
DiskursGlossar
Kulturmarxismus
Kategorie: Schlagwörter
Verwandte Ausdrücke: Kulturbolschewismus, Woke(-ness)
Siehe auch: Woke, Politische Korrektheit, Dog Whistle, Verschwörungstheorie
Autorin: Isabel Pinkowski
Version: 1.0 / Datum: 14.07.2025
Kurzzusammenfassung
Der Begriff Kulturmarxismus (engl. Cultural Marxism) wird insbesondere von Vertreter*innen der sogenannten ‚Neuen Rechten‘ und anderen rechtsalternativen Gruppen im medialen sowie politischen Diskurs als Kampfbegriff mit verschwörungsmythischen, antisemitischen, antikommunistischen sowie antifeministischen Implikationen verwendet.
Das Verschwörungs-Narrativ um den Kulturmarxismus lässt sich wie folgt zusammenfassen: Westliche Gesellschaften erscheinen als Zielscheibe einer vermeintlichen ideologischen Unterwanderung durch ‚linke Kulturkämpfe(r)‘, welche vermeintlich im 20. Jahrhundert von einer Gruppe jüdischer Marxisten, nämlich der Frankfurter Schule und ihrer Kritischen Theorie, anvisiert und in Gang gesetzt worden sei. An die Stelle des im Marxismus vorgesehenen, ökonomisch begründeten Klassenkampfes sei ein subversiver Kulturkampf getreten, der auf eine schleichende Übernahme der westlichen Kultur abziele. Um im Zuge dessen ‚traditionelle westliche Werte‘ zu überwinden, bediene sich eine ‚kulturelle Elite‘ konkreter Strategien, darunter Sozialreformen und die Vereinnahmung kultureller Institutionen durch Politische Korrektheit, Cancel Culture, Identitätspolitik und Woke-ness. Parallelen lassen sich zu dem im Nationalsozialismus verwendeten negativ-wertenden Begriff des Kulturbolschewismus ziehen, der linke und im Allgemeinen unliebsame Wissenschaft sowie Kunst- und Kulturschaffende als kulturzersetzend oder entartet diskreditierte. Der Sammelbegriff Kulturmarxismus kann als Dog Whistle verstanden werden; durch seine Mehrdeutigkeit bleibt eine mögliche Verwobenheit bzw. Anschlussfähigkeit an andere Verschwörungsnarrative wie dem ‚Gender-Mainstreaming‘ oder dem ‚Großen Austausch‘ (engl. ‚Great Replacement‘) erhalten. Vereinzelt wird der Begriff in feministischen Diskursen bewusst positiv umgedeutet und affirmativ als Selbstbezeichnung genutzt.
Erweiterte Begriffsklärung
Der Ausdruck Kulturmarxismus wird im medialen und politischen Diskurs vorrangig von rechtsalternativen bzw. rechtspopulistischen Akteuren verwendet. In diesem Kontext insinuiert er einen von links geführten Kulturkampf, welcher das Ziel habe, die ‚abendländische‘ Kultur sukzessive zu unterwandern und zu zerstören. Dies, so die Verschwörungserzählung, gehe auf die Initiative der Frankfurter Schule zurück, welcher unter anderen Max Horkheimer, Theodor Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm und Leo Löwenthal angehörten. Benannt nach dem ursprünglichen Institut für Sozialforschung in Frankfurt, wirkte die (hier relevante erste Generation der) Frankfurter Schule in Deutschland, in der Schweiz und im Exil in den USA (vgl. Jamin 2018: 4). Die Frankfurter Schule wird im akademischen Diskurs auch unter dem Begriff der Kritischen Theorie gefasst. In Anlehnung an Marx analysierte sie die ideologischen und kulturellen Bedingungen, durch die gesellschaftliche Herrschaft, insbesondere im Kapitalismus, stabilisiert und reproduziert wird.
Die beiden Worteinheiten des Kompositums Kulturmarxismus sind bedeutungsoffen und prinzipiell neutral verwendbar. Das Bestimmungswort Kultur kann sich je nach Kontext auf anthropologische, normative oder andere gesellschaftliche Aspekte beziehen. Das Grundwort Marxismus verweist zwar im akademischen Diskurs neutral auf mannigfaltige, an Karl Marx‘ Schriften anschließende (wirtschafts-)philosophische Strömungen, wird jedoch häufig außerakademisch verwendet. In konservativen Diskursen, besonders in den USA, wird Marxismus mit Sozialismus assoziiert, welcher negativ konnotiert ist (vgl. Steffens 2019).
Der dem Begriff Kulturmarxismus innewohnende, scheinbar akademische Duktus täuscht Legitimität vor und fügt disparate und fiktive Fragmente zu einem pseudowissenschaftlichen Rahmen zusammen. Verschwörungsmythische Implikationen des Begriffs sind ohne Vorwissen nicht unmittelbar ersichtlich, weshalb sich dieser als Dog Whistle eignet. Kulturmarxismus oder Kulturmarxisten als Bezeichnung für die Kritische Theorie oder andere kulturwissenschaftliche Denkschulen zu verwenden, ist im wissenschaftlichen Fachdiskurs unüblich (wenngleich vereinzelt vorkommend, etwa bei Jamin 2018); eine solche akademische Fachrichtung existiert de facto nicht (vgl. Braune 2019).
Die verschwörungsmythische Deutung des Begriffs wurde im US-amerikanischen Kontext der 1990er Jahre in den Nachklängen des Kalten Krieges geprägt. Zur ideologischen Untermauerung antikommunistischer Positionen lancierten insbesondere Vertreter des US-amerikanischen ‚Paläokonservatismus‘ wie William S. Lind und Pat Buchanan den Kampfbegriff (vgl. z. B. Tuters 2018, Kemper 2023). Undifferenziert verband Lind die Frankfurter Schule mit den marxistischen Theoretikern Antonio Gramsci (1891-1937) und Georg Lukács (1885-1971). Lukács war der Frankfurter Schule bekannt, wurde jedoch kontrovers rezipiert (vgl. Dannemann 2017). Gramscis Schriften gewannen erst in den 1960er Jahren an Bedeutung. Obwohl diese Schriften eine konzeptionelle Nähe zur Kritischen Theorie aufweisen (siehe hierzu Kastner 2019), ist nicht belegt, dass sie von der Frankfurter Schule rezipiert oder gar aufgegriffen wurden (vgl. Kemper 2024). Indem er sie mit Gramscis Theorie der kulturellen Hegemonie verknüpft, leitet Lind ein konkretes Ziel der Frankfurter Schule ab: die Zersetzung der westlichen Tradition sowie des christlichen Glaubens, um im Zuge eines ‚Kulturkampfes‘ insbesondere durch die Popkultur eine kommunistische bzw. sozialistische Ordnung zu schaffen (vgl. Jamin 2018: 5). Im Einklang mit diesem Verschwörungsnarrativ formuliert Pat Buchanan: “The Frankfurt School packed its ideology and fled to America […] they set up their new Frankfurt School in New York City and redirected their talents and energies to undermining the culture of the country that had given them refuge” (2002: 78–80). Die tatsächlichen Absichten der Frankfurter Schule werden damit verdreht und ihr Einfluss maßlos überschätzt (vgl. Tuters 2018: 32). Da diese vermeintliche kulturelle Zersetzung einer Gruppe jüdischer Intellektueller zugeschrieben wird, stellt der Kulturmarxismus ein antisemitisches Narrativ dar (vgl. Kemper 2024). Zudem lässt sich eine begriffliche Nähe zum Kulturbolschewismus belegen (siehe Beispiele bzw. vgl. u. a. Tuters 2018: 32 oder Schwarz 2022: 255), einem antikommunistischen und antisemitischen Kampfbegriff, welcher während der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus verwendet wurde, um linksgewandte und progressive Wissenschaft sowie Kunst- und Kulturschaffende als kulturzersetzend bzw. entartet zu diffamieren (vgl. Hoor 2015).
In den 2010er Jahren gewann das Schlagwort des Kulturmarxismus durch die Genese der US-amerikanischen ‚Alt-Right‘ an Bedeutung (vgl. Tuters 2018) und wird dort im medialen Diskurs prominent von Jordan Peterson verwendet (siehe hierzu Schwarz 2022: 356). Bis heute machen sich Vertreter*innen der sogenannten ‚Neuen Rechten‘ das Narrativ zu eigen; im deutschsprachigen politischen Diskurs auch AfD-Politiker*innen (vgl. Kemper 2024 oder siehe Beispiele). Ihrem historischen Ursprung zum Trotz findet die auf Gramsci zurückgehende Idee der gesellschaftlichen Einflussnahme durch eine Kulturrevolution bei rechtsalternativen Gruppierungen bemerkenswerte Resonanz: Aktiv strebt etwa die Identitäre Bewegung kulturelle Hegemonie durch eine ‚Kulturrevolution‘ an (vgl. de Benoist 2015). Dieses Bestreben lässt sich im weiteren Sinne dem ‚neurechten‘ Prinzip der Metapolitik zuordnen, welches – wenngleich der Begriff von Antonio Gramsci selbst nicht verwendet wurde – wesentlich aus dessen hegemonietheoretischen Überlegungen hervorgegangen ist (vgl. MOBIT 2018).
Das vermeintliche Ziel des sogenannten Kulturmarxismus bestehe darin, traditionelle Familien- und Geschlechterbilder zu überwinden und eine radikale Umgestaltung sexueller Normen voranzutreiben, um die Gesellschaft zu destabilisieren. Vor diesem Hintergrund wird eine faktisch unbelegte Übereinstimmung zwischen den Zielen und Motiven der Frankfurter Schule und der 68er-Bewegung konstruiert (vgl. Rath 2018). Innerhalb des Verschwörungsnarrativs gilt letztere daher als vermeintlicher Höhepunkt des Kulturmarxismus (vgl. Tuters 2018: 31), obwohl prominente Mitglieder der Frankfurter Schule der 68er-Bewegung kritisch gegenüberstanden. Konkret bezwecke der kulturmarxistische ‚linke Kulturkampf‘ eine Verschiebung des klassischen Proletariats hin zu Frauen, LGBTQIA+, ethnischen Minderheiten bzw. Migrant*innen (sowie unter Umständen Umweltschützer*innen). Diesen solle mit Hilfe von Identitätspolitik, Politischer Korrektheit, Multikulturalismus oder Woke-ness eine dominierende Stellung verschafft werden (vgl. Jellonnek/Reinesch 2018: 18), wobei insbesondere der Popkultur eine zentrale Rolle zukomme. Es handelt sich damit um ein antifeministisches Narrativ. Je nach Kontext wird an andere Verschwörungsnarrative angeknüpft und eine geburtenpolitische Strategie vermutet, um im Zuge eines ‚großen Austauschs‘ gezielt Einfluss auf die Bevölkerungsstruktur zu nehmen (vgl. Kemper 2023).
Im Jahre 2011 berief sich der norwegische Massenmörder Anders Breivik zur Rechtfertigung seiner Tat auf das Verschwörungsnarrativ des Kulturmarxismus (vgl. Jamin 2018: 8). Er sah diesen als in westlichen Gesellschaften allgegenwärtig und von den europäischen politischen, kulturellen und medialen Eliten erfolgreich etabliert an. Dabei handelt es sich um eine De-Realisierung (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 209): Eine derart agierende ‚kulturelle Elite‘, die ‚politische Korrektheit‘ durchsetze, existiert nicht. Institutionen, denen am ehesten eine entsprechende Position zukäme, sind kaum elitär, sondern im Gegenteil oft wirtschaftlich marginalisiert und im medialen Diskurs umstritten – hierunter fallen etwa Gleichstellungsbeauftragte oder Antidiskriminierungsstellen (vgl. Jellonnek/Reinesch 2018: 19). Durch seine interpretative Offenheit in Bezug auf Feindbilder ermöglicht das Kulturmarxismus-Narrativ, sich gegen eine Vielfalt freiheitlich-progressiver Grundpfeiler wie Feminismus, Religionsfreiheit oder gesellschaftliche Vielfalt zu stellen. Welche konkrete strategische Funktion und Ausprägung das Narrativ in deutschsprachigen rechtsalternativen bzw. neurechten Diskursen einnimmt, ist bislang weitgehend unerforscht – insbesondere im Hinblick auf seine Rolle als ideologischer Rahmen, als Mittel zur Legitimation oder als Mobilisierungsstrategie.
Beispiele
(1) Kulturmarxismus und Kulturbolschewismus – Ideologisch geprägte Schlagwörter im politischen Diskurs
Der Begriff Kulturmarxismus erlangte 2011 im europäischen Raum durch einen rechtsextremen Amokläufer traurige Bekanntheit (siehe hierzu auch die untenstehende DWDS-Verlaufskurve für Kulturmarxismus und Kulturbolschewismus), welcher in Oslo sowie Utøya 77 Personen ermordete (vgl. Jamin 2018: 8). In einem Manifest begründete der Täter seine Morde mit dem Kulturmarxismus. Sein persönliches Verständnis des Begriffs legte er umfangreich dar (hier gekürzt):
(a) Cultural Marxism/multiculturalism: term describing the current Western European/US political/moral systems based on “political correctness” […]. The ML ideology or political platform (Maoist-Leninism) ML which is also a European hate ideology, was later refined “toned down” and disguised and incorporated into politically correct movements such as; feminism, pro-drugs, pro-sexual revolusion, anti-racism, anti-fascism, anti-Christendom, anti-capitalism, gay and disability rights movements, environmentalism etc. (see chapters explaining the Frankfurt School). […] The purpose of cultural Marxism is to destroy or deconstruct Western Civilisation (where the Christian European patriarchy has dominated historically) and instead create the USASSR/EUSSR, a communist utopia based on Marxist-Leninist principles. In order to achieve this they must destroy traditional European social cohesion in society which is the basis for traditional European nation states. They are therefore focused on the gradual deconstruction of European cultures, identities and the traditional structures (nuclear family, traditional morality and patriarchal structures) which has dominated humanity for the last 300 000 years. They understood early that political indoctrination would not be enough. They must destroy the very fabric of Europeanism so they (together with humanists and capitalist globalists) pushed for mass-third world immigraton. […] (Anders Breivik, 2011, im anhängenden Glossar seines Manifests)
Mit dem Kulturmarxismus, so die de-realisierende Behauptung, herrsche in den westlichen Gesellschaften eine ‚Ideologie des Hasses‘. Hinter ‚politischer Korrektheit‘ und ihren progressiven Bestrebungen wie z. B. ‚Feminismus‘, ‚Antirassismus‘, ‚Antifaschismus‘ wie auch ‚Drogenbefürwortung‘, tarne sich eine ‚ML-Ideologie‘ (so die undifferenzierende Abkürzung Breiviks für ‚maoist-leninist‘ sowie ‚marxist-leninist‘). Als positiv-besetzter Gegenbegriff fällt das von Breivik in (a) viermal verwendete Adjektiv traditionell auf. Ziel der kulturmarxistischen Agenda sei im ersten Schritt die Untergrabung der europäischen Kultur und Identität, u. a. durch die Auflösung des ‚traditionellen‘ Familienbildes. Im zweiten Schritt solle die Zerstörung der westlichen Zivilisation und die Verwirklichung einer kommunistischen Utopie durch eine massive Einwanderung aus Drittstaaten erreicht werden (dies stellt den Anschluss an das Verschwörungsnarrativ vom ‚Großen Austausch‘ dar). Die Akteure, bezeichnet mit they, bleiben weitgehend unterspezifiziert: In (a) wird die antisemitische Chiffre ‚kapitalistische Globalisten‘ (vgl. Schwarz-Friesel 2022: 75) genannt (an anderer Stelle im Glossar wird ein ‚Zusammenschluss politischer, kultureller und medialer Eliten‘ verantwortlich gemacht).
Hier zeigen sich Parallelen zum im Nationalsozialismus gebräuchlichen Begriff des Kulturbolschewismus, der z. B. in einem Ausstellungsführer zur Ausstellung Entartete Kunst thematisiert wird (hier als Kunstbolschewismus):
(b) Sie [Anmerkung der Verfasserin: die Ausstellung] will die gemeinsame Wurzel der politischen Anarchie und der kulturellen Anarchie aufzeigen, die Kunstentartung als Kunstbolschewismus im ganzen Sinn des Wortes entlarven. Sie will die weltanschaulichen, politischen, rassischen und moralischen Ziele und Absichten klarlegen, welche von den treibenden Kräften der Zersetzung verfolgt wurden. Sie will auch zeigen, in welchem Ausmaß diese Entartungserscheinungen von den bewußt treibenden Kräften übergriffen auf mehr oder weniger unbefangene Nachbeter, die trotz einer früher schon und manchmal später wieder bewiesenen formalen Begabung gewissen-, charakter- oder instinktlos genug waren, den allgemeinen Juden- und Bolschewistenrummel mitzumachen. Sie will gerade damit aber auch zeigen, wie gefährlich eine von ein paar jüdischen und politisch eindeutig bolschewistischen Wortführern gelenkte Entwicklung war, wenn sie auch solche Menschen kulturpolitisch in den Dienst der bolschewistischen Anarchiepläne stellen konnte, die ein parteipolitisches Bekenntnis zum Bolschewismus vielleicht weit von sich gewiesen hätten. (Führer durch die Ausstellung „Entartete Kunst“, 1937, Kursivierung im Original, vgl. GHDI)
Inhaltlich gemein ist (a) und (b) das Zersetzungsnarrativ: Im Kern steht die Annahme, dass die Feindgruppe der Juden (bei den Nationalsozialisten explizit als ‚ein paar jüdische und bolschewistische Wortführer‘, bei Breivik implizit als Chiffre ‚Frankfurter Schule‘/‚kapitalistische Globalisten‘) Kultur und Gesellschaft gezielt indoktriniere bzw. unterwandere und in Form kommunistischer Verhältnisse einen moralischen Werteverfall herbeiführe. Während Breivik diese Zerstörung als allmählichen Abbau traditioneller Strukturen in den Fokus rückt, drückt sich in (b) eher eine Krankheitsmetaphorik aus, die Ansteckungsgefahr birgt (‚von den bewusst treibenden Kräften übergriffen‘), Symptome zeigt (‚Entartungserscheinungen‘) und vor der ‚Unbefangene‘ nicht gefeit seien, weshalb die Ausstellung Entartete Kunst diese Gefahren aufzeigen müsse. Obgleich von Breivik in (a) nicht spezifiziert, ist die Rolle der (Pop-)Kultur hervorzuheben, die als Propagandainstrument des Kulturbolschewismus sowie des Kulturmarxismus ausgemacht wird. Beide Zitate stellen die Gefahr eines fremdgesteuerten und damit unkontrollierbaren Werteverfalls dar, der anarchisch und triebhaft assoziiert ist. Wie bei Verschwörungsnarrativen üblich, handele es sich um eine relativ kleine, aber mächtige Gruppe, die die Vielen instrumentalisiere und ausspiele, um ein niederträchtiges Ziel durchzusetzen. Die konzeptuelle Nähe der beiden Begriffe zeigt sich ebenso, wenn „Höcke und sein Flügel mitunter die neurechte Verbrämung dieser strukturell antisemitischen Vorstellungen vergisst“ und statt von Kulturmarxismus „offen von ‚Kulturbolschewismus‘ spricht“ (Quent 2021: 287), geschehen etwa in einem Bericht der Thüringer AfD-Landtagsfraktion (vgl. Quent 2021: 288). Grundsätzlich bedient sich Björn Höcke Formulierungen und Konzepten, die in den obigen Zitaten auffallen, etwa Entartung, Degeneration oder Verfall (vgl. Kemper 2016).
Ebenfalls reproduzierte die AfD-Spitzenpolitikerin Alice Weidel das Verschwörungsnarrativ Kulturmarxismus. 2018 erschien in der Jungen Freiheit ein Artikel mit dem Titel:
(c) Die Angst der Kulturmarxisten vor der Aufklärung und der AfD
(Alice Weidel für die Junge Freiheit, 23. Januar 2018, vgl. Weidel 2018)
Auffallend ist die Kontrastierung zwischen der feindlichen Gruppe von ‚Kulturmarxisten‘ auf der einen und der AfD sowie der Aufklärung auf der anderen Seite. Im Verlauf des Artikels führt Weidel den Kulturmarxismus ebenfalls auf die Frankfurter Schule und die 68er-Bewegung zurück und nimmt insbesondere auf antifeministische Implikationen Bezug: Die Diskreditierung der ‚bürgerlichen‘ Familie, Früh- und Hypersexualisierung, Genderismus und Multikulturalismus sind die Früchte dieses Kulturmarxismus. Erneut wird der Begriff Kulturmarxismus mit Triebhaftigkeit assoziiert, emotional aufgeladen und mit Rationalität und traditioneller Ordnung in Gegensatz gestellt.

Abb. 1: DWDS-Verlaufskurve aus dem DWDS-Zeitungskorpus für Kulturmarxismus und Kulturbolschewismus vom 16.05.2025 in DWDS 2025.
(2) Verschwörungsnarrativ und Stigmawort – Kulturmarxismus im medialen Diskurs
Die verschwörungsmythische Annahme einer übermächtigen Gruppe von Kulturmarxisten wird auch im medialen Diskurs aufgegriffen. Der folgende Beleg stammt aus einem Interview der Wirtschaftswoche:
(d) Das Bürgertum ist durch die Diskurshoheit der Kulturmarxisten eingeschüchtert, ideell entkernt und materiell sediert. Seine wichtigsten Institutionen, die Religion, die Kirche, die Familien, sind geschwächt oder haben sich dem neomarxistischen Zeitgeist angepasst. Der Kulturmarxismus hat das bürgerliche Bollwerk geschliffen. […] (Wirtschaftswissenschaftler Antony Mueller im Interview mit der Wirtschaftswoche, November 2019, Fischer 2019)
Erneut wird sich eines Zersetzungsnarrativs bedient, demnach die ‚Kulturmarxisten‘ als hegemonial-mächtige Gruppe über ‚Diskurshoheit‘ verfügten, das Bürgertum ‚einschüchtere‘, ‚ideell entkerne‘ und ‚materiell sediere‘. Es wird eine dichotome Ordnung zwischen dem positiv besetzten ‚Bürgertum‘ und den ‚Kulturmarxisten‘ suggeriert, wobei sowohl Feindbild (‚Kulturmarxisten‘) als auch Selbstbild (‚das Bürgertum‘) unspezifiziert bleibt.
Grundsätzlich eignet sich der Ausdruck als Stigmawort zur Herabsetzung unliebsamer, insbesondere links-progressiver politischer Bestrebungen. Mit dem Ziel, die Bürgerinitiative Omas gegen Rechts zu diskreditieren, titelte beispielsweise das neurechte Onlineformat „eigentümlich frei“:
(e) Omas gegen Rechts – Kulturmarxistische Schein-Großmütter
(Werner 2024)
Durch das Adjektiv kulturmarxistisch wird in diesem Kontext implizit ausgedrückt, dass das Engagement der Gruppe nicht dem antifaschistischen Widerstand gegen Rechtsextremismus diene, sondern als Fassade für einen verdeckten, ideologisch gesteuerten Kulturkampf. Die polemische Referenz Schein-Großmütter legt nahe, dass es sich nicht tatsächlich um Omas handele, die Selbstbezeichnung der Gruppe also grundsätzlich irreführend sei.
Im folgenden Beleg, erschienen auf der Plattform „X“, spiegelt sich die bereits in Weidels Formulierung deutlich werdende, zugeschriebene Triebhaftigkeit von ‚Kulturmarxisten‘ wider (als ‚beinahe […] zwanghaftes Propagieren der Promiskuität‘):
(f) Ein Kennzeichen des Kulturmarxismus ist das beinahe schon zwanghafte Propagieren der Promiskuität auch durch sogenannte konservative Medien. Die Glaubenssätze der sexuellen Revolution haben sich nicht nur tief in die Köpfe der „Medienschaffenden“ eingegraben, derartige Meinungsmache wird vielfach auch finanziell gefördert. […] (Benjamin Kaiser, Autor des Buchs „Kulturmarxismus. Eine Idee vergiftet die Welt“, auf X im Februar 2025)
Promiskuität erscheint hier als diffamierende Bezeichnung für sexuelle Selbstbestimmung. Das Schlagwort Kulturmarxismus eignet sich zur Diskreditierung feministischer Anliegen und kann daher als grundsätzlich antifeministisches Narrativ verstanden werden (vgl. Kemper 2024: 8).
Literatur
Zum Weiterlesen
- Kemper, Andreas (2023): Kulturmarxismus. In: Diskursatlas Antifeminismus. Online unter: http://www.diskursatlas.de/index.php?title=Kulturmarxismus&oldid=3238 ; Zugriff: 23.06.2025.
- Laser, Björn (2010): Kulturbolschewismus! Zur Diskurssemantik der ‚totalen Krise‘ 1929–1933. Berlin: Peter Lang.
Zitierte Literatur und Belege
- de Benoist, Alain (2015): On the Brink of the Abyss: the Imminent Bankruptcy of the Financial System. London: Arktos.
- Braune, Joan (2019): Who’s afraid of the Frankfurt School? ‘Cultural Marxism’as an antisemitic conspiracy theory. In: Journal of Social Justice, Jg. 9, Heft 1, S. 1–25.
- Buchanan, Pat (2002): The death of the west: How dying populations and immigrant invasions imperil our country and civilization. New York: St. Martin’s Press.
- Dannemann, Rüdiger im Interview mit Heinz, Frederick R. (2017): „Ein verstärktes Interesse“. Artikel. Jungle World. Online unter: https://jungle.world/artikel/2017/09/ein-verstaerktes-interesse ; Zugriff: 23.06.2025.
- GHDI – German History in Documents and Images (o. J.) [Original: 1937]: Guide to the “Degenerate Art” Exhibition. Online unter: https://ghdi.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=1578 ; Zugriff: 17.09.2025.
- Hoor, Christina (2015): Die Reichskulturkammer. Website. Deutsches Historisches Museum. Online unter: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/kunst-und-kultur/reichskulturkammer ; Zugriff: 23.06.2025.
- Jamin, Jérôme (2018): Cultural Marxism: A survey. In: Religion Compass, Jg. 12, Heft 1–2.
- Jellonnek, Fabian; Reinesch, Pit (2018): Dekonstrukt Impulse 4. Hetzen und Jammern. Eine Analyse medialer Inhalte, Strategien und Kanäle der Neuen Rechten. Online unter: https://www.lks-bayern.de/fileadmin/user_upload/user_upload/bildungsangebot/fachliteratur/dekonstruktexpertise04hetzen_und_jammern_vielfalt_mediathek.pdf ; Zugriff: 23.06.2025.
- Kaiser, Benjamin (2025): Post auf X im Februar 2025. Online unter: https://x.com/KaiserBenKaiser/status/1889621313683132524 ; Zugriff: 17.09.2025.
- Kastner, Jens (2019): Die relative Eigengesetzlichkeit der Kultur: Die Kritische Theorie und Antonio Gramsci. In: Bittlingmayer, Uwe H.; Demirović, Alex; Freytag, Tatjana (Hrsg.): Handbuch Kritische Theorie. Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 539–558.
- Kemper, Andreas (2016): Zur NS-Rhetorik des AfD-Politikers Björn Höcke. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. In: DISS-Journal, Jg. 2016, Heft 32. Online unter: https://www.diss-duisburg.de/2016/11/zur-ns-rhetorik-des-afd-politikers-bjoern-hoecke/ ; Zugriff: 23.06.2025.
- Kemper, Andreas (2023): Kulturmarxismus. In: Diskursatlas Antifeminismus. Online unter: http://www.diskursatlas.de/index.php?title=Kulturmarxismus&oldid=3238 ;. Zugriff: 23.06.2025.
- Kemper, Andreas (2024): Antifeministische Narrative. Ein Diskursatlas. Publikation des Gunda-Werner-Instituts in der Heinrich-Böll-Stiftung. Online unter: https://www.gwi-boell.de/sites/default/files/importedFiles/2024/05/16/abds_e_paper_diskursatlas_web_final_final.pdf ; Zugriff: 23.06.2025.
- Lind, William (2000): The origins of political correctness. Website. Accuracy in Academia. Online unter: http://www.academia.org/the‐origins‐of‐political‐correctness/ ; Zugriff: 23.06.2025.
- Mobile Beratung in Thüringen (MOBIT) (2019): „Ein Prozent“ – Eine extrem rechte Organisation im Kampf um „kulturelle Hegemonie“. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena. Online unter: https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/PDFS_WsD3/Text_Mobit.pdf ; Zugriff: 23.06.2025.
- Fischer, Malte (2019): „Marx hätte seine helle Freude an den heutigen Verhältnissen“. Interview mit Anthony Mueller. Online unter: https://www.wiwo.de/politik/deutschland/kulturmarxismus-marx-haette-seine-helle-freude-an-den-heutigen-verhaeltnissen/25205796.html ; Zugriff: 17.09.2025.
- Quent, Matthias (2021): Ambivalenzen und Rechtsradikalismus. In: Groß, Bernhard; Krieger, Verena; Lüthy, Michael; Meyer-Fraatz, Andrea (Hrsg.): Ambige Verhältnisse: Uneindeutigkeit in Kunst, Politik und Alltag. Bielefeld: transcript, S. 277–292.
- Rath, Norbert (2018): Horkheimers und Adornos Stellung zur Protestbewegung von 1968. In: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft. Online unter: https://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Rath_Horkheimer_Adorno_zu_1968.pdf ; Zugriff: 23.06.2025.
- Steffens, Frauke (2019): Unamerikanische Werte? Der Sozialismus als Schreckensbild. Artikel. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/usa-und-das-vermeintliche-schreckensbild-des-sozialismus-16030446.html ; Zugriff: 23.06.2025.
- Schwarz, Eva-Lotte (2022): YouTube als Plattform: Jordan B. Peterson. In: Meiering, David (Hrsg.): Schlüsseltexte der ‚Neuen Rechten‘: Kritische Analysen antidemokratischen Denkens. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 349–358.
- Schwarz-Friesel, Monika; Reinharz, Jehuda (2013): Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter.
- Schwarz-Friesel, Monika (2022): Toxische Sprache und geistige Gewalt. Tübingen: Narr.
- Tuters, Marc (2018): Cultural Marxism. Krisis. In: Journal for contemporary philosophy, Jg. 38, Heft 2, S. 32–34. Online unter: https://krisis.eu/cultural-marxism/ ; Zugriff: 23.06.2025.
- Weidel, Alice (2018): Die Angst der Kulturmarxisten vor der Aufklärung und der AfD. Kommentar in Junge Freiheit. Online unter: https://jungefreiheit.de/debatte/kommentar/2018/die-angst-der-kulturmarxisten-vor-der-aufklaerung-und-der-afd/ ; Zugriff: 17.09.2025.
- Werner, Michael (2024): Kulturmarxistische Scheingroßmütter. In eigentümlich frei vom Oktober 2024. Online unter: https://ef-magazin.de/2024/10/17/21326-omas-gegen-rechts-kulturmarxistische-schein-grossmuetter ; Zugriff: 17.09.2025.
Abbildungsverzeichnis
- Abb. 1: DWDS (2025): DWDS-Verlaufskurve für „Kulturmarxismus · Kulturbolschewismus“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache. Online unter: https://www.dwds.de/r/plot/?view=1&corpus=zeitungenxl&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=1&prune=0&window=0&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1946%3A2024&q1=Kulturmarxismus&q2=Kulturbolschewismus ; Zugriff: 16.05.2025.
Zitiervorschlag
Pinkowski, Isabel (2025): Kulturmarxsimus. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 14.07.2025. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/kulturmarxismus.
DiskursGlossar
Grundbegriffe
Sinnformel
‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und ähnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.
Praktik
Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes Bündel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrücken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).
Kontextualisieren
Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.
Narrativ
Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.
Argumentation
Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Diskurskompetenz
Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.
Agenda Setting
Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.
Medien
Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.
Macht
Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.
Techniken
Inszenierte Kontroverse
Inszenierte Kontroversen liegen vor, wenn Politiker, Vertreter von Interessengruppen, Aktivisten, Journalisten, Influencer oder andere öffentlich wirksame Akteure potentiell strittige Themen möglichst effektvoll in einen Diskurs einbringen oder einen entsprechenden Diskurs auslösen, und zwar um entsprechende Perspektivierungen bestimmter Konfliktlagen im eigenen Interesse konfrontativ zu prägen.
-ismus
Bei Ismen geht es ursprünglich um die Wortendung (sog. Suffix) -ismus (Plural -ismen), mit der Substantive mit substantivischem oder adjektivischem Wortstamm (Basis) gebildet werden (z.B. Vulkan-ismus oder Aktiv-ismus).
Persuasion
Persuasion kommt vom lateinischen Verb persuadere und bedeutet ‚überzeugen, überreden‘ (gebildet aus suadere ‚raten, empfehlen‘ und per ‚durch, über‘).‘). Der Begriff stammt aus der Rhetorik, in der es vor allem darum geht, wie man Hörer:innen oder Leser:innen auf seine Seite bringt: wie man sie zum Beispiel in einem Gerichtsprozess von der Schuld oder Unschuld eines/einer Angeklagten überzeugt, wie man sie politisch zur Parteinahme überredet oder wie man sie ganz allgemein für sich selbst oder einen bestimmten Gegenstand/Sachverhalt einnimmt.
Zensur
Zensur sowie die Praktik des Zensierens sind Machtpraktiken der Einschränkung, Kontrolle und des Verbots von Besitz oder Rezeption von Kunstwerken, Medien, aber auch von Äußerungen bzw. einzelnen Sätzen, Sprüchen, Phrasen bis hin zu Wörtern.
Ironie
Ironie (altgriechisch εἰρωνεία (eirōneía), wörtlich ‚Verstellung‘, ‚Vortäuschung‘) ist in unserer unmittelbaren und massenmedialen Kommunikationskultur sehr bedeutsam. Sie arbeitet mit einem Bewertungsgegensatz zwischen Gesagtem und Gemeintem.
Wiederholen
Das Wiederholen von Äußerungen in öffentlichen (politischen) Diskursen zielt darauf, das Denken anderer zu beeinflussen, Wissen zu popularisieren, einseitige (z. B. fanatisierende, beschwörende, hysterische, ablenkende, pseudosachliche) Konstruktionen von Wahrheit zu erzeugen, um die soziale Wirklichkeit als intersubjektiven Konsens im einseitigen Interesse des „Senders“ zu verändern. Grundvoraussetzung ist die Annahme, dass das kollektive Denken stets mächtiger als das individuelle Denken ist.
Diskreditieren
Das Diskreditieren ist eine Praktik, mit der Diskursakteure durch verschiedenste Strategien, die von Verunglimpfungen und Verleumdungen bis hin zu rufschädigenden Äußerungen reichen, abgewertet und herabgesetzt werden.
Nähe inszenieren
Die Inszenierung von Nähe beschreibt eine Kommunikations>>praktik, bei der Akteur:innen Techniken einsetzen, um Vertrautheit, Sympathie und Authentizität zu vermitteln (z.B. das Angebot einer:s Vorgesetzten, zu duzen).
Diplomatie
Diplomatie bezeichnet im engeren Sinne eine Form der Kommunikation zwischen offiziellen Vertretern von Staaten, die die Aufgabe haben, zwischenstaatliche Beziehungen durch und für Verhandlungen aufrecht zu erhalten. Diese Vertreter können Politiker oder Beamte, insbesondere des diplomatischen Dienstes, sowie Vertreter internationaler Organisationen sein.
Typografie
Typografie bezeichnet im modernen Gebrauch generell die Gestaltung und visuelle Darstellung von Schrift, Text und (in einem erweiterten Sinne) auch die Dokument-Gesamtgestaltung (inklusive visueller Formen wie Abbildungen, Tabellen, Taxono-mien usw.) im Bereich maschinell hergestellter Texte (sowohl im Druck als auch auf dem Bildschirm)
Schlagwörter
Social Bots
Als Social Bots werden Computerprogramme bezeichnet, die in der Lage sind, in sozialen Medien Kommunikation menschlicher Nutzer*innen (teilweise) automatisiert nachzuahmen.
Kriegsmüdigkeit
Der Ausdruck Kriegsmüdigkeit bezeichnet die emotionale und physische Erschöpfung von Menschen, die einen Krieg erleben, sowie die gesellschaftliche und politische Ermüdung angesichts langanhaltender Konflikte. Er beschreibt den sinkenden Kampfeswillen bei Kriegsparteien und heute wird er auch für das wachsende Desinteresse an Kriegsthemen in Medien und Öffentlichkeit genutzt.
Woke
Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunächst den Bewusstseinszustand der Aufgeklärtheit über die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.
Identität
Unter Identität versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.
Wohlstand
Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.
Remigration
Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.
Radikalisierung
Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.
Bürokratie
Bürokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender Ausdrücke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen Bürokratisierung, Bürokratismus und Komposita, als wichtigstes Bürokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.
Politisch korrekt / Politische Korrektheit
Der Ausdruck politisch korrekt / Politische Korrektheit und die amerikanischen Vorbilder politically correct /P.C. / Political Correctness (Gegenteile, etwa politisch unkorrekt etc., sind mitzudenken) repräsentieren ein seit den frühen Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts populäres Deutungsmuster, mit dem weltanschauliche, ästhetische und politische Konflikte berichtet/bewertet werden, meist zuungunsten der als politisch korrekt bezeichneten Positionen, denen man eine überzogene, sowohl lächerliche als auch gefährliche Moralisierung unterstellt.
Kipppunkt
Als öffentliches Schlagwort ist Kipppunkt Teil eines Argumentationsmusters: es behauptet ein ‚Herannahen und baldiges Überschreiten einer unumkehrbaren Sachverhaltsänderung, die fatale bzw. dystopische Folgeschäden auslöst, wenn nicht umgehend bestimmte Maßnahmen eingeleitet oder unterlassen werden.‘
Verschiebungen
Kriminalisierung
Kriminalität meint ein Verhalten, das gegen ein Gesetz verstößt. Folglich bedeutet Kriminalisierung im engeren Sinne den Vorgang, durch den Verhalten ungesetzlich gemacht wird – indem Gesetze geschaffen werden.
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Partizipatorischer Diskurs
Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.
DiskursReview
Review-Artikel
Musk, Zuckerberg, Döpfner – Wie digitale Monopole die Demokratie bedrohen und wie könnte eine demokratische Alternative dazu aussehen?
Die Tech-Milliardäre Musk (Tesla, X,xAI) Zuckerberg (Meta), Bezos (Amazon) oder Pichai (Alphabet) sind nicht Spielball der Märkte, sondern umgekehrt sind die Märkte Spielball der Tech-Oligopolisten geworden.
Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im Europäischen Parlament
Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ für die Erweiterung der militärischen Ausstattung und der Verlängerung des Krieges aussprachen. Vorschläge oder Vorstöße auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)
Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit
DiskursReview Die Macht der Worte (4/4):So geht kultivierter Streit Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...
Die Macht der Worte 3/4: Sprachliche Denkschablonen
DiskursReview Die Macht der Worte (3/4):Sprachliche Denkschablonen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...
Die Macht der Worte 2/4: Freund-Feind-Begriffe
DiskursReview Die Macht der Worte (2/4): Freund-Feind-Begriffe Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...
Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen
DiskursReviewDie Macht der Worte (1/4): Wörter als Waffen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 / 06.03.2025...
Relativieren – kontextualisieren – differenzieren
Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.
Wehrhafte Demokratie: Vom Wirtschaftskrieg zur Kriegswirtschaft
Weitgehend ohne Öffentlichkeit und situiert in rechtlichen Grauzonen findet derzeit die Militarisierung der ursprünglich als „Friedensprojekt“ gedachten EU statt.
Tagung 2025: „Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung und Delegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen
„Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung undDelegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen Tagung der Forschungsgruppe Diskursmonitor Tagung: 04. bis 5. Juni 2025 | Ort: Freie Universität Berlin...
„Remigration“ – Ein Riss im Schleier der Vagheit. Diskursive Strategien rund um das Remigrationskonzept und die Correctiv-Recherchen
Die am 10. Januar veröffentlichte Correctiv-Recherche über ein rechtes Vernetzungstreffen in Potsdam sorgte für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und die größten Demonstrationen gegen Rechtsaußen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Im Fokus der Kritik…