
DiskursGlossar
Massendemokratie
Kategorie: Schlagwörter
Verwandte Ausdrücke: Populismus, Mediendemokratie, Mittelstandsgesellschaft
Siehe auch: Demokratie
Autor: Clemens Knobloch
Version: 1.0 / Datum: 07.10.2025
Kurzzusammenfassung
Geprägt wurde der Begriff Massendemokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von völkisch-konservativen Akteuren (prominent darunter Carl Schmitt 1926). Der Ausdruck Masse hatte damals bei den bürgerlichen Eliten eine rundum bedrohliche Assoziation. Die zumeist als proletarisch gedachten ‚Massen‘ galten als diffus, unberechenbar, stimmungsgesteuert und anarchisch. Einflussreich wurde Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“ (1895). Und die Demokratie war keineswegs so positiv, eindeutig, programmatisch, wie sie uns heute erscheint. Im Entstehungskontext war Massendemokratie demnach so etwas wie ein Warnbegriff der alten, bürgerlichen Politelite. Er wendete sich gegen den Macht- und Einflussverlust dieser Eliten und gegen die kommende Machtbeteiligung der diffusen nichtbürgerlichen Allgemeinheit. Reste dieser diskursiven Konstellation finden sich bis heute.
Der heutige Gebrauch des Wortes Massendemokratie ist dagegen dominant diagnostisch. In den Zeitungskorpora finden sich zahllose Belege vom Typus „Wir leben im Zeitalter der Massendemokratie“. Programmatische Verwendungen des Typs „Wir möchten eine Massendemokratie etablieren, legitimieren etc.“ findet man nicht.
Als beiläufiger Analysebegriff ist Massendemokratie seit den 1950er Jahren in der populären geschichts- und politikwissenschaftlichen Literatur gut belegt. Bis in die publizistische Gegenwart hinein ist die Verwendung des Ausdrucks aber nur begrenzt politisch verortbar. Dominant ist zwar weiterhin eine konservativ-kulturkritische Lesart von Massendemokratie (zum Beispiel von Panajotis Kondylis und Peter Furth). Es gibt aber auch linksliberale Besetzungsversuche in der Tradition von Jürgen Habermas oder Theodor Geiger, wo in der Hauptsache von der „modernen“ oder der „sozialstaatlichen Massendemokratie“ die Rede ist. Prägend sind hier vorwiegend die modifizierenden Adjektive von Massendemokratie.
Insgesamt handelt es sich bei Massendemokratie heute eher um einen Theoriebegriff, der auch marginal im intellektuellen Segment des medio-politischen Diskurses verwendet wird.
Erweiterte Begriffsklärung
Was ‚eigentlich‘ unter Massendemokratie zu verstehen sei, ist naturgemäß in der theoretischen Literatur höchst umstritten. Man kann selbstverständlich auch darüber streiten, ob derartige fachlich-theoretische Definitionsversuche den faktischen politischen Gebrauch des Ausdrucks überhaupt erreichen (oder gar: beeinflussen). Zum Entstehungskontext des Ausdrucks gehört in jedem Falle die Erfahrung traditioneller bürgerlicher Demokratieeliten (‚Bildung und Besitz‘) im ausgehenden 19. Jahrhundert, dass (vor allem verkörpert durch die erstarkende sozialdemokratische Arbeiterbewegung) breitere Bevölkerungsschichten (Besitzlose, Arbeiter, Frauen etc.) formal an der demokratischen Macht beteiligt werden mussten, durch Ausweitung des Wahlrechts, Sozialpolitik etc. Von Anfang an besteht die Herausforderung, auf die der Begriff der Massendemokratie antwortet, darin, dass die traditionellen Trägerschichten der bürgerlichen Demokratie nach Wegen suchen, die eigene Hegemonie auch unter den Bedingungen der formellen Machtbeteiligung breitester Bevölkerungsschichten zu erhalten. Fast alle theoretischen Bestimmungsversuche des Begriffs lassen sich auf dieses Problem beziehen.
Im Fachdiskurs gehörten zu den wiederkehrenden Definitionsmerkmalen der Massendemokratie Massenproduktion, Massenkonsum, Massenmedien und eine Orientierung an der Mittelschicht. Die folgenden drei Punkte sind extrahiert aus Kondylis (1991):
- Massendemokratie sei auf die gesellschaftliche Etablierung von (fordistischer) Massenproduktion und von Massenkonsum angewiesen (ebd. 188). Massendemokratie könne politisch nur etabliert werden unter der Bedingung, dass Güterknappheit in der Gesellschaft überwunden sei bzw. keine nennenswerte Rolle mehr spiele. Warenhäuser, expandierender Konsum und Auflösung traditioneller Gemeinschaftsbindungen gehörten zu einer jeden massendemokratischen Gesellschaft.
- Angedeutet sind im Begriff der Massendemokratie von Anfang an auch die Massenmedien und ihre meinungsbildende Rolle bei der Auflösung der bürgerlich-demokratischen Trägerschichten und Milieus. Massenmedien haben in dieser strukturellen Perspektive die Aufgabe, die herrschenden Interessen so rhetorisch aufzubereiten, dass sich relevante Teilgruppen der ‚Massen‘ mit ihnen identifizieren könnten. Das wiederum befördere rhetorische Techniken der Ansprache (Adressierung), die schichtenübergreifend große Bevölkerungsteile erreichten. Zu diesen Techniken gehörte etwa die Moralisierung politischer Probleme, die besonders erfolgversprechend in hoch atomisierten Gesellschaften ist, weil man da auf Formen der Nähekommunikation eingestellt ist. Dazu gehören aber auch populistische Techniken, die von Hause aus darauf eingerichtet sind, die Zustimmung für anti-elitistisch aufgestellte Gruppierungen zu optimieren. In der Massendemokratie werden solche anti-elitistischen Positionen in der Hauptsache von den etablierten Eliten selbst bewirtschaftet. Es gilt als definierendes Merkmal ‚populistischer‘ Strömungen und Regierungen, dass sie eine anti-elitistische Rhetorik pflegen („Wir hier unten“ gegen „Die da oben“), aber in aller Regel selbst von Angehörigen der Eliten geführt werden. Und schließlich ist auch der politische Bedeutungszuwachs, den die Rolle der‚Experten‘ erfährt, ein Produkt massendemokratischer Verhältnisse, weil (und solange) die ‚Wissenschaft‘ schichtenübergreifend Vertrauen genießt.
- Unter massendemokratischen Verhältnissen herrsche das Narrativ, der Zugang zu den Machtressourcen der Elite sei grundsätzlich offen. Offiziell gilt so etwas wie eine Leistungsideologie – jede(r) habe die Chance, in die Meinungselite aufzusteigen. Vorbildlich und erstrebenswert wird in der Massendemokratie die Lebensweise der Mittelschichten. Das bedeutet freilich nicht, dass die Mittelschichten auch die politische Macht innehätten, als vorbildlich gelten aber mittelschichttypische Normen und Werte wie Mobilität, Selbstverwirklichung, Leistungsorientierung, egalitäre Prinzipien, Menschenrechte, hedonistisch-individualistischer Prestigekonsum. Die neuen Mittelschichten werden so in der Massendemokratie zur universalen und modellbildenden Klasse (vgl. Kondylis 1991: 200). Medienmeldungen über schrumpfende Mittelschichten erhalten vor diesem Hintergrund ihren alarmistischen Ton, weil starke Mittelschichten in massendemokratischen Verhältnissen als Garant für politische Stabilität gelten. Der (konservative) Soziologe Helmut Schelsky hat schon in den 1950er Jahren für diese Konstellation die programmatische Formel von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ geprägt, in der sich die überkommenen Klassenverhältnisse allmählich auflösen würden (Schelsky 1979: 326–332).
Wiewohl aus rechts-konservativer Position etabliert, findet sich der Begriff der Massendemokratie durchaus auch bei linken Analytikern der faschistischen Machtergreifung (vgl. z.B. Neumann 1984 [1942]: 474).
Regelmäßig taucht unter den Bestimmungsversuchen der Massendemokratie die Beobachtung auf, dass unter einschlägigen Verhältnissen die Bindungen zwischen sozial-kulturellen Milieus und politischer Orientierung des Einzelnen gelockert sind. Christliche Milieus wählen nicht mehr automatisch christliche Parteien, Arbeitermilieus Arbeiterparteien etc. Vor diesem Hintergrund dürfte die NSDAP die erste, größte und erfolgreichste massendemokratische Partei in Deutschland gewesen sein. Ihr ist es zuerst gelungen, massenhafte Unterstützung in allen sozialen Milieus der späten Weimarer Republik zu gewinnen und bis zum Kriegsende zu erhalten.
In der historischen Literaturaufbereitung des Begriffs Massendemokratie fehlt selten ein Verweis auf Alexis de Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“. In diesem (bereits 1835–1840 erschienenen) kulturkritischen Klassiker finden sich zahlreiche Beobachtungen und Prognosen, die auf kommende Verhältnisse verweisen, wie sie als ‚typisch‘ für die moderne Massendemokratie gelten, darunter die enorme Ausweitung der (sozialpolitischen und politisch-ökonomischen) Staatstätigkeit, Atomisierung und (vermeintliche) Individualisierung der Menschen, Entmündigung sowie Egoismus und Hedonismus.
Weitgehend unvereinbar ist das Konzept der ‚modernen Massendemokratie‘ mit ethnischen, völkischen und gemeinschaftsbezogenen, also traditionell rechten Demokratiekonzepten. Schon aus diesem Grund behält der Begriff Massendemokratie seine kritisch-abwertende Tönung, wenn er von rechts-konservativen Akteuren verwendet wird. Und umgekehrt markiert der dominant diagnostische Gebrauch von Massendemokratie eine Frontstellung sowohl gegenüber der durch ‚Besitz und Bildung‘ getragenen bürgerlichen Demokratie (als Klassenherrschaft) wie auch gegen ethnisch-identitäre Gemeinschaftserzählungen.
Beispiele
Zur Illustration der Verwendungsweisen von Massendemokratie gebe ich einige Beispiele aus den Printmedien (recherchiert in den Korpora des DWDS) der vergangenen Jahrzehnte und zwei etwas ausführlichere Zitate aus der theoretischen Literatur zum Begriff:
(1) Der Ausdruck Massendemokratie in der Presse: Gemein haben die Verwendungen, dass der Begriff jeweils eine Epoche politischer Ordnung und gesellschaftlicher Struktur beschreibt, die durch breite politische Teilhabe großer Bevölkerungsmassen, organisierte Massenbewegungen und oft auch soziale und ideologische Vereinheitlichung geprägt ist. Dabei schwingt meist ein kritischer oder distanzierter Unterton mit, der auf mögliche Spannungen, Zwänge oder Veränderungen innerhalb dieser Form der Demokratie hinweist.
Ebenso natürlich brauchte der Faschismus nach 1918, im Zeitalter der Massendemokratie, die Erfahrung von Sozialisten und Kommunisten, die wussten, wie man straff organisierte, revolutionäre Kaderparteien aufbaute. (FAZ vom 20.11.2023)
Und da ist zu sagen, daß im Zeitalter der modernen Massendemokratie und der ideologischen Zweiteilung der Welt die Außenpolitik eine Fortsetzung der Innenpolitik mit den gleichen Mitteln ist, und wohl auch zwangsläufig sein muß. (ZEIT vom 5.8.1960)
Aus all diesen Gründen geht das Zeitalter der Massendemokratie möglicherweise seinem Ende entgegen – zusammen mit der Massengesellschaft, die aus der Industriellen Revolution hervorgegangen ist. (FAZ vom 19.10.2000)
Zudem hat die sozialstaatliche industrielle Massendemokratie ein unbegrenztes Bedürfnis nach wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftspolitischem Fortschritt, das einer Abhängigkeit nahekommt. (FAZ vom 24.10.1995)
(2) Der Ausdruck Massendemokratie im Fachdiskurs: Zum Übergang von der bürgerlichen Elitendemokratie zur Massendemokratie schreibt der Soziologe Theodor Geiger:
Das alles wird in der Massendemokratie anders. Der Politiker selbst fühlt sich nicht mehr so sehr als Exponent und Sprachrohr einer staatsbürgerlichen Meinungsfront, sondern betrachtet es in zunehmendem Maße als seine Aufgabe, große Bevölkerungsmassen zu sammeln, zu organisieren und zu manipulieren. Das Wissen dieser Massen in politischen Dingen ist lückenhaft, ihre Fassungsgabe begrenzt, ihre Fähigkeit, sich selbst eine Meinung zu bilden, ist daher unzulänglich – und all das gerade in einer Zeit, wo der Staat seinen Wirkungsbereich ausdehnt, neue Souveränitätsaufgaben übernimmt und die Einsicht in die öffentlichen Angelegenheiten also erhöhte Sachkenntnis heischt. Der Politiker der Bürgerdemokratie sammelt die kraft individueller, selbständiger Meinungsbildung übereinstimmenden Willen zu gemeinsamem staatsbürgerlichen Handeln. Der Politiker der Massendemokratie kürzt das Verfahren ab. Indem er an Stimmungen appelliert, bringt er große Volksmassen unter seinen Einfluss und impft sie mit Meinungsklischees, deren er sich dann in der Politik des Tages als Aktionslosungen bedient.
(Geiger 1963: 332)
Nachgerade prophetisch wirken heute (25 Jahren nach ihrer Formulierung) die kulturkritischen Beobachtungen des wohl einflussreichsten Theoretikers der Massendemokratie, Panajotis Kondylis. Über das Ende der liberal-bürgerlichen und europäischen Kultur, die das 20. Jahrhundert prägte, schreibt er:
Trotz propagandistischer Schönrednerei und ideologischer Selbsttäuschung überflutet heute der Westen die restliche Welt nicht mit dieser Kultur, sondern mit dem massendemokratischen Technizismus und Ökonomismus einerseits und mit der hedonistischen Massenkultur des Kitsches andererseits. Heute, so fährt Kondylis fort, sei die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, dass sich die wirtschaftlichen und politischen Prinzipien, die der Westen heute verficht, bald gegen ihn wenden könnten. Der freie Handel wird in anderem Licht erscheinen, wenn das erste Exportland nicht mehr Vereinigte Staaten oder Deutschland, sondern China heißt; und die Freizügigkeit wird hysterische und barbarische Reaktionen auslösen, sollten sich Hunderte von Millionen auf den Weg machen. Während der Sieg der Prinzipien des Westens im liberalen und imperialistischen Zeitalter eo ipso den Sieg des Westens bedeutete, kann der Sieg der Prinzipien des heutigen massendemokratischen Westens auf planetarischer Ebene den Untergang des Abendlandes herbeiführen. (Kondylis 2001: 37)
Die beiden letzten Theoriebeispiele zeigen, wie sehr sowohl die konservative Variante von Kondylis als auch die eher liberale Variante von Geiger durch den kulturkritischen Entstehungskontext des Begriffs geprägt bleiben. Aus beiden Positionen erscheint die Massendemokratie als manipulative ideologische Einrichtung, mittels derer etablierte machtpolitische Eliten ihre Vorherrschaft absichern, indem sie programmatisch auf alle Deutungsmuster setzen, die für die ‚Massen‘ als weitgehend resonant und einwandsimmun präsentiert werden können. Es geht machtstrategisch ausschließlich darum, die ‚Massen‘ bei der Stange zu halten. In den medio-politischen Beispielen unter (1) hingegen bleibt das Schlagwort eher neutral, bisweilen hat es einen resignativen Ton. Die weitgehend neutral-diagnostische Verwendung von Massendemokratie in den Massenmedien zeigt insofern an, dass die massendemokratische Geschäftsordnung dort inzwischen anerkannt ist und zur akzeptierten Normalität gehört. Und auch das ist ein signifikanter Befund.
Literatur
Zum Weiterlesen
- Furth, Peter (2009): Über Massendemokratie. In: Merkur, Jg. 63, Heft 717, S. 93 ff.
Zitierte Literatur
- Furth, Peter (2009): Über Massendemokratie. In: Merkur, Jg. 63, Heft 717, S. 93 ff.
- Furth, Peter (2015): Massendemokratie. Berlin: Landt Verlag.
- Geiger, Theodor (1963): Demokratie ohne Dogma. München: Szczesny.
- Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Kondylis, Panajotis (1991): Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim: VCH.
- Kondylis, Panajotis (2001): Das Politische im 20. Jahrhundert. Heidelberg: Manutius.
- Le Bons, Gustave [1895] (1908): Psychologie der Massen. Übers. v. Rudolf Eisler. Leipzig: Klinkhardt.
- Neumann, Franz [1942] (1984 ): Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944. Frankfurt a. M.: Fischer [zuerst engl. in den USA 1942].
- Schelsky, Helmut (1979): Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. München: Goldmann.
- Schmitt, Carl (1926): Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie. Manuskript.
- Tocqueville, Alexis de [1835–1840] (1976): Über die Demokratie in Amerika. München: Dt. Taschenbuch Verlag.
Zitiervorschlag
Knobloch, Clemens (2025): Massendemokratie. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 07.10.2025. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/massendemokratie/.
DiskursGlossar
Grundbegriffe
Deutungsmuster
Unter einem Deutungsmuster wird die problem- und lösungsbezogene Interpretation gesellschaftlicher und politischer Tatbestände verstanden, die Aussicht auf Akzeptanz in sozialen Gruppen hat. Der Begriff des Deutungsmusters hat Ähnlichkeit mit den Begriffen der Theorie und Ideologie. Meist werden gesellschaftlich verbreitete Leitdeutungen, die oft mit Schlagwörtern und Argumentationsmustern einhergehen (wie Globalisierung, Kapitalismus, Leistungsgesellschaft, Chancengleichheit etc.) als Beispiele für Deutungsmuster genannt.
Sinnformel
‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und ähnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.
Praktik
Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes Bündel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrücken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).
Kontextualisieren
Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.
Narrativ
Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.
Argumentation
Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Diskurskompetenz
Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.
Agenda Setting
Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.
Medien
Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.
Techniken
Strategische Prozessführung
Der Begriff strategische Prozessführung kombiniert die Worte Strategie im Sinne von Plan und Taktik‘ und Prozessführung im Sinne von ‚Klage vor Gericht‘. Eine einheitliche Definition des Konzepts existiert bislang nicht. Meist werden hierunter (Muster)Klagen von NGOs und Bürgerrechtsorganisationen verstanden, mit denen über den Einzelfall hinausgehende soziale und gesellschaftspolitische Ziele verfolgt werden.
Inszenierte Kontroverse
Inszenierte Kontroversen liegen vor, wenn Politiker, Vertreter von Interessengruppen, Aktivisten, Journalisten, Influencer oder andere öffentlich wirksame Akteure potentiell strittige Themen möglichst effektvoll in einen Diskurs einbringen oder einen entsprechenden Diskurs auslösen, und zwar um entsprechende Perspektivierungen bestimmter Konfliktlagen im eigenen Interesse konfrontativ zu prägen.
-ismus
Bei Ismen geht es ursprünglich um die Wortendung (sog. Suffix) -ismus (Plural -ismen), mit der Substantive mit substantivischem oder adjektivischem Wortstamm (Basis) gebildet werden (z.B. Vulkan-ismus oder Aktiv-ismus).
Persuasion
Persuasion kommt vom lateinischen Verb persuadere und bedeutet ‚überzeugen, überreden‘ (gebildet aus suadere ‚raten, empfehlen‘ und per ‚durch, über‘).‘). Der Begriff stammt aus der Rhetorik, in der es vor allem darum geht, wie man Hörer:innen oder Leser:innen auf seine Seite bringt: wie man sie zum Beispiel in einem Gerichtsprozess von der Schuld oder Unschuld eines/einer Angeklagten überzeugt, wie man sie politisch zur Parteinahme überredet oder wie man sie ganz allgemein für sich selbst oder einen bestimmten Gegenstand/Sachverhalt einnimmt.
Zensur
Zensur sowie die Praktik des Zensierens sind Machtpraktiken der Einschränkung, Kontrolle und des Verbots von Besitz oder Rezeption von Kunstwerken, Medien, aber auch von Äußerungen bzw. einzelnen Sätzen, Sprüchen, Phrasen bis hin zu Wörtern.
Ironie
Ironie (altgriechisch εἰρωνεία (eirōneía), wörtlich ‚Verstellung‘, ‚Vortäuschung‘) ist in unserer unmittelbaren und massenmedialen Kommunikationskultur sehr bedeutsam. Sie arbeitet mit einem Bewertungsgegensatz zwischen Gesagtem und Gemeintem.
Wiederholen
Das Wiederholen von Äußerungen in öffentlichen (politischen) Diskursen zielt darauf, das Denken anderer zu beeinflussen, Wissen zu popularisieren, einseitige (z. B. fanatisierende, beschwörende, hysterische, ablenkende, pseudosachliche) Konstruktionen von Wahrheit zu erzeugen, um die soziale Wirklichkeit als intersubjektiven Konsens im einseitigen Interesse des „Senders“ zu verändern. Grundvoraussetzung ist die Annahme, dass das kollektive Denken stets mächtiger als das individuelle Denken ist.
Diskreditieren
Das Diskreditieren ist eine Praktik, mit der Diskursakteure durch verschiedenste Strategien, die von Verunglimpfungen und Verleumdungen bis hin zu rufschädigenden Äußerungen reichen, abgewertet und herabgesetzt werden.
Nähe inszenieren
Die Inszenierung von Nähe beschreibt eine Kommunikations>>praktik, bei der Akteur:innen Techniken einsetzen, um Vertrautheit, Sympathie und Authentizität zu vermitteln (z.B. das Angebot einer:s Vorgesetzten, zu duzen).
Diplomatie
Diplomatie bezeichnet im engeren Sinne eine Form der Kommunikation zwischen offiziellen Vertretern von Staaten, die die Aufgabe haben, zwischenstaatliche Beziehungen durch und für Verhandlungen aufrecht zu erhalten. Diese Vertreter können Politiker oder Beamte, insbesondere des diplomatischen Dienstes, sowie Vertreter internationaler Organisationen sein.
Schlagwörter
Social Bots
Als Social Bots werden Computerprogramme bezeichnet, die in der Lage sind, in sozialen Medien Kommunikation menschlicher Nutzer*innen (teilweise) automatisiert nachzuahmen.
Kriegsmüdigkeit
Der Ausdruck Kriegsmüdigkeit bezeichnet die emotionale und physische Erschöpfung von Menschen, die einen Krieg erleben, sowie die gesellschaftliche und politische Ermüdung angesichts langanhaltender Konflikte. Er beschreibt den sinkenden Kampfeswillen bei Kriegsparteien und heute wird er auch für das wachsende Desinteresse an Kriegsthemen in Medien und Öffentlichkeit genutzt.
Woke
Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunächst den Bewusstseinszustand der Aufgeklärtheit über die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.
Identität
Unter Identität versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.
Wohlstand
Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.
Remigration
Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.
Radikalisierung
Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.
Bürokratie
Bürokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender Ausdrücke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen Bürokratisierung, Bürokratismus und Komposita, als wichtigstes Bürokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.
Politisch korrekt / Politische Korrektheit
Der Ausdruck politisch korrekt / Politische Korrektheit und die amerikanischen Vorbilder politically correct /P.C. / Political Correctness (Gegenteile, etwa politisch unkorrekt etc., sind mitzudenken) repräsentieren ein seit den frühen Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts populäres Deutungsmuster, mit dem weltanschauliche, ästhetische und politische Konflikte berichtet/bewertet werden, meist zuungunsten der als politisch korrekt bezeichneten Positionen, denen man eine überzogene, sowohl lächerliche als auch gefährliche Moralisierung unterstellt.
Kipppunkt
Als öffentliches Schlagwort ist Kipppunkt Teil eines Argumentationsmusters: es behauptet ein ‚Herannahen und baldiges Überschreiten einer unumkehrbaren Sachverhaltsänderung, die fatale bzw. dystopische Folgeschäden auslöst, wenn nicht umgehend bestimmte Maßnahmen eingeleitet oder unterlassen werden.‘
Verschiebungen
Dehumanisierung
Mit Dehumanisierung bzw. Anthropomorphisierung werden solche kommunikativen Techniken und Praktiken bezeichnet, die Personen, Sachverhalten oder Gegenständen menschliche Eigenschaften ab- bzw. zusprechen. Dehumanisierung und Anthropomorphisierung können sowohl durch sprachliche Mittel als auch durch andere, z. B. bildliche, Zeichen vollzogen werden.
Kriminalisierung
Kriminalität meint ein Verhalten, das gegen ein Gesetz verstößt. Folglich bedeutet Kriminalisierung im engeren Sinne den Vorgang, durch den Verhalten ungesetzlich gemacht wird – indem Gesetze geschaffen werden.
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Partizipatorischer Diskurs
Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.
DiskursReview
Review-Artikel
Musk, Zuckerberg, Döpfner – Wie digitale Monopole die Demokratie bedrohen und wie könnte eine demokratische Alternative dazu aussehen?
Die Tech-Milliardäre Musk (Tesla, X,xAI) Zuckerberg (Meta), Bezos (Amazon) oder Pichai (Alphabet) sind nicht Spielball der Märkte, sondern umgekehrt sind die Märkte Spielball der Tech-Oligopolisten geworden.
Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im Europäischen Parlament
Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ für die Erweiterung der militärischen Ausstattung und der Verlängerung des Krieges aussprachen. Vorschläge oder Vorstöße auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)
Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit
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Relativieren – kontextualisieren – differenzieren
Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.
Wehrhafte Demokratie: Vom Wirtschaftskrieg zur Kriegswirtschaft
Weitgehend ohne Öffentlichkeit und situiert in rechtlichen Grauzonen findet derzeit die Militarisierung der ursprünglich als „Friedensprojekt“ gedachten EU statt.
Tagung 2025: „Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung und Delegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen
„Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung undDelegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen Tagung der Forschungsgruppe Diskursmonitor Tagung: 04. bis 5. Juni 2025 | Ort: Freie Universität Berlin...
„Remigration“ – Ein Riss im Schleier der Vagheit. Diskursive Strategien rund um das Remigrationskonzept und die Correctiv-Recherchen
Die am 10. Januar veröffentlichte Correctiv-Recherche über ein rechtes Vernetzungstreffen in Potsdam sorgte für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und die größten Demonstrationen gegen Rechtsaußen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Im Fokus der Kritik…