DiskursGlossar

Kulturmarxismus

Kategorie: Schlagwörter
Verwandte AusdrĂŒcke: Kulturbolschewismus, Woke(-ness)
Siehe auch: Woke, Politische Korrektheit, Dog Whistle, Verschwörungstheorie
Autorin: Isabel Pinkowski
Version: 1.0 / Datum: 14.07.2025

Kurzzusammenfassung

Der Begriff Kulturmarxismus (engl. Cultural Marxism) wird insbesondere von Vertreter*innen der sogenannten ‚Neuen Rechten‘ und anderen rechtsalternativen Gruppen im medialen sowie politischen Diskurs als Kampfbegriff mit verschwörungsmythischen, antisemitischen, antikommunistischen sowie antifeministischen Implikationen verwendet.

Das Verschwörungs-Narrativ um den Kulturmarxismus lĂ€sst sich wie folgt zusammenfassen: Westliche Gesellschaften erscheinen als Zielscheibe einer vermeintlichen ideologischen Unterwanderung durch ‚linke KulturkĂ€mpfe(r)‘, welche vermeintlich im 20. Jahrhundert von einer Gruppe jĂŒdischer Marxisten, nĂ€mlich der Frankfurter Schule und ihrer Kritischen Theorie, anvisiert und in Gang gesetzt worden sei. An die Stelle des im Marxismus vorgesehenen, ökonomisch begrĂŒndeten Klassenkampfes sei ein subversiver Kulturkampf getreten, der auf eine schleichende Übernahme der westlichen Kultur abziele. Um im Zuge dessen ‚traditionelle westliche Werte‘ zu ĂŒberwinden, bediene sich eine ‚kulturelle Elite‘ konkreter Strategien, darunter Sozialreformen und die Vereinnahmung kultureller Institutionen durch Politische Korrektheit, Cancel Culture, IdentitĂ€tspolitik und Woke-ness. Parallelen lassen sich zu dem im Nationalsozialismus verwendeten negativ-wertenden Begriff des Kulturbolschewismus ziehen, der linke und im Allgemeinen unliebsame Wissenschaft sowie Kunst- und Kulturschaffende als kulturzersetzend oder entartet diskreditierte. Der Sammelbegriff Kulturmarxismus kann als Dog Whistle verstanden werden; durch seine Mehrdeutigkeit bleibt eine mögliche Verwobenheit bzw. AnschlussfĂ€higkeit an andere Verschwörungsnarrative wie dem ‚Gender-Mainstreaming‘ oder dem ‚Großen Austausch‘ (engl. ‚Great Replacement‘) erhalten. Vereinzelt wird der Begriff in feministischen Diskursen bewusst positiv umgedeutet und affirmativ als Selbstbezeichnung genutzt.

Erweiterte BegriffsklÀrung

Der Ausdruck Kulturmarxismus wird im medialen und politischen Diskurs vorrangig von rechtsalternativen bzw. rechtspopulistischen Akteuren verwendet. In diesem Kontext insinuiert er einen von links gefĂŒhrten Kulturkampf, welcher das Ziel habe, die ‚abendlĂ€ndische‘ Kultur sukzessive zu unterwandern und zu zerstören. Dies, so die VerschwörungserzĂ€hlung, gehe auf die Initiative der Frankfurter Schule zurĂŒck, welcher unter anderen Max Horkheimer, Theodor Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm und Leo Löwenthal angehörten. Benannt nach dem ursprĂŒnglichen Institut fĂŒr Sozialforschung in Frankfurt, wirkte die (hier relevante erste Generation der) Frankfurter Schule in Deutschland, in der Schweiz und im Exil in den USA (vgl. Jamin 2018: 4). Die Frankfurter Schule wird im akademischen Diskurs auch unter dem Begriff der Kritischen Theorie gefasst. In Anlehnung an Marx analysierte sie die ideologischen und kulturellen Bedingungen, durch die gesellschaftliche Herrschaft, insbesondere im Kapitalismus, stabilisiert und reproduziert wird.

Die beiden Worteinheiten des Kompositums Kulturmarxismus sind bedeutungsoffen und prinzipiell neutral verwendbar. Das Bestimmungswort Kultur kann sich je nach Kontext auf anthropologische, normative oder andere gesellschaftliche Aspekte beziehen. Das Grundwort Marxismus verweist zwar im akademischen Diskurs neutral auf mannigfaltige, an Karl Marx‘ Schriften anschließende (wirtschafts-)philosophische Strömungen, wird jedoch hĂ€ufig außerakademisch verwendet. In konservativen Diskursen, besonders in den USA, wird Marxismus mit Sozialismus assoziiert, welcher negativ konnotiert ist (vgl. Steffens 2019).

Der dem Begriff Kulturmarxismus innewohnende, scheinbar akademische Duktus tĂ€uscht LegitimitĂ€t vor und fĂŒgt disparate und fiktive Fragmente zu einem pseudowissenschaftlichen Rahmen zusammen. Verschwörungsmythische Implikationen des Begriffs sind ohne Vorwissen nicht unmittelbar ersichtlich, weshalb sich dieser als Dog Whistle eignet. Kulturmarxismus oder Kulturmarxisten als Bezeichnung fĂŒr die Kritische Theorie oder andere kulturwissenschaftliche Denkschulen zu verwenden, ist im wissenschaftlichen Fachdiskurs unĂŒblich (wenngleich vereinzelt vorkommend, etwa bei Jamin 2018); eine solche akademische Fachrichtung existiert de facto nicht (vgl. Braune 2019).

Die verschwörungsmythische Deutung des Begriffs wurde im US-amerikanischen Kontext der 1990er Jahre in den NachklĂ€ngen des Kalten Krieges geprĂ€gt. Zur ideologischen Untermauerung antikommunistischer Positionen lancierten insbesondere Vertreter des US-amerikanischen ‚PalĂ€okonservatismus‘ wie William S. Lind und Pat Buchanan den Kampfbegriff (vgl. z. B. Tuters 2018, Kemper 2023). Undifferenziert verband Lind die Frankfurter Schule mit den marxistischen Theoretikern Antonio Gramsci (1891-1937) und Georg LukĂĄcs (1885-1971). LukĂĄcs war der Frankfurter Schule bekannt, wurde jedoch kontrovers rezipiert (vgl. Dannemann 2017). Gramscis Schriften gewannen erst in den 1960er Jahren an Bedeutung. Obwohl diese Schriften eine konzeptionelle NĂ€he zur Kritischen Theorie aufweisen (siehe hierzu Kastner 2019), ist nicht belegt, dass sie von der Frankfurter Schule rezipiert oder gar aufgegriffen wurden (vgl. Kemper 2024). Indem er sie mit Gramscis Theorie der kulturellen Hegemonie verknĂŒpft, leitet Lind ein konkretes Ziel der Frankfurter Schule ab: die Zersetzung der westlichen Tradition sowie des christlichen Glaubens, um im Zuge eines ‚Kulturkampfes‘ insbesondere durch die Popkultur eine kommunistische bzw. sozialistische Ordnung zu schaffen (vgl. Jamin 2018: 5). Im Einklang mit diesem Verschwörungsnarrativ formuliert Pat Buchanan: “The Frankfurt School packed its ideology and fled to America [
] they set up their new Frankfurt School in New York City and redirected their talents and energies to undermining the culture of the country that had given them refuge” (2002: 78–80). Die tatsĂ€chlichen Absichten der Frankfurter Schule werden damit verdreht und ihr Einfluss maßlos ĂŒberschĂ€tzt (vgl. Tuters 2018: 32). Da diese vermeintliche kulturelle Zersetzung einer Gruppe jĂŒdischer Intellektueller zugeschrieben wird, stellt der Kulturmarxismus ein antisemitisches Narrativ dar (vgl. Kemper 2024). Zudem lĂ€sst sich eine begriffliche NĂ€he zum Kulturbolschewismus belegen (siehe Beispiele bzw. vgl. u. a. Tuters 2018: 32 oder Schwarz 2022: 255), einem antikommunistischen und antisemitischen Kampfbegriff, welcher wĂ€hrend der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus verwendet wurde, um linksgewandte und progressive Wissenschaft sowie Kunst- und Kulturschaffende als kulturzersetzend bzw. entartet zu diffamieren (vgl. Hoor 2015).

In den 2010er Jahren gewann das Schlagwort des Kulturmarxismus durch die Genese der US-amerikanischen ‚Alt-Right‘ an Bedeutung (vgl. Tuters 2018) und wird dort im medialen Diskurs prominent von Jordan Peterson verwendet (siehe hierzu Schwarz 2022: 356). Bis heute machen sich Vertreter*innen der sogenannten ‚Neuen Rechten‘ das Narrativ zu eigen; im deutschsprachigen politischen Diskurs auch AfD-Politiker*innen (vgl. Kemper 2024 oder siehe Beispiele). Ihrem historischen Ursprung zum Trotz findet die auf Gramsci zurĂŒckgehende Idee der gesellschaftlichen Einflussnahme durch eine Kulturrevolution bei rechtsalternativen Gruppierungen bemerkenswerte Resonanz: Aktiv strebt etwa die IdentitĂ€re Bewegung kulturelle Hegemonie durch eine ‚Kulturrevolution‘ an (vgl. de Benoist 2015). Dieses Bestreben lĂ€sst sich im weiteren Sinne dem ‚neurechten‘ Prinzip der Metapolitik zuordnen, welches – wenngleich der Begriff von Antonio Gramsci selbst nicht verwendet wurde – wesentlich aus dessen hegemonietheoretischen Überlegungen hervorgegangen ist (vgl. MOBIT 2018).

Das vermeintliche Ziel des sogenannten Kulturmarxismus bestehe darin, traditionelle Familien- und Geschlechterbilder zu ĂŒberwinden und eine radikale Umgestaltung sexueller Normen voranzutreiben, um die Gesellschaft zu destabilisieren. Vor diesem Hintergrund wird eine faktisch unbelegte Übereinstimmung zwischen den Zielen und Motiven der Frankfurter Schule und der 68er-Bewegung konstruiert (vgl. Rath 2018). Innerhalb des Verschwörungsnarrativs gilt letztere daher als vermeintlicher Höhepunkt des Kulturmarxismus (vgl. Tuters 2018: 31), obwohl prominente Mitglieder der Frankfurter Schule der 68er-Bewegung kritisch gegenĂŒberstanden. Konkret bezwecke der kulturmarxistische ‚linke Kulturkampf‘ eine Verschiebung des klassischen Proletariats hin zu Frauen, LGBTQIA+, ethnischen Minderheiten bzw. Migrant*innen (sowie unter UmstĂ€nden UmweltschĂŒtzer*innen). Diesen solle mit Hilfe von IdentitĂ€tspolitik, Politischer Korrektheit, Multikulturalismus oder Woke-ness eine dominierende Stellung verschafft werden (vgl. Jellonnek/Reinesch 2018: 18), wobei insbesondere der Popkultur eine zentrale Rolle zukomme. Es handelt sich damit um ein antifeministisches Narrativ. Je nach Kontext wird an andere Verschwörungsnarrative angeknĂŒpft und eine geburtenpolitische Strategie vermutet, um im Zuge eines ‚großen Austauschs‘ gezielt Einfluss auf die Bevölkerungsstruktur zu nehmen (vgl. Kemper 2023).

Im Jahre 2011 berief sich der norwegische Massenmörder Anders Breivik zur Rechtfertigung seiner Tat auf das Verschwörungsnarrativ des Kulturmarxismus (vgl. Jamin 2018: 8). Er sah diesen als in westlichen Gesellschaften allgegenwĂ€rtig und von den europĂ€ischen politischen, kulturellen und medialen Eliten erfolgreich etabliert an. Dabei handelt es sich um eine De-Realisierung (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 209): Eine derart agierende ‚kulturelle Elite‘, die ‚politische Korrektheit‘ durchsetze, existiert nicht. Institutionen, denen am ehesten eine entsprechende Position zukĂ€me, sind kaum elitĂ€r, sondern im Gegenteil oft wirtschaftlich marginalisiert und im medialen Diskurs umstritten – hierunter fallen etwa Gleichstellungsbeauftragte oder Antidiskriminierungsstellen (vgl. Jellonnek/Reinesch 2018: 19). Durch seine interpretative Offenheit in Bezug auf Feindbilder ermöglicht das Kulturmarxismus-Narrativ, sich gegen eine Vielfalt freiheitlich-progressiver Grundpfeiler wie Feminismus, Religionsfreiheit oder gesellschaftliche Vielfalt zu stellen. Welche konkrete strategische Funktion und AusprĂ€gung das Narrativ in deutschsprachigen rechtsalternativen bzw. neurechten Diskursen einnimmt, ist bislang weitgehend unerforscht – insbesondere im Hinblick auf seine Rolle als ideologischer Rahmen, als Mittel zur Legitimation oder als Mobilisierungsstrategie.

Beispiele

(1) Kulturmarxismus und Kulturbolschewismus – Ideologisch geprĂ€gte Schlagwörter im politischen Diskurs

Der Begriff Kulturmarxismus erlangte 2011 im europĂ€ischen Raum durch einen rechtsextremen AmoklĂ€ufer traurige Bekanntheit (siehe hierzu auch die untenstehende DWDS-Verlaufskurve fĂŒr Kulturmarxismus und Kulturbolschewismus), welcher in Oslo sowie UtĂžya 77 Personen ermordete (vgl. Jamin 2018: 8). In einem Manifest begrĂŒndete der TĂ€ter seine Morde mit dem Kulturmarxismus. Sein persönliches VerstĂ€ndnis des Begriffs legte er umfangreich dar (hier gekĂŒrzt):

(a) Cultural Marxism/multiculturalism: term describing the current Western European/US political/moral systems based on “political correctness” [
]. The ML ideology or political platform (Maoist-Leninism) ML which is also a European hate ideology, was later refined “toned down” and disguised and incorporated into politically correct movements such as; feminism, pro-drugs, pro-sexual revolusion, anti-racism, anti-fascism, anti-Christendom, anti-capitalism, gay and disability rights movements, environmentalism etc. (see chapters explaining the Frankfurt School). [
] The purpose of cultural Marxism is to destroy or deconstruct Western Civilisation (where the Christian European patriarchy has dominated historically) and instead create the USASSR/EUSSR, a communist utopia based on Marxist-Leninist principles. In order to achieve this they must destroy traditional European social cohesion in society which is the basis for traditional European nation states. They are therefore focused on the gradual deconstruction of European cultures, identities and the traditional structures (nuclear family, traditional morality and patriarchal structures) which has dominated humanity for the last 300 000 years. They understood early that political indoctrination would not be enough. They must destroy the very fabric of Europeanism so they (together with humanists and capitalist globalists) pushed for mass-third world immigraton. [
] (Anders Breivik, 2011, im anhĂ€ngenden Glossar seines Manifests)

Mit dem Kulturmarxismus, so die de-realisierende Behauptung, herrsche in den westlichen Gesellschaften eine ‚Ideologie des Hasses‘. Hinter ‚politischer Korrektheit‘ und ihren progressiven Bestrebungen wie z. B. ‚Feminismus‘, ‚Antirassismus‘, ‚Antifaschismus‘ wie auch ‚DrogenbefĂŒrwortung‘, tarne sich eine ‚ML-Ideologie‘ (so die undifferenzierende AbkĂŒrzung Breiviks fĂŒr ‚maoist-leninist‘ sowie ‚marxist-leninist‘). Als positiv-besetzter Gegenbegriff fĂ€llt das von Breivik in (a) viermal verwendete Adjektiv traditionell auf. Ziel der kulturmarxistischen Agenda sei im ersten Schritt die Untergrabung der europĂ€ischen Kultur und IdentitĂ€t, u. a. durch die Auflösung des ‚traditionellen‘ Familienbildes. Im zweiten Schritt solle die Zerstörung der westlichen Zivilisation und die Verwirklichung einer kommunistischen Utopie durch eine massive Einwanderung aus Drittstaaten erreicht werden (dies stellt den Anschluss an das Verschwörungsnarrativ vom ‚Großen Austausch‘ dar). Die Akteure, bezeichnet mit they, bleiben weitgehend unterspezifiziert: In (a) wird die antisemitische Chiffre ‚kapitalistische Globalisten‘ (vgl. Schwarz-Friesel 2022: 75) genannt (an anderer Stelle im Glossar wird ein ‚Zusammenschluss politischer, kultureller und medialer Eliten‘ verantwortlich gemacht).

Hier zeigen sich Parallelen zum im Nationalsozialismus gebrĂ€uchlichen Begriff des Kulturbolschewismus, der z. B. in einem AusstellungsfĂŒhrer zur Ausstellung Entartete Kunst thematisiert wird (hier als Kunstbolschewismus):

(b) Sie [Anmerkung der Verfasserin: die Ausstellung] will die gemeinsame Wurzel der politischen Anarchie und der kulturellen Anarchie aufzeigen, die Kunstentartung als Kunstbolschewismus im ganzen Sinn des Wortes entlarven. Sie will die weltanschaulichen, politischen, rassischen und moralischen Ziele und Absichten klarlegen, welche von den treibenden KrĂ€ften der Zersetzung verfolgt wurden. Sie will auch zeigen, in welchem Ausmaß diese Entartungserscheinungen von den bewußt treibenden KrĂ€ften ĂŒbergriffen auf mehr oder weniger unbefangene Nachbeter, die trotz einer frĂŒher schon und manchmal spĂ€ter wieder bewiesenen formalen Begabung gewissen-, charakter- oder instinktlos genug waren, den allgemeinen Juden- und Bolschewistenrummel mitzumachen. Sie will gerade damit aber auch zeigen, wie gefĂ€hrlich eine von ein paar jĂŒdischen und politisch eindeutig bolschewistischen WortfĂŒhrern gelenkte Entwicklung war, wenn sie auch solche Menschen kulturpolitisch in den Dienst der bolschewistischen AnarchieplĂ€ne stellen konnte, die ein parteipolitisches Bekenntnis zum Bolschewismus vielleicht weit von sich gewiesen hĂ€tten. (FĂŒhrer durch die Ausstellung „Entartete Kunst“, 1937, Kursivierung im Original, online abrufbar unter: https://ghdi.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=1578)

Inhaltlich gemein ist (a) und (b) das Zersetzungsnarrativ: Im Kern steht die Annahme, dass die Feindgruppe der Juden (bei den Nationalsozialisten explizit als ‚ein paar jĂŒdische und bolschewistische WortfĂŒhrer‘, bei Breivik implizit als Chiffre ‚Frankfurter Schule‘/‚kapitalistische Globalisten‘) Kultur und Gesellschaft gezielt indoktriniere bzw. unterwandere und in Form kommunistischer VerhĂ€ltnisse einen moralischen Werteverfall herbeifĂŒhre. WĂ€hrend Breivik diese Zerstörung als allmĂ€hlichen Abbau traditioneller Strukturen in den Fokus rĂŒckt, drĂŒckt sich in (b) eher eine Krankheitsmetaphorik aus, die Ansteckungsgefahr birgt (‚von den bewusst treibenden KrĂ€ften ĂŒbergriffen‘), Symptome zeigt (‚Entartungserscheinungen‘) und vor der ‚Unbefangene‘ nicht gefeit seien, weshalb die Ausstellung Entartete Kunst diese Gefahren aufzeigen mĂŒsse. Obgleich von Breivik in (a) nicht spezifiziert, ist die Rolle der (Pop-)Kultur hervorzuheben, die als Propagandainstrument des Kulturbolschewismus sowie des Kulturmarxismus ausgemacht wird. Beide Zitate stellen die Gefahr eines fremdgesteuerten und damit unkontrollierbaren Werteverfalls dar, der anarchisch und triebhaft assoziiert ist. Wie bei Verschwörungsnarrativen ĂŒblich, handele es sich um eine relativ kleine, aber mĂ€chtige Gruppe, die die Vielen instrumentalisiere und ausspiele, um ein niedertrĂ€chtiges Ziel durchzusetzen. Die konzeptuelle NĂ€he der beiden Begriffe zeigt sich ebenso, wenn „Höcke und sein FlĂŒgel mitunter die neurechte VerbrĂ€mung dieser strukturell antisemitischen Vorstellungen vergisst“ und statt von Kulturmarxismus „offen von ‚Kulturbolschewismus‘ spricht“ (Quent 2021: 287), geschehen etwa in einem Bericht der ThĂŒringer AfD-Landtagsfraktion (vgl. Quent 2021: 288). GrundsĂ€tzlich bedient sich Björn Höcke Formulierungen und Konzepten, die in den obigen Zitaten auffallen, etwa Entartung, Degeneration oder Verfall (vgl. Kemper 2016).

Ebenfalls reproduzierte die AfD-Spitzenpolitikerin Alice Weidel das Verschwörungsnarrativ Kulturmarxismus. 2018 erschien in der Jungen Freiheit ein Artikel mit dem Titel:

(c) Die Angst der Kulturmarxisten vor der AufklÀrung und der AfD
(Alice Weidel fĂŒr die Junge Freiheit, 23. Januar 2018)

Auffallend ist die Kontrastierung zwischen der feindlichen Gruppe von ‚Kulturmarxisten‘ auf der einen und der AfD sowie der AufklĂ€rung auf der anderen Seite. Im Verlauf des Artikels fĂŒhrt Weidel den Kulturmarxismus ebenfalls auf die Frankfurter Schule und die 68er-Bewegung zurĂŒck und nimmt insbesondere auf antifeministische Implikationen Bezug: Die Diskreditierung der ‚bĂŒrgerlichen‘ Familie, FrĂŒh- und Hypersexualisierung, Genderismus und Multikulturalismus sind die FrĂŒchte dieses Kulturmarxismus. Erneut wird der Begriff Kulturmarxismus mit Triebhaftigkeit assoziiert, emotional aufgeladen und mit RationalitĂ€t und traditioneller Ordnung in Gegensatz gestellt.

Vergleich Verlaufskurven der AusdrĂŒcke Kulturmarxismus und Kulturbolschewismus, bereitgestellt durch das DWDS.
Abb. 1: DWDS-Verlaufskurve aus dem DWDS-Zeitungskorpus fĂŒr Kulturmarxismus und Kulturbolschewismus vom 16.05.2025 in DWDS 2025.

(2) Verschwörungsnarrativ und Stigmawort – Kulturmarxismus im medialen Diskurs

Die verschwörungsmythische Annahme einer ĂŒbermĂ€chtigen Gruppe von Kulturmarxisten wird auch im medialen Diskurs aufgegriffen. Der folgende Beleg stammt aus einem Interview der Wirtschaftswoche:

(d) Das BĂŒrgertum ist durch die Diskurshoheit der Kulturmarxisten eingeschĂŒchtert, ideell entkernt und materiell sediert. Seine wichtigsten Institutionen, die Religion, die Kirche, die Familien, sind geschwĂ€cht oder haben sich dem neomarxistischen Zeitgeist angepasst. Der Kulturmarxismus hat das bĂŒrgerliche Bollwerk geschliffen. [
] (Wirtschaftswissenschaftler Antony Mueller im Interview mit der Wirtschaftswoche, November 2019, online abrufbar unter: https://www.wiwo.de/politik/deutschland/kulturmarxismus-marx-haette-seine-helle-freude-an-den-heutigen-verhaeltnissen/25205796.html)

Erneut wird sich eines Zersetzungsnarrativs bedient, demnach die ‚Kulturmarxisten‘ als hegemonial-mĂ€chtige Gruppe ĂŒber ‚Diskurshoheit‘ verfĂŒgten, das BĂŒrgertum ‚einschĂŒchtere‘, ‚ideell entkerne‘ und ‚materiell sediere‘. Es wird eine dichotome Ordnung zwischen dem positiv besetzten ‚BĂŒrgertum‘ und den ‚Kulturmarxisten‘ suggeriert, wobei sowohl Feindbild (‚Kulturmarxisten‘) als auch Selbstbild (‚das BĂŒrgertum‘) unspezifiziert bleibt.

GrundsĂ€tzlich eignet sich der Ausdruck als Stigmawort zur Herabsetzung unliebsamer, insbesondere links-progressiver politischer Bestrebungen. Mit dem Ziel, die BĂŒrgerinitiative Omas gegen Rechts zu diskreditieren, titelte beispielsweise das neurechte Onlineformat „eigentĂŒmlich frei“:

(e) Omas gegen Rechts – Kulturmarxistische Schein-GroßmĂŒtter
(Michael Werner, Oktober 2024, online abrufbar unter: https://ef-magazin.de/2024/10/17/21326-omas-gegen-rechts-kulturmarxistische-schein-grossmuetter)

Durch das Adjektiv kulturmarxistisch wird in diesem Kontext implizit ausgedrĂŒckt, dass das Engagement der Gruppe nicht dem antifaschistischen Widerstand gegen Rechtsextremismus diene, sondern als Fassade fĂŒr einen verdeckten, ideologisch gesteuerten Kulturkampf. Die polemische Referenz Schein-GroßmĂŒtter legt nahe, dass es sich nicht tatsĂ€chlich um Omas handele, die Selbstbezeichnung der Gruppe also grundsĂ€tzlich irrefĂŒhrend sei.

Im folgenden Beleg, erschienen auf der Plattform „X“, spiegelt sich die bereits in Weidels Formulierung deutlich werdende, zugeschriebene Triebhaftigkeit von ‚Kulturmarxisten‘ wider (als ‚beinahe [
] zwanghaftes Propagieren der PromiskuitĂ€t‘):

(f) Ein Kennzeichen des Kulturmarxismus ist das beinahe schon zwanghafte Propagieren der PromiskuitĂ€t auch durch sogenannte konservative Medien. Die GlaubenssĂ€tze der sexuellen Revolution haben sich nicht nur tief in die Köpfe der „Medienschaffenden“ eingegraben, derartige Meinungsmache wird vielfach auch finanziell gefördert. [
] (Benjamin Kaiser, Autor des Buchs „Kulturmarxismus. Eine Idee vergiftet die Welt“, auf X im Februar 2025, online abrufbar unter: https://x.com/KaiserBenKaiser/status/1889621313683132524)

PromiskuitĂ€t erscheint hier als diffamierende Bezeichnung fĂŒr sexuelle Selbstbestimmung. Das Schlagwort Kulturmarxismus eignet sich zur Diskreditierung feministischer Anliegen und kann daher als grundsĂ€tzlich antifeministisches Narrativ verstanden werden (vgl. Kemper 2024: 8).

 

Literatur

Zum Weiterlesen

Zitierte Literatur

Zitiervorschlag

Pinkowski, Isabel (2025): Kulturmarxsimus. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 14.07.2025. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/kulturmarxismus.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Praktik

Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes BĂŒndel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrĂŒcken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).

Kontextualisieren

Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.

Narrativ

Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.

Argumentation

Argumentation bezeichnet jene sprachliche TĂ€tigkeit, in der man sich mithilfe von GrĂŒnden darum bemĂŒht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klĂ€ren.

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung fĂŒr FĂŒhrung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative FĂ€higkeit, lĂ€ngere zusammenhĂ€ngende sprachliche Äußerungen wie ErzĂ€hlungen, ErklĂ€rungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Agenda Setting

Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, mĂŒssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage fĂŒr Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die FĂ€higkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhĂ€ngig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, KrĂ€fteverhĂ€ltnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf WahrheitsansprĂŒche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Metapher

In der politischen Berichterstattung ist oft davon die Rede, dass eine bestimmte Partei einen Gesetzesentwurf blockiert. Weil das Wort in diesem Zusammenhang so konventionell ist, kann man leicht ĂŒbersehen, dass es sich dabei um eine Metapher handelt.

Techniken

-ismus

Bei Ismen geht es ursprĂŒnglich um die Wortendung (sog. Suffix) -ismus (Plural -ismen), mit der Substantive mit substantivischem oder adjektivischem Wortstamm (Basis) gebildet werden (z.B. Vulkan-ismus oder Aktiv-ismus).

Persuasion

Persuasion kommt vom lateinischen Verb persuadere und bedeutet â€šĂŒberzeugen, ĂŒberreden‘ (gebildet aus suadere ‚raten, empfehlen‘ und per ‚durch, ĂŒber‘).‘). Der Begriff stammt aus der Rhetorik, in der es vor allem darum geht, wie man Hörer:innen oder Leser:innen auf seine Seite bringt: wie man sie zum Beispiel in einem Gerichtsprozess von der Schuld oder Unschuld eines/einer Angeklagten ĂŒberzeugt, wie man sie politisch zur Parteinahme ĂŒberredet oder wie man sie ganz allgemein fĂŒr sich selbst oder einen bestimmten Gegenstand/Sachverhalt einnimmt.

Ironie

Ironie (altgriechisch Î”áŒ°ÏÏ‰ÎœÎ”ÎŻÎ± (eirƍneĂ­a), wörtlich ‚Verstellung‘, ‚VortĂ€uschung‘) ist in unserer unmittelbaren und massenmedialen Kommunikationskultur sehr bedeutsam. Sie arbeitet mit einem Bewertungsgegensatz zwischen Gesagtem und Gemeintem.

Wiederholen

Das Wiederholen von Äußerungen in öffentlichen (politischen) Diskursen zielt darauf, das Denken anderer zu beeinflussen, Wissen zu popularisieren, einseitige (z. B. fanatisierende, beschwörende, hysterische, ablenkende, pseudosachliche) Konstruktionen von Wahrheit zu erzeugen, um die soziale Wirklichkeit als intersubjektiven Konsens im einseitigen Interesse des „Senders“ zu verĂ€ndern. Grundvoraussetzung ist die Annahme, dass das kollektive Denken stets mĂ€chtiger als das individuelle Denken ist.

Diskreditieren

Das Diskreditieren ist eine Praktik, mit der Diskursakteure durch verschiedenste Strategien, die von Verunglimpfungen und Verleumdungen bis hin zu rufschĂ€digenden Äußerungen reichen, abgewertet und herabgesetzt werden.

NĂ€he inszenieren

Die Inszenierung von NÀhe beschreibt eine Kommunikations>>praktik, bei der Akteur:innen Techniken einsetzen, um Vertrautheit, Sympathie und AuthentizitÀt zu vermitteln (z.B. das Angebot einer:s Vorgesetzten, zu duzen).

Diplomatie

Diplomatie bezeichnet im engeren Sinne eine Form der Kommunikation zwischen offiziellen Vertretern von Staaten, die die Aufgabe haben, zwischenstaatliche Beziehungen durch und fĂŒr Verhandlungen aufrecht zu erhalten. Diese Vertreter können Politiker oder Beamte, insbesondere des diplomatischen Dienstes, sowie Vertreter internationaler Organisationen sein.

Typografie

Typografie bezeichnet im modernen Gebrauch generell die Gestaltung und visuelle Darstellung von Schrift, Text und (in einem erweiterten Sinne) auch die Dokument-Gesamtgestaltung (inklusive visueller Formen wie Abbildungen, Tabellen, Taxono-mien usw.) im Bereich maschinell hergestellter Texte (sowohl im Druck als auch auf dem Bildschirm)

Fact Checking

Fact Checking ist eine kommunikationsstrategische Interventionstechnik, bei der eine Diskursaussage auf Bild oder Textbasis unter dem Gesichtspunkt der FaktizitĂ€t bewertet wird. Sie ist ĂŒberwiegend in journalistische Formate eingebettet, die als Faktencheck bezeichnet werden.

Distanzieren

Distanzieren bezeichnet die Abgrenzung eines individuellen oder organisationalen Akteurs von einem anderen Akteur. Eine Distanzierung kann kommunikativ oder operativ vollzogen werden, d. h. die Abgrenzung findet verbal oder unter AufkĂŒndigung eines ArbeitsverhĂ€ltnisses statt.

Schlagwörter

Wohlstand

Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darĂŒber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.

Remigration

Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die RĂŒckkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.

Radikalisierung

Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu Ă€ndern sucht.

BĂŒrokratie

BĂŒrokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender AusdrĂŒcke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen BĂŒrokratisierung, BĂŒrokratismus und Komposita, als wichtigstes BĂŒrokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.

Politisch korrekt / Politische Korrektheit

Der Ausdruck politisch korrekt / Politische Korrektheit und die amerikanischen Vorbilder politically correct /P.C. / Political Correctness (Gegenteile, etwa politisch unkorrekt etc., sind mitzudenken) reprĂ€sentieren ein seit den frĂŒhen Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts populĂ€res Deutungsmuster, mit dem weltanschauliche, Ă€sthetische und politische Konflikte berichtet/bewertet werden, meist zuungunsten der als politisch korrekt bezeichneten Positionen, denen man eine ĂŒberzogene, sowohl lĂ€cherliche als auch gefĂ€hrliche Moralisierung unterstellt.

Kipppunkt

Als öffentliches Schlagwort ist Kipppunkt Teil eines Argumentationsmusters: es behauptet ein ‚Herannahen und baldiges Überschreiten einer unumkehrbaren SachverhaltsĂ€nderung, die fatale bzw. dystopische FolgeschĂ€den auslöst, wenn nicht umgehend bestimmte Maßnahmen eingeleitet oder unterlassen werden.‘

Verfassung

Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht fĂŒr die höchste und letzte normative und LegitimitĂ€t setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen GrĂŒndungsakt eine Verfassung gibt.

ToxizitÀt / das Toxische

Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lĂ€sst sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schĂ€dlich‘ erweitert hat, doch die UmstĂ€nde, unter denen etwas fĂŒr jemanden toxisch, d. h. schĂ€dlich ist, mĂŒssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.

Zivilgesellschaft

Im gegenwÀrtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezÀhlt.

Demokratie

Der Ausdruck Demokratie dient hĂ€ufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.

Verschiebungen

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen SicherheitsverstĂ€ndnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurĂŒckzufĂŒhren ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlĂ€ssig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwĂ€rtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-KalkĂŒle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche ĂŒbertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die SphÀre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Partizipatorischer Diskurs

Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, fĂŒr (mehr) Partizipation zu sorgen.

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsĂ€chlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im EuropĂ€ischen Parlament

Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ fĂŒr die Erweiterung der militĂ€rischen Ausstattung und der VerlĂ€ngerung des Krieges aussprachen. VorschlĂ€ge oder VorstĂ¶ĂŸe auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)

Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit

DiskursReview Die Macht der Worte (4/4):So geht kultivierter Streit Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...

Die Macht der Worte 3/4: Sprachliche Denkschablonen

DiskursReview Die Macht der Worte (3/4):Sprachliche Denkschablonen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...

Die Macht der Worte 2/4: Freund-Feind-Begriffe

DiskursReview Die Macht der Worte (2/4): Freund-Feind-Begriffe Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...

Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen

DiskursReviewDie Macht der Worte (1/4): Wörter als Waffen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 / 06.03.2025...

Relativieren – kontextualisieren – differenzieren

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem fĂŒr Praktiken, die das KerngeschĂ€ft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische GegenstĂ€nde miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.