
DiskursGlossar
Cancel Culture
Kategorie: Schlagwörter
Verwandte Ausdrücke: Ausgrenzen, Diskursverweigerung, canceln
Siehe auch: Identitätspolitik, Moralisierung, Politische Korrektheit, Sagbarkeit
Autoren: Clemens Knobloch, Fabian Deus
Version: 1.3 / Datum: 06.05.2021
Kurzzusammenfassung
Cancel Culture ist ein Kampf- und Stigmawort, das sich in skandalisierender Absicht gegen die Praxis (und oft auch bereits gegen die Forderung) des Absagens, Ausladens, Boykottierens moralisch missliebiger und politisch bekämpfter Personen, Organisationen und Positionen in Wissenschaft, Kultur und Politik wendet. Der Ausdruck beschreibt und behauptet eine (weitverbreitete) Neigung, die argumentative und kritische Auseinandersetzung mit abgelehnten Positionen und ihren Vertretern zu verweigern, und stattdessen missliebige Standpunkte, Veranstaltungen und Personen aus dem Diskurs zu drängen. Dieser Sicht zufolge treten an die Stelle der inhaltlich-argumentativen Auseinandersetzung die Zurschaustellung von Emotionen und Empfindungen (z.B. Diskriminierungserfahrungen oder die Erwartung derselben) oder identitätspolitische Merkmale (Ethnie, Geschlecht, Alter etc.) beteiligter Personen.
Der Vorwurf der Cancel Culture ist politisch kaum festzulegen. Er ähnelt in vielen Aspekten der Kritik an der Politischen Korrektheit und scheint momentan häufig an dessen Stelle zu treten.
Erweiterte Begriffsklärung
Das Schlagwort Cancel Culture taucht praktisch ausschließlich als Anglizismus im deutschsprachigen Sprachgebrauch auf. Absage– oder Löschkultur (die Übersetzungsvorschläge der Wikipedia) tragen andere Konnotationen und sind daher zur Wiedergabe nicht geeignet.
Der Vorwurf der Cancel Culture taucht gegenwärtig häufig in Kontexten auf, in denen man zuvor das Vorkommen des Stigmawortes Politische Korrektheit erwartet hätte, und beide Ausdrücke dienen der Bearbeitung ähnlicher Konflikte. Während Politische Korrektheit jedoch zumindest für Teile des Publikums ihre negativen Assoziationen abgestreift hat, und sich verschiedene Akteure (von der Bundeszentrale für politische Bildung bis zum Duden-Verlag) positiv auf sie beziehen und sich offen zu ihr bekennen, ist ein solcher affirmativer (zustimmender) Gebrauch des Ausdrucks Cancel Culture bislang kaum zu beobachten. Die Häufigkeit, mit der der Ausdruck und mit ihm verbundene Wahrnehmungen von Ereignissen zu beobachten sind, sowie die Heftigkeit der (zustimmenden wie ablehnenden) Reaktionen, die sein Gebrauch oft provoziert, indizieren eine lagerübergreifende weitverbreitete Wahrnehmung grundsätzlicher Veränderungen des allgemeinen Debattenklimas.
Der Ausdruck taucht hauptsächlich in zwei gegenläufigen Narrationen auf: Für Kritiker einer Cancel Culture bezeichnet der Begriff in anklagender oder skandalisierender Absicht eine Kultur der Diskreditierung und Ausschließung von Personen oder Gruppen, deren Argumente oder Positionen damit als nicht diskursfähig markiert und aus dem Feld des Sagbaren ausgeschlossen werden. Als Begründung für den Ausschluss werde entweder die Gruppenzugehörigkeit der Sprechenden angeführt (und bewertet) oder aber der Verdacht, ihre Themen und Äußerungen könnten verletzend, traumatisierend, beleidigend auf anerkannte Opfergruppen wirken. Hierbei genüge häufig allein die Äußerung einer subjektiv wahrgenommen Diskriminierung (auch in Stellvertretung), und die Forderung nach sachlicher Erhärtung der Vorwürfe kann bereits als übergriffig gewertet werden. Hinzu komme oft der Anspruch, über die Angelegenheiten anerkannter Opfergruppen dürften nur deren Angehörige legitim sprechen (und schon gar nicht Angehörige von Gruppen, die aus identitätspolitischer Perspektive als ‚Tätergruppen‘ gelten). Somit beschreibt der Ausdruck Cancel Culture aus dieser Sicht ein repressives Diskursklima, in dem eine tonangebende Elite an Universitäten oder im Medien- und Kulturbetrieb abweichende Meinungen und Sichtweisen radikal unterdrückt und ausschließt, was dazu führe, dass viele Akteure sich aus Angst vor Ausgrenzungen nicht mehr trauen, frei zu sprechen. Teilweise wird in diesen Kontexten Cancel Culture auch als identitätspolitische Praxisform beschrieben, die in neoliberalen Gesellschaften Vorteile bei der Durchsetzung individueller Interessen verspreche. Derartige Cancel Culture–Kritik wird typischerweise von klassischen linken oder liberalen Positionen aus formuliert.
Andererseits wird die Existenz einer Cancel Culture von einigen politischen oder journalistischen Autoren grundsätzlich bestritten. Die Skandalisierung einer vermeintlichen Cancel Culture diene den etablierten Vertretern überkommender Machtstrukturen dazu, berechtigte Kritik marginalisierter Gruppen abzuwehren. In diesem Sinne könne der Gebrauch des Ausdrucks Cancel Culture (ähnlich wie Politische Korrektheit) für aufmerksamkeitspolitische Schattendebatten taugen: Akteure erweckten so den Eindruck, es drohe ihr Ausschluss aus dem Diskurs, wenn es (möglicherweise berechtigte) Kritik an ihren Taten oder Äußerungen gibt. Das sichere Resonanz und schütze gegen weitere Angriffe.
Im Effekt etabliert sich ein Spielfeld öffentlicher und politischer Kommunikation, auf dem konkurrierende Opfer-Gemeinschaften (und vor allem: ihre Fürsprecher) einander symbolisch mit Empörung überziehen. Denn auch Anti-Cancel-Culture-Communities wie das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit oder der Appell für freie Debattenräume inszenieren sich ähnlich wie ihre Gegner als Opfergruppen (bzw. als Vertretung von ‚Cancelopfern‘).
Vor diesem Hintergrund ist die Kritik an der Cancel Culture im politischen links-rechts Kontinuum kaum zu lokalisieren und entzieht sich einfachen Festlegungen: Einerseits wird der Ausdruck gegenwärtig häufig von rechts-konservativen Positionen aus eingesetzt. Das Stigmawort ist hierbei immer da präsent, wo es politisch gegen progressiv-neoliberale Moralisierungen und Empfindlichkeiten geht, die als ‚links‘ kodiert werden können. Andererseits waren und sind es aber gerade traditionelle sozialpolitisch linke Positionen, von denen die Cancel-Culture-Kritik ausging (Bernd Stegemann, Robert Pfaller, Noam Chomsky, Sahra Wagenknecht, um nur einige zu nennen) [1]. Der Versuch, die Kritik an Cancel Culture pauschal als ‚rechts‘ zu diffamieren, erscheint daher häufig als naheliegende Verteidigungsstrategie der (auch von links) Herausgeforderten. Die innerlinke Kontroverse wurde indes alsbald von rechten Diskursstrategen als Chance zur aktiven Spaltung des linken Lagers entdeckt und (nicht ohne Erfolg) eingesetzt.
Ähnliche Konfliktlinien lassen sich auch innerhalb anderer politischer Lager ausmachen (siehe unten). Relevanter für Zuordnungen in diesem Konfliktfeld scheinen andere Aspekte zu sein: Die Cancel-Culture-Kritiker sind häufig ältere (und etablierte) Vertreter gesellschaftlicher Institutionen, die sich mit dem Ausdruck gegen neue und als bedrohlich wahrgenommene Politikstile jüngerer Generationen auch in den eigenen Reihen zur Wehr setzten; Cancel Culture wird eher in urbanen Räumen praktiziert und in der Peripherie abgelehnt, sie wird in akademischen Milieus geleugnet und bildungsbürgerlich kritisiert. Ihre Kritiker beziehen sich auf die Meinungsfreiheit und die demokratische Öffentlichkeit als Ort der Vermittlung kollektiver Interessen, während sich die Gegenseite mehr für individuelle Persönlichkeitsmerkmale und damit verknüpfte Privilegien und Diskriminierungserfahrungen interessiert.
Beispiele und Anwendungskontexte
Einschlägige Kontroversen werden performativ (in der praktischen Anwendung) vornehmlich in den sozialen Medien ausgetragen, aber von reflexiven Bearbeitungen in den Feuilletons der großen Zeitungen thematisiert. Häufig genannte Beispielereignisse für Cancel Culture sind:
- die Störung und Verhinderung der Vorlesung des AfD-Mitgründers Bernd Lucke an der Uni Hamburg;
- der Wirbel um die Einladung von Thilo Sarrazin und Marc Jongen in ein Philosophieseminar zum Thema Meinungsfreiheit an der Uni Siegen (hierzu AG Siegen Denken 2019);
- die Streichung des Kabarettisten Dieter Nuhr aus dem Internetauftritt der DFG, nachdem dieser sich über die Parole „Folgt der Wissenschaft!“ lustig gemacht hatte;
- die Ausladung (und Wiedereinladung) der Kabarettistin Lisa Eckhart vom Hamburger Harbour Front Literaturfestival wegen angeblich rassistischer und antisemitischer Äußerungen.
Das sind höchst vielfältige Ereignistypen, und in der Kabarettsphäre ist der Skandal aufmerksamkeitspolitisch oft durchaus willkommen. Hier gilt: Wer es schafft, ausgeladen zu werden, hat als Satiriker oft eine Menge gewonnen. Ein wenig anders liegen die Dinge in der gegenwärtig hochsensiblen Schnittfläche zwischen Wissenschaft und Politik, in der Politiker ihre ausnahmestaatlichen Entscheidungsbefugnisse mit wissenschaftlichen Autoritäten legitimieren, während zugleich politische Akteure mit wissenschaftlichen Ansprüchen auftreten. Im Umfeld des Kabaretts erinnern viele Cancel-Culture-Konstellationen an die Korrektheitsstreitereien der 1990er Jahre (vgl. Erdl 2004). Mit dem Herüberschwappen ‚korrekter‘ Sprachsensibilitäten aus den USA galten plötzlich die Äußerungen mancher Kabarettisten für ‚menschenverachtend‘, wenn sie sich über Minderheiten lustig machten.
Ein typisches Beispiel für die erwähnten Turbulenzen innerhalb bestehender politischer Communities lieferte die Social-Media-Präsenz der FDP-nahen Friederich-Naumann-Stiftung im Dezember 2020: Die in ihrer Selbstbeschreibung liberalen Werten wie der Meinungsfreiheit verpflichtete Stiftung sah sich auf Twitter mit dem Vorwurf konfrontiert, Personen eine Bühne zu bieten, die dem hegemonialen Pandemiediskurs in inakzeptabler Weise (‚quer‘, ‚rechts abgebogen‘) widersprechen. Konkret hatte ein libertärer Blogger und Youtuber bei einer Veranstaltung als Moderator fungiert, bei der ironischerweise über „Intoleranz, offene Debattenkultur und Cancel Culture“ [2] gestritten wurde. Die Stiftung reagierte auf die Anschuldigungen zunächst mit der Ankündigung, man „nehme die Sache ernst und prüfe“ den Vorgang. Später wurde als Ergebnis dieser Prüfung verkündet, der inkriminierte Blogger arbeite „mit rechtspopulistischem und verschwörungstheoretischem Gedankengut“, man habe selber im Vorfeld nicht ausreichend „geprüft“ und werde „Vorsorge treffen, dass so etwas nicht mehr passieren kann“. Abgesehen von der bemerkenswerten Wortwahl, zu der sich die „Stiftung für die Freiheit“ hier verleiten ließ, zeigen sich hier typische Diskursmerkmale, die mit der Rede von der Cancel Culture in Verbindung stehen: Zunächst fällt direkt auf, dass (jedenfalls zunächst) von Seiten der ausgrenzenden Partei keine direkte Auseinandersetzung mit der passiven Seite stattfand, und weiterhin (für die primär adressierte Öffentlichkeit) keinerlei inhaltliche Erhärtung oder argumentative Bekräftigung der infrage stehenden Punkte geliefert wurden. Gerade diese müssten als Ergebnis einer „genauen Prüfung“ ja unmittelbar vorhanden sein. Die Belegung der von Ausgrenzung betroffenen Person mit den Attributen rechtspopulistisch und verschwörungstheoretisch ist dabei als typischer Kontaminationsversuch (siehe unten) zu verstehen: Wenn die Attribute an der Person ‚haften‘ bleiben, indem sich relevante Akteure dieser Normierung anschließen, erscheint ihr Ausschluss und der Kontaktabbruch als zwingende Konsequenz – unabhängig von jeder argumentativen Klärung oder Begründung der Anschuldigungen und ungeachtet der Reaktionen der von Ausschluss bedrohten oder betroffenen Person. Nicht untypisch ist an diesem Fall jedoch auch, dass derartige Ausschließungspraktiken keineswegs immer erfolgreich verlaufen: Die überwiegende Mehrheit der Reaktionen zeigte, dass das Agieren der Stiftung vom eigenen Publikum kaum goutiert wurde.
Aufschlussreich für die Verwendung des Ausdrucks sind auch Ereignisse, die man für einschlägig halten könnte, die aber nicht als Cancel Culture kodiert werden, wie z.B. die Forderung rechter Gruppen (und auch der AfD), die akademische Genderforschung nicht weiter zu finanzieren. Auch hat niemand es als Cancel Culture kodiert, als neulich der bayrische Ministerpräsident Söder kurzerhand dem Philosophieprofessor Christoph Lütge den Stuhl vor die Tür des Bayrischen Ethikrates gesetzt hat, nachdem dieser die Coronamaßnahmen für „unverhältnismäßig“ und „überzogen“ erklärt hatte. Man muss dazu freilich wissen, dass der geschasste ‚Wirtschaftsethiker‘ selbst insofern bereits ‚skandalös‘ ist, als er das von Facebook an der TU München finanzierte und bemannte Ethikinstitut leitet und insofern das klassische Beispiel eines Bocks ist, den man zum Gärtner gemacht hat. Oder anders gesagt: Bereits die Berufung der Person Lütge steht für den Versuch, Wissenschaft aus ökonomisch-politischen Machtpositionen heraus zu steuern und zu begrenzen. Auch da, wo das Streichen ganzer Studiengänge ‚progressive‘ Wissenschaftlergruppen trifft, wie etwa bei der kompletten Streichung der Studiengebiete Critical Management Studies und Political Economy an der Universität Leicester (GB), spricht öffentlich niemand von Cancel Culture.
Im Hinblick auf den typischen im Cancel-Culture-Diskurs zu beobachtenden Sprachgebrauch kann eine diskursive ‚Bresche‘ nicht übersehen werden, die mit Hilfe des Cancel-Culture-Vorwurfs erweitert werden soll: Im Kontext progressiv-neoliberaler Moralisierungstendenzen gibt es eine starke Neigung, ultimative Kontaminationsbegriffe wie Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Verschwörungstheorie in ihrem Gebrauch auszuweiten und so kasuistisch (haarspalterisch, spitzfindig) zu überdehnen (der Kommunikationstheoretiker Kenneth Burke (1984 [1937]) spricht von „casusistic overstretching“), dass sie tendenziell auf alle gesellschaftlichen Formen gruppenbezogener Vorurteile gegen anerkannte und moralisch geschützte Opfergruppen angewandt werden können – oft schon auf eine falsche Wortwahl. Kontaminationsbegriffe dienen tendenziell dem Ausschluss der als ‚ansteckend‘ markierten Personen und Gruppen aus dem regulären Diskurs. Zugleich dienen sie der moralischen Selbstermächtigung derjenigen, die sie so freigiebig verwenden: Mit Rassisten und Antisemiten diskutiert man nicht, man schließt sie aus, nachdem man sie als solche identifiziert hat. Und wo die Bereitschaft wächst, etwa im Migrationsbereich von Rassismus zu sprechen, wenn jemand die offizielle Migrationspolitik kritisiert (oder bereits, wenn jemand einen gebrochen Deutsch Sprechenden nach seiner Herkunft fragt), da wächst naturgemäß auch die Bereitschaft, den Diskurs abzubrechen. Insofern fördert der Cancel-Culture-Vorwurf die Polarisierung innerhalb der angegriffenen (und als ‚links‘ kodierten) liberalen Meinungselite und denen, die der Ansicht sind, dass die Praktiken der US-Polizei gegenüber der schwarzen Bevölkerung, die Praktiken der südspanischen und süditalienischen (und auch der deutschen) Agrar- und Fleischindustrie, die mit unterbezahlten, kasernierten und völlig entrechteten illegalen Einwanderern arbeiten, als rassistisch gebrandmarkt werden sollten.
Diese Überdehnung ‚bewährter‘ Kontaminationsbegriffe suggeriert semantische Kontinuität. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte leuchtet es ein, dass Rassismus, Antisemitismus etc. zum Ausschluss aus dem gehegten Bereich der politischen Kommunikation führen. Indem man aber diese Begriffe so ausweitet, dass sie bereits für taktloses Alltagsverhalten, keckes Kabarett oder minimale Abweichungen von einer vorgegebenen politischen Linie stehen, führt man durch die Hintertür (und gedeckt durch bewährte Begriffe) ganz neue Spielregeln in den Diskurs ein. Ist erst einmal jede ‚unkorrekte‘ Äußerung über ‚Fremde‘ rassistisch und jede Kritik an George Soros´ „Open Society Foundation“ antisemitisch, dann verschwimmen die Grenzen. Am Ende normalisiert die kasuistische Überdehnung solcher Begriffe eben das, wogegen sie sich richten.
Fußnoten
[1] Belege für die bis heute anhaltende Kritik von links an den identitätspolitischen Empfindlichkeitspraktiken, die unter CC bekämpft werden, findet man u.a. bei. Fourest (2020) und Stegemann (2021).
[2] https://www.welt.de/kultur/plus222624690/Skandal-um-Naumann-Stiftung-Die-Person-Gunnar-Kaiser.html
Literatur
Zitierte Literatur und Belege
- AG Siegen Denken (Hrsg.) (2019): Neue Rechte und Universität. In: Navigationen, Heft 2, Jg. 19.
- Burke, Kenneth (1984 [1937]): Attitudes toward History. Berkeley, L.A.: University of California Press.
- Erdl, Marc F. (2004): Die Legende von der politischen Korrektheit. Zur Erfolgsgeschichte eines importierten Mythos. Bielefeld: transcript.
- Fourest, Caroline (2020): Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer. Berlin: tiamat.
- Stegemann, Bernd (2021): Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Stuttgart: Clett-Kotta.
Zitiervorschlag
Knobloch, Clemens; Deus, Fabian (2021): Cancel Culture. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 06.05.2021. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/Cancel-culture.
Grundbegriffe
Diskurssemantische Verschiebung
Mit dem Begriff der diskurssemantischen Verschiebung wird in der Diskursforschung ein Wandel in der öffentlichen Sprache und Kommunikation verstanden, der auf mittel- oder län-gerfristige Veränderung des Denkens, Handelns und/oder Fühlens größerer Gesellschafts-gruppen hinweist.
Domäne
Der Begriff der Domäne ist aus der soziologisch orientierten Sprachforschung in die Diskursforschung übernommen worden. Hier wird der Begriff dafür verwendet, um Muster im Sprachgebrauch und kollektiven Denken von sozialen Gruppen nach situationsübergreifenden Tätigkeitsbereichen zu sortieren.
Positionieren
Positionieren ist Grundbestandteil menschlicher Kommunikation. Wann immer wir miteinander interagieren und kommunizieren, bringen wir uns selbst, andere und die Objekte, über die wir sprechen, in bestimmte Relationen zueinander.
Deutungsmuster
Unter einem Deutungsmuster wird die problem- und lösungsbezogene Interpretation gesellschaftlicher und politischer Tatbestände verstanden, die Aussicht auf Akzeptanz in sozialen Gruppen hat. Der Begriff des Deutungsmusters hat Ähnlichkeit mit den Begriffen der Theorie und Ideologie. Meist werden gesellschaftlich verbreitete Leitdeutungen, die oft mit Schlagwörtern und Argumentationsmustern einhergehen (wie Globalisierung, Kapitalismus, Leistungsgesellschaft, Chancengleichheit etc.) als Beispiele für Deutungsmuster genannt.
Sinnformel
‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und ähnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.
Praktik
Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes Bündel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrücken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).
Kontextualisieren
Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.
Narrativ
Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.
Argumentation
Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Techniken
Dogwhistle
Unter Dogwhistle wird in Teilen der Forschung eine doppeldeutige Äußerung verstanden, die eine offene und eine verdeckte Botschaft an jeweils eine Zuhörerschaft kommuniziert.
Boykottaufruf
Der Boykottaufruf ist eine Maßnahme, die darauf abzielt, ein Ziel, also meist eine Verhaltensänderung des Boykottierten, hervorzurufen, indem zu einem Abbruch etwa der wirtschaftlichen oder sozialen Beziehungen zu diesem aufgefordert wird.
Tabuisieren
Das Wort Tabuisierung bezeichnet die Praxis, etwas Unerwünschtes, Anstößiges oder Peinliches unsichtbar zu machen oder als nicht akzeptabel zu markieren. Das Tabuisierte gilt dann moralisch als unsagbar, unzeigbar oder unmachbar.
Aus dem Zusammenhang reißen
Das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen gehört in den Funktionskreis der Redewiedergabe bzw. der Wiedergabe kommunikativer Ereignisse. Es kann (1) als intentionale argumentativ-polemische Strategie für ganz unterschiedliche diskursive Zielsetzungen von Akteuren genutzt werden, oder (2) es kann SprecherInnen und SchreiberInnen in unbeabsichtigter, fehlerhafter Weise unterlaufen.
Lobbying
Lobbying ist eine Form strategischer Kommunikation, die sich primär an Akteure in der Politik richtet. Beim Lobbying wird ein Bündel von kommunikativen Tätigkeiten mit dem Ziel eingesetzt, die Entscheidungen von Personen mit politischem Mandat oder den Entstehungsprozess von neuen Gesetzestexten interessengeleitet zu beeinflussen.
Karten
Karten dienen dazu, Raumausschnitte im Hinblick auf ausgewählte Charakteristika so darzustellen, dass die Informationen unmittelbar in ihrem Zusammenhang erfasst und gut kommuniziert werden können. Dazu ist es notwendig, Daten und Darstellungsweisen auszuwählen und komplexe und oft umkämpfte Prozesse der Wirklichkeit in einfachen Darstellungen zu fixieren.
Pressemitteilung
Pressemitteilungen sind standardisierte Mitteilungen von Organisationen, die sich an Journalist:innen und andere Multiplikator:innen richten. Sie dienen der offiziellen und zitierfähigen Informationsweitergabe und übernehmen zugleich strategische Funktionen in der öffentlichen Kommunikation und Meinungssteuerung.
Shitstorm
Der Begriff Shitstorm beschreibt eine relativ junge Diskurskonstellation, die seit den 2010er Jahren an Bedeutung gewonnen hat und gemeinhin als Online-Wutausbruch bezeichnet wer-den kann.
Tarnschrift
Als Tarnschrift bezeichnet man unter den Bedingungen von Zensur und Verfolgungsrisiko veröffentliche Texte, die insbesondere in der strategischen Kommunikation des NS-Widerstands eine zentrale Rolle spielten.
Ortsbenennung
Die Benennung von Orten dient in erster Linie dazu, den jeweiligen geografischen Ort zu lokalisieren und ihn zu identifizieren. Doch Ortsnamen besitzen eine soziale Dimension und spielen eine entscheidende Rolle bei der sprachlich-kulturellen Identitätskonstruktion.
Schlagwörter
Echokammer
Der Begriff der Echokammer steht in seiner heutigen Verwendung vor allem im Zusammenhang mit der Nutzung Sozialer Medien. Er verweist metaphorisch auf einen digitalen Kommunikations- und Resonanzraum, in dem Mediennutzer*innen lediglich Inhalten begegnen, die ihre eigenen, bereits bestehenden Ansichten bestätigen, während abweichende Perspektiven und Meinungen ausgeblendet bzw. abgelehnt werden.
Relativieren
Der Ausdruck relativieren besitzt zwei zentrale Bedeutungsvarianten: In bildungssprachlichen und wissenschaftlichen Kontexten bezeichnet er eine analytische Praxis, bei der Aussagen, Begriffe oder Phänomene durch Bezugnahme auf andere Sachverhalte eingeordnet, differen-ziert und in ihrer Geltung präzisiert werden.
Massendemokratie
Geprägt wurde der Begriff Massendemokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von völkisch-konservativen Akteuren (prominent darunter Carl Schmitt 1926). Der Ausdruck Masse hatte damals bei den bürgerlichen Eliten eine rundum bedrohliche Assoziation.
Social Bots
Als Social Bots werden Computerprogramme bezeichnet, die in der Lage sind, in sozialen Medien Kommunikation menschlicher Nutzer*innen (teilweise) automatisiert nachzuahmen.
Kriegsmüdigkeit
Der Ausdruck Kriegsmüdigkeit bezeichnet die emotionale und physische Erschöpfung von Menschen, die einen Krieg erleben, sowie die gesellschaftliche und politische Ermüdung angesichts langanhaltender Konflikte. Er beschreibt den sinkenden Kampfeswillen bei Kriegsparteien und heute wird er auch für das wachsende Desinteresse an Kriegsthemen in Medien und Öffentlichkeit genutzt.
Woke
Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunächst den Bewusstseinszustand der Aufgeklärtheit über die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.
Identität
Unter Identität versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.
Wohlstand
Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.
Remigration
Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.
Radikalisierung
Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.
Verschiebungen
Dehumanisierung
Mit Dehumanisierung bzw. Anthropomorphisierung werden solche kommunikativen Techniken und Praktiken bezeichnet, die Personen, Sachverhalten oder Gegenständen menschliche Eigenschaften ab- bzw. zusprechen. Dehumanisierung und Anthropomorphisierung können sowohl durch sprachliche Mittel als auch durch andere, z. B. bildliche, Zeichen vollzogen werden.
Kriminalisierung
Kriminalität meint ein Verhalten, das gegen ein Gesetz verstößt. Folglich bedeutet Kriminalisierung im engeren Sinne den Vorgang, durch den Verhalten ungesetzlich gemacht wird – indem Gesetze geschaffen werden.
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Partizipatorischer Diskurs
Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.