŒckzufĂŒhren ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlĂ€ssig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwĂ€rtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-KalkĂŒle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche ĂŒbertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die SphÀre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Partizipatorischer Diskurs

Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, fĂŒr (mehr) Partizipation zu sorgen.

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsĂ€chlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.