
DiskursGlossar
Argumentation
Kategorie: Grundbegriffe
Verwandte Ausdrücke: Argumentieren, Beweisführung, Begründung, Überredung, Diskussion, Rechtfertigung
Siehe auch: Topos, Wissen, Macht, Demokratie, Diskurskompetenz
Autor: Thomas Coendet
Version: 1.0 / Datum: 20.11.2024
Inhaltsübersicht
Kurzzusammenfassung
Erweiterte Begriffserklärung
Beispiele
Literatur
Zitiervorschlag
Kurzzusammenfassung
Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine politische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären. Eine solche Klarstellung ist argumentativ, wenn sie nicht einfach feststellt, was der Fall ist, sondern darüber aufklärt, warum etwas der Fall ist. Man argumentiert also nicht bereits, wenn man eine Antwort gibt. Argumentation hängt wesentlich damit zusammen, dass eine Antwort mit dem Geben und Prüfen von Gründen verknüpft ist. Rückblickend werden Gründe vorgebracht, um eine bestimmte Handlung zu rechtfertigen; vorausschauend wird versucht, jemanden von einer Sache zu überzeugen. In beiden Situationen wird oft auf besondere Argumentationsmuster zurückgegriffen und so ist es für das praktische Argumentieren hilfreich, diese zu kennen. Dabei handelt es sich beim Argumentieren im Kern um eine Tätigkeit, die man nicht alleine, sondern zusammen mit anderen ausübt. Gerade dieser soziale Charakter der Argumentation bestimmt, inwieweit beim Argumentieren etwas Vernünftiges herauskommt.
Erweiterte Begriffsklärung
Argumentation ist eine kommunikative Tätigkeit, die Gründe für die Richtigkeit einer Behauptung über die Welt hervorbringt. Warum Gründe vorgebracht werden, kann ganz verschiedene Ursachen haben. Es mag daran liegen, dass es um die Sozialverträglichkeit des eigenen Verhaltens geht. Wer der Einladung auf ein Glas Weißwein ablehnend gegenübersteht, könnte einfach mit Nein Antworten. In vielen Situation wird man jedoch geneigt sein, dieses Angebot nicht schroff auszuschlagen, sondern die Ablehnung zu begründen, z. B. Ein andermal, ich fahre noch oder vielleicht grundsätzlich, Nein Danke, ich trinke nicht. Das muss nicht das letzte Wort sein. Die Gründe mögen den Gastgeber nicht überzeugen. Auf die grundsätzliche Ablehnung mag er erwidern: Zahlreiche Studien legen nahe, dass maßvoller Rotweingenuss gesund ist. Dass dieses Argument nicht sticht, wird sogleich gesehen: Du hast mir aber Weißwein angeboten. Da hast Du Recht, ich hätte auch Rotwein. Und so mag sich ein Dialog über die Vor- und Nachteile des Alkoholgenusses entfalten. Dieser Dialog könnte freilich auch in einem ganz anderen Kontext entstehen bzw. stehen – z. B. im Rahmen einer Podiumsdiskussion über die sozialen Folgen des Alkoholkonsums; als Teil einer politischen Initiative, die den Alkoholverkauf an Jugendliche im Interesse der Industrie neu regeln will; oder als Teil einer philosophischen Erörterung, ob sich der Staat in die individuelle Lebensführung einmischen dürfe oder gar müsse (vgl. Mill 1859; Chan 2000).
Die Anlässe zur Argumentation sind somit vielfältig und ebenso sind es ihre Themen und Kontexte. Argumentiert wird nicht nur in politischen oder philosophischen Diskursen, sondern auch in der Forschung, im Recht, in Unternehmen, im Alltag, in Universitäten und Schulen, etc. Man stellt das Produzieren und Prüfen von Gründen in den Dienst so unterschiedlicher Fragen wie: Welche Nebenwirkungen sind mit diesem neuen Impfstoff verbunden? War der Angeklagte zur Tatzeit am Tatort? Sollen wir unsere Produktionsstandorte für Computerchips von Asien nach Nordamerika zurückverlagern? Ist es für die Familie besser, nach Berlin umziehen oder sollten wir in München bleiben? Die Beispiele verdeutlichen, weshalb die argumentative Reflexion einer bestimmten Frage auch als Tätigkeit verstanden wird, mit der wir uns in und gegenüber der Welt zu orientieren suchen. Unsere Überlegungen sind darauf ausgerichtet zu bestimmen, wie wir und andere in der Welt handeln sollten (vgl. Raz 2022: 93).
Die wissenschaftliche Reflexion über die Formen und Funktionen des Argumentierens als sprachliche, soziale Tätigkeit ist heute ein weites Forschungsfeld und es widmet sich ihr eine Vielzahl von Disziplinen – namentlich die Linguistik, Soziologie, Philosophie, Psychologie, die Politik-, Erziehungs- und Rechtswissenschaft; und nicht zuletzt auch die Computerwissenschaft und Forschung zu Künstlicher Intelligenz (als Forschungsüberblick: Dutilh Novaes 2022; Van Eemeren et al. 2014). Entsprechend vielfältig fallen die Definitionen aus, worum es sich beim Argumentieren handelt (Übersicht bei Nickerson 2020: Kap. 1). Diese wissenschaftlich differenzierte Sicht auf das Argumentationsgeschehen ist eine vergleichsweise junge Entwicklung. Für die längste Zeit verteilte sich die Argumentationslehre auf zwei Grundbereiche: Logik und Rhetorik.
(a) Logik beschäftigt sich mit der Form eines Arguments. Wir können anhand der formalen Logik überprüfen, was wir alles behaupten, wenn wir eine bestimmte Behauptung aufstellen. Wenn wir erstens behaupten, dass alle Menschen sterblich sind (Obersatz), und zweitens, dass Sokrates ein Mensch ist (Untersatz), dann behaupten wir auch, dass Sokrates sterblich ist (Schlussfolgerung). Diese Schlussfolgerung ist dann ,logisch zwingend‘, wie man im Alltag sagen würde. Logische Übersicht ist für die Argumentationstätigkeit durchaus hilfreich und wichtig (vgl. Bieri 2007: 338). Doch formale Logik reicht nicht hin, um die weltlichen Orientierungsprobleme zu lösen, die wir oben skizziert haben. Betrachten wir als Beispiel ein rein logisches Argument zur Lohngerechtigkeit. Aus der Prämisse, dass Männer mehr verdienen sollen als Frauen, folgt, dass Michael mehr verdienen soll als Michelle, sofern Michael ein Mann und Michelle eine Frau ist. Diese Schlussfolgerung ist logisch einwandfrei, geht aber an der Sache vorbei. Es ist unschwer einzusehen, dass das Problem des Arguments in seiner Prämisse liegt und nicht in der formalen Richtigkeit seiner Schlussfolgerung. Der ,logische Zwang‘ eines Arguments hat demnach etwas Trügerisches. Nicht überraschend hat das gerade die kritische Sozialphilosophie erkannt: „welches zutiefst verkehrte theoretische Gebilde vermöchte nicht schließlich die Forderung formaler Richtigkeit zu erfüllen!“ (Horkheimer 2011: 197) Anders gesagt: Logik liefert keine hinreichenden Begründungen, denn wir thematisieren mit ihr ein Argument lediglich in formaler und nicht in inhaltlicher Hinsicht. Diese grundlegende Einsicht geht in der modernen Argumentationstheorie auf die bahnbrechende Untersuchung von Stephen Toulmin in The Uses of Argument (1958) zurück.
(b) Die Rhetorik als Kunst der wirkungsvollen Rede hat wiederum ihre eigenen Probleme. Zwar ist sie die historische Quelle für verschiedene Argumentationsmuster, die wir auch heute noch verwenden. Sie hat aber ihre Schwachstelle, die sich wie bei der Logik mit dem Verhältnis von Inhalt und Form rekonstruieren lässt. Wenn wir sagen, etwas sei ,leere Rhetorik‘, heben wir darauf ab, dass einer Rede oder Darlegung der Sachbezug verloren gegangen ist. Die Rhetorik kommt so in den Verdacht, eine Technik zu sein, die nichts mit dem Inhalt der Rede zu tun habe: was vertreten wird, ist einerlei; ausschlaggebend ist lediglich, wie es vertreten wird, nämlich wirkungsvoll. Von da ist es nur ein kleiner Schritt, rhetorische Stilmittel und Redeformen als Instrument der Manipulation zurückzuweisen. Solch ein Verständnis und Urteil über die Rhetorik findet sich namentlich bei Immanuel Kant. Ihm zufolge eignet der Rhetorik der Schatten einer „hinterlistigen Kunst“, die „die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewegen versteht […]“. Sie sei, so Kant weiter, „als Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen […] gar keiner Achtung würdig“ (Kant 1957: § 53, Anm. B 218). Die Politik beweist bis heute, dass diese Einschätzung nicht unbegründet ist. Man erkennt die rhetorische Hinterlist und manipulative Steuerung von Menschen als Maschinen besonders eindrucksvoll in der Sportpalastrede von Joseph Goebbels (1943), in der er die Deutschen auf den totalen Krieg einschwor. Doch selbst aus diesem abgründigen Beispiel folgt nicht, dass die Rhetorik deshalb notwendigerweise eine verwerfliche Kunst sei. So hat sich zur gleichen Zeit Thomas Mann in seinen Radioansprachen „Deutsche Hörer!“ (1940–45) einer Sprache bedient, der es durchaus auch auf den Effekt ankam, die Nazi-Propaganda mit ihren eigenen rhetorischen Mitteln zu bekämpfen (Borchmeyer 2022: 1065–1066). Rhetorisch versierte Reden wurden dann ebenfalls von Martin Luther King Jr. und Barack Obama gehalten. Und an deren Beispiel erkennt man gerade umgekehrt die positive Bedeutung der Fähigkeit, eine politische Botschaft motivierend vermitteln zu können. Problematisch wird Rhetorik erst dort, wo sie die rationale Argumentation nicht mehr begleitet und unterstützt, sondern sie ersetzt. Hier erst eröffnet sie ihr Potential für Demagogie und Populismus (zum Ganzen Uhlmann 2019: 267, 271, 300 insbes.).
Dieser historisch-begriffliche Abriss zum Verhältnis von Logik, Rhetorik und Argumentation macht deutlich: Gute Argumentation kann sich nicht im formalistischen oder effektvollen Gebrauch bestimmter Schluss- und Redeformen erschöpfen. Zwar gehen logische und rhetorische Formen in die argumentative Tätigkeit ein; sie reichen aber nicht aus. Damit stellt sich die Frage, worin ,gute‘ Argumentation dann ihren normativen Maßstab findet. Im Schrifttum liest man nicht selten, dass Argumentation sich um die rationale Erörterung eines Problems zu bemühen habe. Rationalität ist dabei ein schwieriges Stichwort. Es lässt sich mit der bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel entwickelten Unterscheidung von Verstand und Vernunft präzisieren. Hegel zufolge beruht unser rationales Urteilsvermögen in einer Sache zwar auf der Fähigkeit, rechenhaft mit Regeln umgehen und diskret zwischen wahr und falsch unterscheiden zu können. Darin liege allerdings erst ein Verstandesgebrauch, wie er heute auch von Computern und Robotern teilweise simuliert werden kann. Die Welt und Lebenswelt des Menschen sind in ihrer Komplexität und Mannigfaltigkeit über solche Schematisierungen jedoch immer bereits hinaus und widersprechen ihnen nicht selten. Die vernünftige Erörterung in weltbezogenen Orientierungsproblemen muss daher über die rein verstandesmäßige Anwendung von angelernten Schemata und Regeln hinausgehen (vgl. Stekeler 2020: 32–34). Man kann das auch so ausdrücken, dass vernünftige Argumentation sich nicht in der Kenntnis und im kompetenten Anwenden von Argumentationsmustern erschöpfen kann. Vernunft steht nicht für eine Checkliste, die man abarbeiten kann. Damit verbleibt man auf der Ebene eines formalistisch denkenden Alltagsverstands oder ,common sense‘, der sich darüber täuscht, dass vernünftige Orientierungsbildung ein nie abgeschlossenes Verfahren ist. Es lässt sich deshalb nicht in feststehenden Schlussformen fixieren, sondern setzt ein freies Urteil im Rahmen einer guten kooperativen und kommunikativen Praxis voraus (siehe Stekeler 2020: 73).
Auf argumentative Vernunft zu setzen, heißt, dass man es der Menschheit zutraut, durch das Produzieren und Prüfen von Gründen zu besserer Einsicht zu gelangen. Damit das funktioniert, müssen Argumente eine Überzeugungskraft besitzen, die sich auch gegen intellektuelle Widerstände durchsetzt. Diese Kraft kann sich, wie wir gesehen haben, nicht in logischem Zwang erschöpfen, denn dazu braucht es allseits geteilte Prämissen. Auf der anderen Seite können wir argumentative Überzeugungskraft auch nicht am rhetorischen Erfolg festmachen: Bloße Überredungskunst ist nicht vernünftige Argumentation. Worum es tatsächlich geht, hat Jürgen Habermas in der berühmten Formel des „eigentümlich zwanglosen Zwangs des besseren Argumentes“ festgehalten (Habermas 1973: 240). Lassen sich die Bedingungen dieses eigentümlichen Zwangs näher erfassen, um zu bestimmen, was gute Argumentation ist? Gibt es womöglich ein ideales Verfahren, das zu einer überzeugungskräftigen Argumentation führt?
Perelman und Olbrechts-Tyteca (1958) haben den bekannten Vorschlag gemacht, danach zu unterscheiden, an welches Auditorium sich eine Argumentation wende. Ein Auditorium sei „partikular“, wenn es aus einer bestimmten Person oder Gruppe von Personen bestehe, oder es sei „universal“, wenn ihm alle vernunftbegabten Personen angehörten. Wer sich an ein partikulares Auditorium richte, könne allenfalls ,überreden‘; wer ein universales Auditorium adressiere, könne auch ,überzeugen‘. Überzeugungskraft erreicht eine Argumentation in diesem Theoriemodell somit, indem sie sich an ein als universell gedachtes Auditorium richtet. Habermas selbst hat vorgeschlagen, sich am Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses zu orientieren. Ein solcher Diskurs erlaube es allen Beteiligten, sich gleichberechtigt zur verhandelten Sache zu äußern. In dieser sog. „idealen Sprechsituation“ solle das Geben und Nehmen von Gründen zum Konsens über die richtige Antwort in einer Frage führen. Habermas (1992) sieht die Bedingungen für einen herrschaftsfreien Diskurs in wesentlichen Teilen in einem demokratischen Rechtsstaat realisiert. Die Argumentation über gesellschaftliche Probleme in den Institutionen des demokratischen Rechtsstaats führt gemäß dieser Theorie zu Ergebnissen, die inhaltliche Überzeugungskraft (,veritas‘) und politisch-rechtliche Verbindlichkeit (,auctoritas‘) auf sich vereinigen.
Die Theorien von Perelman und Habermas führen das normative Erbe einer aufklärerischen Vernunft fort. Welche Orientierung aber stiften sie für unsere Argumentationspraxis? Das sei in diesem Absatz zumindest kurz angedeutet. Wer in einer Echokammer der sozialen Medien argumentiert, wird wenig Schwierigkeiten haben, Konsens über seine Thesen zu erzielen. Gute bzw. vernünftige Argumentation findet ihren Maßstab jedoch nicht am partikularen Auditorium einer Echokammer. Für eine überzeugende Antwort auf die verhandelte Frage kann es auf ein solch partikulares Auditorium nicht ankommen, sondern die Antwort muss sich vernünftigerweise auf Dialogpartner jenseits der Echokammer universalisieren lassen. Auch das optimistische Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses, in dem man sich um ein rationales Geben und Nehmen von Gründen bemüht, ist erinnerungswürdig, wenn politisch gesellschaftliche Auseinandersetzungen sich auf einen ,Schreikampf‘ zwischen unversöhnlichen Gruppen reduzieren. Und dass man am Rechtsstaat als institutioneller Bedingung für ein solches diskursiv-argumentatives Ideal festhalten sollte, wird in einer Zeit „demokratischer Rezession“ ebenfalls deutlich (zu dieser Rezession: Carothers and Press 2022).
Ob sich Menschen tatsächlich durch Gründe zur besseren Einsicht und Entscheidung bewegen lassen, wird in der psychologischen Forschung hingegen skeptisch beurteilt. Diese zeigt ganz grundsätzlich, dass menschliches Handeln regelmäßig dem Ideal eines rationalen Entscheidens widerspricht (vgl. Kahneman 2003). Sie zeigt weiter, dass menschliches ,Nachdenken‘ vielfach und vielfältig dazu neigt, bereits ,Vorgedachtes‘ einfach zu bestätigen, anstatt es kritisch zu prüfen und zu hinterfragen (vgl. Nickerson 1998). Die Forschung zur Moralpsychologie insbesondere legt nahe, dass wir nicht von Natur aus darauf aus sind, ein moralisches Problem unbefangen und ergebnisoffen entsprechend der relativen Stärke der Argumente zu erörtern. Was jemand als moralisch richtig erachtet, wird vielmehr zunächst intuitiv ermittelt. Die Intuition orientiert sich dabei vor allem an Eigen- und teilweise an Gruppeninteressen. Rationales Überlegen stehe dann erst an zweiter Stelle und diene dazu, das intuitiv bereits festgelegte Ergebnis zu rechtfertigen (vgl. Haidt 2012). Kann man vor diesem Hintergrund noch auf den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ vertrauen? Oder ist es ein naiver Gedanke, man könne durch Argumentation zu besserer Einsicht und tragfähigen Entscheidungen gelangen?
Von diesen Fragen hängt einiges ab, wenn wir uns die Bereiche vergegenwärtigen, in denen wir unsere menschliche Existenz mit Gründen verknüpfen – Politik, Recht, Moral, Forschung, Erziehung, Wissenschaft, Wirtschaft etc. Es hat etwas überaus Rätselhaftes, dass der menschlichen Vernunft soviel zugetraut wird, wenn sie gleichzeitig dermaßen fehleranfällig sein soll. In einem einflussreichen Buch haben sich die Evolutionspsychologen Hugo Mercier und Dan Sperber (2017) diesem Rätsel angenommen. Ihre These lautet, dass sich Vernunft als spezifisch menschliche Fähigkeit entwickelte, die es hauptsächlich mit dem Produzieren und Prüfen von Gründen zu tun hat. Vernunft sei also primär eine argumentative Kapazität. Menschen setzen diese dazu ein, ihre komplexen Kooperations- und Kommunikationsprobleme zu lösen. Das erklärt, warum Gründe in so vielen und zentralen Bereichen des sozialen Lebens auftauchen. Gleichzeitig sei Vernunft funktional an diese soziale menschliche Tätigkeit angepasst. Wie sie funktioniert, müsse man deshalb vor dem Hintergrund verstehen, dass sie sich in der sozialen Interaktion von Menschen bewähren muss – und nicht im Elfenbeinturm des für sich alleine räsonierenden Philosophen.
Mercier und Sperber tragen die Ergebnisse einer überaus reichhaltigen Forschung zusammen, die eine Doppelgesichtigkeit der Vernunft entlang der Unterscheidung von Produktion und Prüfen von Gründen nahelegen (2017: 235). Wenn es um das eigene Produzieren von Gründen gehe, neigten Menschen erstens dazu, Gründe zu finden, die ihre eigene Sache stützen (,myside bias‘) und zweitens, seien sie hinsichtlich der Qualität dieser Gründe eher anspruchslos; kurz: sie investieren nicht mehr gedankliche Arbeit als für ihre Sache nötig. Fähigkeiten, die objektive Qualität der Gründe für sich sprechen zu lassen, zeigten sich hingegen, wenn es um das Prüfen von Gründen anderer gehe. Als Empfänger seien Menschen einerseits anspruchsvoll, was die Qualität der vorgebrachten Gründe angehe. Andererseits seien sie jedoch durchaus bereit, selbst Gründe anzuerkennen, die ihrer Ansicht widersprechen, sofern sie diese nach kritischer Prüfung als durchschlagend erachten. Der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ ist gemäß dieser Forschung also nicht ohne empirische Grundlage (vgl. Mercier and Sperber 2017: 264).
Das Doppelgesicht der Vernunft:
|
Tendenz |
Qualitätskontrolle |
Produktion eigener Gründe |
Verzerrend Produktion von Gründen, die die eigene Ansicht stützen |
Anspruchslos Eigene Gründe werden zurückhaltend überprüft |
Prüfen von Gründen anderer |
Objektivierend Starke Argumente werden akzeptiert, selbst wenn sie der eigenen Ansicht widersprechen |
Anspruchsvoll Ansprüche bezüglich der Qualität von Gründen anderer sind entschieden höher |
Wenn Gründe die soziale Funktion haben, das eigene Verhalten vor Anderen zu rechtfertigen bzw. Andere von einer Sache zu überzeugen, dann ist eine Konzentration auf Gründe erwartbar, die die eigene Sache stützen. Nachvollziehbar ist dann auch, dass nicht in jeder Situation alle möglichen Argumente vorgebracht werden, sondern man sich effizienter verhält – wenn die Begründung Ich trinke nicht ausreicht, muss sich das nicht zu einer Grundsatzdiskussion um Alkoholgenuss auswachsen. Auf der anderen Seite kann solche Verzerrung und Sparsamkeit in der Argumentation nur dann funktionieren, wenn Menschen die Gründe von anderen kritisch überprüfen; es wäre sonst viel zu riskant, sich auf Gründe zu verlassen. Eine gewisse Objektivierung dieser Prüfung ist ebenfalls erwartbar: Argumente haben nur dann einen sozialen Sinn, wenn sich gute Argumente prinzipiell auch durchsetzen können – sonst würde man immer gleich zu anderen Mitteln greifen, um eigene Interessen durchzusetzen oder sozial erwünschtes Verhalten zu motivieren.
Aus dieser Forschung ergibt sich allerdings nicht, dass Konsens garantiert und gleichzeitig die Richtigkeit eines Argumentationsergebnisses anzeigen könnte – denn der ,myside bias‘ setzt sich mitunter fort, wenn es um die Produktion von Gegenargumenten geht. Angesichts der erwähnten, weithin bekannten Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft, gilt es jedoch hervorzuheben, dass Argumentation durchaus bessere Einsicht und Entscheide befördern kann. Entscheidend dafür ist jedoch, dass der soziale Charakter und die soziale Dynamik des Argumentierens erkannt werden. „Derjenige, der nur seine eigene Seite der Sache weiß, weiß wenig von dieser“ (Mill 1859: 67). Gute Argumentation lebt vom echten Dialog. Ihr Ur- und Leitbild findet sie nicht in Rodins romantischer Skulptur Der Denker, sondern in Raffaels Renaissance-Fresco Die Schule von Athen.
Beispiele
Als Beispiel dient ein fiktives, doch prototypisches Streitgespräch zum Ukraine-Krieg: Zwei deutsche Freunde (A und B) streiten im März 2022 über die russische Invasion der Ukraine. A hat in den USA studiert und verficht den russischen Angriffskrieg als völkerrechtlich illegal, da er die russische Propaganda für ein Lügengebäude erachtet. Er macht sich für die militärische Unterstützung der Ukraine stark: Es sei moralische Pflicht, einem Angegriffenen zu helfen. B ist überzeugter Pazifist und gibt wenig auf die USA als politisches und kulturelles Vorbild. Sympathien bekundet er hingegen für die russische Sprache, Musik und Literatur. B argumentiert, dass Widerstand zwecklos sei: Russland sehe sich legitimerweise durch die Nato bedroht, nachdem diese ihr Versprechen gebrochen habe, sich keinen Zentimeter nach Osten zu erweitern.
A und B vertreten unterschiedliche Positionen zur Einordnung und Bewertung des Krieges und der Kriegsbeteiligten. Sie bringen Gründe vor, die ihre eigene Position stützen. A argumentiert in rechtlichen und moralischen Kategorien: referenziert das Völkerrecht bzw. behauptet eine Beistandspflicht; B setzt praktisch und politisch an: bezieht sich einerseits auf die militärische Sinnhaftigkeit des Widerstands bzw. andererseits auf ein angebliches Nato-Versprechen. Die argumentative Position innerhalb dieser vier Kategorien ist bei A und B durch ihren je besonderen biographischen Hintergrund und Habitus geprägt. Insgesamt zeichnen sich beide Positionen durch einen durchaus typischen myside bias sowie dadurch aus, dass sie das argumentative Potential beiderseits nicht ausschöpfen, was ebenfalls normal ist. Daraus ergeben sich Lücken und Fehler in der Argumentation, die sich entlang der genannten Kategorien bespielhaft analysieren lassen.
- Illegalität der Invasion: Ein Krieg ist völkerrechtlich nicht illegal, weil er auf einer Propagandalüge beruht, sondern weil keine der in den Art. 42 und 51 der UN-Charta vorgesehenen Ausnahmen vom militärischen Gewaltverbot vorliegen. Anders formuliert, selbst aus einer zutreffenden politischen Beobachtung folgt nicht die rechtliche Beurteilung. Letztere misst sich an rechtlichen Kriterien. A muss sein Argument somit nachjustieren, behält aber in der Sache Recht, da bis heute keine entsprechenden Ausnahmegründe auszumachen sind.
- Moralische Beistandspflicht? Dass Deutschland moralisch verpflichtet sei, der Ukraine militärisch beizustehen, lässt sich als Argument durchaus hören. Man wird jedoch über ein solches Prinzip und seine Reichweite wesentlich eingehender diskutieren müssen. Dass A nicht bereits mit einer solchen eingehenden Begründung in die Diskussion einsteigt, ist durchaus üblich. Die praktisch-tatsächliche Hilfeleistung ist dann nochmals eine andere, insbesondere politische Frage. Sie gilt es in den dafür vorgesehenen staatlichen Institutionen, aber auch zivilgesellschaftlich argumentativ zu erörtern. Insoweit ist auch die Debatte zwischen A und B relevant.
- Widerstand ist zwecklos? Man mag B’s pazifistische Überzeugungen und kulturelle Vorlieben teilen – oder auch nicht. Sie sind jedenfalls keine Prämissen, aus denen sich irgendetwas dazu ableiten ließe, ob Widerstand militärisch praktisch zwecklos sei. Aus einer pazifistischen Grundhaltung heraus könnte man allenfalls behaupten, dass waffenmäßiger Widerstand selbst zur Verteidigung abzulehnen sei. Nur Wenige werden eine solche Extremposition einnehmen wollen. Die Mehrheit wird geltend machen, dass es einem Angegriffenen moralisch zusteht, sich wirksam zu verteidigen – was im Kriegsfall nur militärisch erfolgen kann. Sie wird weiter darauf hinweisen, dass die UN-Charta ein Selbstverteidigungsrecht für den Fall eines bewaffneten Angriffs ausdrücklich vorsieht; militärische Selbstverteidigung ist damit auch rechtlich erlaubt.
- Keinen Zentimeter nach Osten? Am Recht zur Selbstverteidigung ändert auch das von B vorgebrachte Argument, eines angeblichen Versprechens hinsichtlich der Nato-Osterweiterung nichts. Anders als B suggeriert, hat dieses ebenfalls nichts damit zu tun, ob Widerstand militärisch Sinn ergibt. Es handelt sich vielmehr um eine historische These, die der russische Staat zur politischen Rechtfertigung seines Angriffs aufgestellt hat. Auch von dieser politisch-historischen Argumentation ist zu erwarten, dass sie einem myside bias unterliegt und es mit ihrer Richtigkeit nicht so genau nimmt. Eine kritische Überprüfung, ob sich diese These halten lässt, wird von anderer Seite kommen müssen. Das ist auch ohne weiteres möglich: Es handelt sich bei dieser historischen These nicht um eine nicht sinnvoll hinterfragbare Geschmacks- oder Glaubensfrage, sondern um eine Behauptung, die sich quellenmäßig erschließen und überprüfen lässt. Man hat das getan: die These gilt heute als widerlegt (siehe Sarotte 2021).
Was wir hier beispielhaft analysiert und simuliert haben, vollzieht sich idealerweise in einer tatsächlichen argumentativen Auseinandersetzung. Gute Argumentation zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Teilnehmer im Dialog um die Klärung, Verbesserung und Anpassung ihrer Argumente und Thesen kümmern, selbst wenn die Divergenzen zunächst unüberwindbar erscheinen. Für dieses dialogische Ideal spricht auch die empirische Tatsache, dass Argumentierende üblicherweise wesentlich objektiver und kritischer sind, wenn es um die Prüfung von Gründen anderer geht, während die Produktion von eigenen Gründen oft verzerrend und vereinfachend erfolgt. Aus theoretischer Sicht spricht für das Ideal des argumentativen Dialogs (bzw. Diskurses, wie Habermas sagen würde), dass man Problem- und Konfliktlösungen wenn immer möglich über Worte anstrebt. Der argumentative Dialog überführt den Konflikt in einen Kampf um das bessere Argument – und das ist gemessen an der ,handfesten Alternative‘ nicht wenig.
Literatur
Zum Weiterlesen
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Mercier, Hugo, and Dan Sperber (2017): The Enigma of Reason. Cambridge: Harvard University Press.
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Schopenhauer, Arthur (1995): Die Kunst, Recht zu behalten. Frankfurt a. M.: Insel.
Zitierte Literatur und Belege
- Bieri, Peter (2007): Was bleibt von der analytischen Philosophie? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 55, Heft 3, S. 333–344.
- Borchmeyer, Dieter (2022): Thomas Mann: Werk und Zeit. Berlin: Insel.
- Carothers, Thomas; Benjamin Press (2022): Understanding and Responding to Global Democratic Backsliding. Washington: Carnegie Endowment for International Peace.
- Chan, Joseph (2000): Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism. Philosophy & Public Affairs, Jg. 29, Heft 1, S. 5–42.
- Dutilh Novaes, Catarina (2022): Argument and Argumentation. In: Zalte, Edward N.; Nodelman, Uri (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Stanford University: Metaphysics Research Lab.
- Habermas, Jürgen (1973): Wahrheitstheorien. In: Fahrenbach, Helmut (Hrsg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen: Günther Neske, S. 211–265.
- Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Haidt, Jonathan (2012): The Righteous Mind: Why Good People Are Divided by Politics and Religion. New York: Pantheon Books.
- Horkheimer, Max (2011): Traditionelle und kritische Theorie. In: Schmidt, Alfred (Hrsg.): Gesammelte Schriften. Band 4: Schriften 1936–1941. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.
- Kahneman, Daniel (2003): Maps of Bounded Rationality: Psychology for Behavioral Economics. In: American Economic Review, Jg. 93, Heft 5, S. 1449–1475.
- Kant, Immanuel (1957) Kritik der Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Mercier, Hugo; Sperber, Dan (2017): The Enigma of Reason. Cambridge: Harvard University Press.
- Mill, John Stuart (1859): On Liberty. 2. Aufl. London: John W. Parker.
- Nickerson, Raymond S. (1998): Confirmation Bias: A Ubiquitous Phenomenon in Many Guises. Review of General Psychology, Jg. 2, Heft 2, S. 175–220.
- Nickerson, Raymond S. (2020): Argumentation: The Art of Persuasion. Cambridge: Cambridge University Press.
- Perelman, Chaïm; Olbrechts-Tyteca, Lucie (1958): Traité de l’argumentation: La nouvelle rhétorique. Paris: Presses Universitaires de France.
- Raz, Joseph (2022): The Roots of Normativity. Heuer, Ulrike (Hrsg.). Oxford: Oxford University Press.
- Sarotte, Mary Elise (2021): Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate. New Haven: Yale University Press.
- Stekeler, Pirmin (2020): Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar. Bd. 1. Hamburg: Meiner.
- Toulmin, Stephen (1958): The Uses of Argument. Cambridge: Cambridge University Press.
- Uhlmann, Gyburg (2019): Rhetorik und Wahrheit: Ein prekäres Verhältnis von Sokrates bis Trump. Stuttgart: J.B. Metzler.
- Van Eemeren, Frans H.; Garssen, Bart; Krabbe, Erik C. W.; Henkemans, A. Francisca Snoeck; Verheij, Bart; Wagemans, Jean H. M. (2014): Handbook of Argumentation Theory. Dordrecht: Springer Netherlands.
Zitiervorschlag
Coendet, Thomas (2024): Argumentation. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 20.11.2024. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/argumentation.
Grundbegriffe
Kontextualisieren
Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.
Narrativ
Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Diskurskompetenz
Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.
Agenda Setting
Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.
Medien
Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.
Macht
Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.
Metapher
In der politischen Berichterstattung ist oft davon die Rede, dass eine bestimmte Partei einen Gesetzesentwurf blockiert. Weil das Wort in diesem Zusammenhang so konventionell ist, kann man leicht übersehen, dass es sich dabei um eine Metapher handelt.
Normalismus
Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.
Wissen
Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.
Techniken
Kontaktschuld-Topos
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Schlagbilder
Der Terminus Schlagbild bezeichnet mehr oder weniger inszenierte Bilder. Ihre Bedeutung beruht nicht nur auf ihren sichtbaren (ikonischen) Formen, sondern vielmehr auf den symbolischen Inhalten, die sich durch vielfache mediale Wiederholung und Konventionen gefestigt haben.
Invektivität / Metainvektivität
Invektivität ist ein Überbegriff für den Phänomenbereich der Herabsetzung und Ausschließung mittels symbolischer Praktiken. In Invektiven (z.B. Spott, Beleidigung, sprachliche Aggression, Diskriminierung, Hassrede) werden Einzelnen oder Gruppen marginalisierte oder niedrige soziale Positionen zugeschrieben, Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften abgesprochen oder Identitäten negiert.
Parole
Die Parole ist ein kleines, potentes sprachliches Werkzeug, das in der politischen Kommunikation unerlässlich ist und zweckgebunden in politischen Mobilisierungen eingesetzt wird.
Komposita
. In der politischen Rhetorik tragen Komposita zur Prägnanz und Emotionalität von Botschaften bei, indem sie komplexe Sachverhalte und politische Themen in zentralen Begriffen bündeln, in griffige Schlagworte packen und diese für den gesellschaftlichen Diskurs zur Verfügung stellen (zum Beispiel Krisenmodus, Zeitenwende oder Rückführungspatenschaften).
Nicht-Entschuldigen / Nonpology
Mit der Nicht-Entschuldigung verfolgen Diskursakteure verschiedene Ziele: sie wollen Ablenken von der eigenen Schuld, erhoffen sich eine Reputationsverbesserung durch vorgespielte Reue oder wollen (andere) negative Konsequenzen abwenden und sich in der Öffentlichkeit positiv als fehlereinsichtig und selbstkritisch darstellen.
Liken
Die eigentliche Funktion des Likens geht jedoch über das Signalisieren von Zustimmung hinaus und ist konstitutiv für das Funktionieren sozialer Medienplattformen und das Aushandeln von verschiedenen Formen der Sozialität auf diesen.
Hashtag
Mit dem Begriff Hashtag wird auf eine kommunikative Technik der spontanen Verschlagwortung und Inde-xierung von Postings in der Internetkommunikation verwiesen, bei der Sprache und Medientechnik sinnstif-tend zusammenwirken. Der Gebrauch von Hashtags hat eine diskursbündelnde Funktion: Er ermöglicht es, Inhalte zu kategorisieren (#Linguistik, #Bundestag), such- und auffindbar zu machen (#Bundestags-wahl2025), aber auch zu bewerten (#nicetohave) und zu kontextualisieren (#Niewiederistjetzt).
Diminutiv
Auch in Politik, Wirtschaft, Presse und Werbung werden Diminutiv-Formen zu rhetorischen Zwecken eingesetzt, um etwa emotionale Nähe zu konstruieren (unser Ländle), eine Person abzuwerten (die ist auch so ein Schätzchen), einen als ‚riskant‘ geltenden Sachverhalt zu ‚verharmlosen‘ (ein Bierchen) oder eine ‚Sachverhaltsbanalisierung‘ zurückzuweisen (Ihre ‚Demonstratiönchen‘).
Sündenbock
Der Sündenbock bezeichnet eine Person oder Gruppe, die stellvertretend für etwas beschuldigt wird. Hinter dieser Schuldzuweisung steckt ein kommunikativer Mechanismus des Gruppenzusammenhalts, der sich in verschiedenen kulturellen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten durch Rituale, Mythen, Erzählungen oder Verhalten manifestiert.
Schlagwörter
Bürokratie
Bürokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender Ausdrücke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen Bürokratisierung, Bürokratismus und Komposita, als wichtigstes Bürokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.
Politisch korrekt / Politische Korrektheit
Der Ausdruck politisch korrekt / Politische Korrektheit und die amerikanischen Vorbilder politically correct /P.C. / Political Correctness (Gegenteile, etwa politisch unkorrekt etc., sind mitzudenken) repräsentieren ein seit den frühen Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts populäres Deutungsmuster, mit dem weltanschauliche, ästhetische und politische Konflikte berichtet/bewertet werden, meist zuungunsten der als politisch korrekt bezeichneten Positionen, denen man eine überzogene, sowohl lächerliche als auch gefährliche Moralisierung unterstellt.
Kipppunkt
Als öffentliches Schlagwort ist Kipppunkt Teil eines Argumentationsmusters: es behauptet ein ‚Herannahen und baldiges Überschreiten einer unumkehrbaren Sachverhaltsänderung, die fatale bzw. dystopische Folgeschäden auslöst, wenn nicht umgehend bestimmte Maßnahmen eingeleitet oder unterlassen werden.‘
Verfassung
Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.
Toxizität / das Toxische
Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.
Zivilgesellschaft
Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.
Demokratie
Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.
Plagiat/Plagiarismus
Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.
Fake News
Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.
Lügenpresse
Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.
Verschiebungen
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.