DiskursGlossar

Tabuisieren

Kategorie: Verschiebung
Verwandte Ausdrücke: Enttabuisieren, Skandalisieren, Euphemismus, Political Correctness
Siehe auch: Euphemismus, Sagbarkeit, Zensur, Diskreditieren, Moralisierung
Autor/in: Kristin Kuck
Version: 1.0 / Datum: 27.11.2025

Kurzzusammenfassung

Das Wort Tabuisierung bezeichnet die Praxis, etwas Unerwünschtes, Anstößiges oder Peinliches unsichtbar zu machen oder als nicht akzeptabel zu markieren. Das Tabuisierte gilt dann moralisch als unsagbar, unzeigbar oder unmachbar. In politischen und moralischen Diskursen wird der Begriff Tabuisierung entweder mit irrationalen, moralisch begründeten Verboten und fehlender Aufklärung in Verbindung gebracht (z. B. bei Themen wie Sexismus oder Geschlechterbilder) oder mit dem Ziel, etwas verschweigen zu wollen (z. B. die Realität von Antisemitismus). Das Wort Tabuisierung ist daher negativ konnotiert und kann in diesem Sinne auch als Kampfbegriff bezeichnet werden. In der Alltagssprache finden sich außerdem Formulierungen mit den Mustern „X ist tabu/Tabu/ein Tabubuch/tabuisiert“, mit denen der Tabu-Status eines Themas in der Regel kritisch oder wertneutral thematisiert wird (vgl. Niehr 2023: 32).

Darüber hinaus gibt es Tabuisierung als diskursiven Prozess, der aber in der Regel so nicht bezeichnet wird. Tabuisierung in diesem Sinne ist das Bestätigen oder Ausweiten dessen, was in einer Kommunikationsgemeinschaft nicht geduldet werden kann. Das Gegenteil von Tabuisierung ist Enttabuisierung, also das Ausweiten dessen, was als geduldet werden kann. Besonders betroffen von Tabuisierungen sind Themen, die mit Geschlecht und Körperlichkeit in Verbindung stehen (z. B. Geschlechtsorgane, sexuelle Praktiken, sexuelle Orientierung, Körperfunktionen, Krankheit, Behinderung, Alter), strukturelle gesellschaftliche Ungleichheiten (z. B. Obdachlosigkeit, Rassismus und Sexismus) und Machtlosigkeitspositionen (z. B. Opferstatus). Begangene Tabubrüche werden in der Öffentlichkeit hoch emotional besprochen und sind daher oft mit Thematisierungshemmungen belegt oder führen zu Skandalen.

Es gibt sehr unterschiedliche Grade der Tabuisierung. Sie reichen von fast vollständiger Unthematisierbarkeit (z. B. Pädophilie) bis zur situativen Unangemessenheit (z. B. Komplimente in hierarchischen Arbeitsverhältnissen). Geltende Tabugrenzen können nur selten kontextunabhängig bestimmt werden. Sie unterscheiden sich stark nach der ideologischen und sozialen Gruppe. Z. B. haben eine rechtsextreme Organisation, ein Freundeskreis in der Schule und eine Kirchengemeinde im Gottesdienst jeweils unterschiedliche Tabugrenzen. Außerdem sind Tabugrenzen in einem stetigen Wandel begriffen, der sozialen Wandel begleitet und das Resultat gesellschaftlicher Diskurse darstellt.

Erweiterte Begriffsklärung

Das Tabu wird einerseits als „negative Konvention“ (Rothe/Schröder 2002: 15) definiert und bezeichnet im Gegensatz zum Gebot etwas, das gemieden werden soll. Es gehört damit zu den diskursiven Ausschließungsmechanismen, die Michel Foucault in „Die Ordnung des Diskurses“ definiert. Er ordnet Tabus dort als Prozedur ein, um die Produktion des Diskurses zu „kontrollier[en], selektier[en], organisier[en] und kanalisier[en]“ (Foucault 2012 [1972]: 11). In diesem Sinne sind Tabus also notwendige Voraussetzung für gesellschaftliche Diskurse, da sie bestimmen, was diskutiert werden kann und was nicht. Andererseits gilt es aber auch als negativ, etwas zu tabuisieren. Erhebt jemand den Vorwurf, etwas werde tabuisiert, so unterstellt der-/diejenige fehlende Offenheit im Gespräch oder im gesellschaftlichen Diskurs. In politischen Diskursen kann der Tabuisierungsvorwurf so als „Holzhammer“ (Musolff 1987) verwendet werden, indem Widerspruch als Tabuisierung der eigenen Position ausgelegt wird. Gleichzeitig kann der Tabuisierungsvorwurf auch im aufklärerischen, enttabuisierenden Sinne verwendet werden. Dann drücken sich darin die Anklage von herrschenden irrationalen und damit unbegründeten Verboten sowie Stigmatisierungen aus (z. B. die Tabuisierung von Homosexualität, vgl. dazu Hess-Lüttich 2025, oder von Menstruation, vgl. dazu Gottlieb 2020). In öffentlichen Diskursen explizit von Tabuisierung zu sprechen, ist daher auch in der Regel mit einem Vorwurf verbunden, um (vermeintliche) Sagbarkeits- und Thematisierbarkeitsgrenzen zur Diskussion zu stellen. Systematisch angewendet findet man Tabuisierungsvorwürfe als Mittel der sog. Neuen Rechten (Niehr, 2019; Schröter 2021), wenn z. B. Kritik an antisemitischen und rassistischen Äußerungen als irrationale Eingrenzung des Sagbaren stigmatisiert wird. Tabuisierungsvorwürfe finden sich also sowohl in Enttabuisierungsprozessen (z. B. bei der Enttabuisierung von Homosexualität) als auch mit dem Ziel der Stigmatisierung von Gegenrede (z. B. bei der Verteidigung homophober Einstellungen).

Tabuisierung als gesellschaftliche und diskursive Praxis, wie sie von Diskursgemeinschaften vollzogen wird, wird in der Regel so nicht benannt. Dennoch lassen sich Praktiken finden, mit denen „tabuisierte Gegenstände, Sachverhalte, Taten, Gedanken, Gefühle“ (Hess-Lüttich 2017: 126) aus einer Diskursgemeinschaft ausgeschlossen werden. Dazu gehört erstens das Ausgrenzen oder Ächten von Personen aus dem öffentlichen Leben, die Tabus überschritten haben, wie z. B. Sexualstraftäter*innen. Nicht selten gehen solche Ausgrenzungen mit Skandaldiskursen einher. Die Ausgrenzung und Ächtung kann unterschiedlich strikt und konsequent sein.

Tabuisierung wird zweitens durch das Markieren von Tabugrenzen oder schlicht das Beachten von markierten Tabugrenzen vollzogen. Mitglieder einer Diskursgemeinschaft können bestimmte Thementabus beispielsweise durch Euphemisierungen, Anspielungen oder Metaphern achten und so etikettiert auf etwas Tabuisiertes verweisen, sie markieren dadurch aber gleichzeitig die Tabugrenze und kommunizieren sie mit. Bestehende Grenzen werden so stetig aktualisiert.

Ein weiteres Mittel der Tabuisierung ist drittens die begleitete und didaktisierte Grenzüberschreitung. Oft findet man sie im Zusammenhang mit Themen, über die Aufklärung erwünscht ist, bei denen aber durch starke emotionale Abwehrreaktionen wie Scham die Thematisierung schwerfällt oder bei denen die Aufklärung nicht ausschließlich dem privaten Umfeld überlassen werden soll. Im Sinne der Aufklärung werden Mitglieder einer Diskursgemeinschaft meist in einem geschützten und institutionalisierten Rahmen über tabuisierte Praktiken und Themen informiert. Das Tabuisierte kann dort angeschaut und besprochen werden (z. B. Sexualkundeunterricht) oder es wird davor gewarnt (NS-Gedenkstätten). Mit dem Verlassen des Ortes wird auch die Grenzüberschreitung wieder aufgehoben. Auch dies führt zu einer Aktualisierung, darüber hinaus, aber auch zu einer Begründung und Legitimierung der Tabugrenze (vgl. Kuck i. E.). Im Falle der NS-Gedenkstätten kann das Tabuisierte (antisemitische Texte, faschistische Symbole und Rituale, Dokumente aus Täterperspektive) schon als historisch vollzogener Tabubruch angeschaut und abgelehnt werden. Im Falle des Sexualkundeunterrichts wird das Tabuisierte (Sexualität, Sex, Geschlechtsorgane) durch den als solchen markierten Sexualkundeunterricht erst thematisierbar und das öffentliche Sprechen über diese Themen bekommt dort seinen Platz.

Eine sehr wirksame und schwer zu entdeckende Tabuisierungspraktik ist viertens das (Ver)schweigen und Ausblenden des Tabuisierten. Sie führt zu tatsächlicher Unsichtbarkeit und zu gesellschaftlichem Unwissen. Wissen darüber kann zwar bestehen, es wird aber nicht ins Alltagshandeln oder in alltägliche Denk- und Kommunikationsprozesse mit einbezogen (z. B. nicht-binäre Geschlechtlichkeit). Vom Verschweigen und Ausblenden betroffen sind oft auch begangene Tabubrüche und ihre Folgen. So sind beispielsweise Brüche von Handlungstabus, wie sexueller Missbrauch oder partnerschaftliche Gewalt, selbst wiederum mit Thematisierungshemmungen belegt und werden so öffentlich nicht sichtbar oder ignoriert. Bestrebungen, das Ausgeblendete sichtbar zu machen, findet sich oft in geplanten Aufklärungskampagnen (z. B. Gib AIDS keine Chance) oder auch in sozialen Netzwerken, wie z. B. die Twitterkampagnen #MeToo und #Aufschrei. Auch das berühmte Sterncover Wir haben abgetrieben von 1971 hat die damals ausgeblendete und verschwiegene Praxis der Abtreibung sichtbar gemacht. Solche Tabuisierungen gelangen erst durch Enttabuisierungs- und Sichtbarmachungsversuche ins öffentliche Bewusstsein.

Bei Tabuisierungen spielen immer auch Sprachtabus eine Rolle. Auf (bekannte) tabuisierte Gegenstände, Sachverhalte, Taten, Gedanken, Gefühle kann durch sprachliche Ersetzungsstrategien und Anspielungen Bezug genommen werden, ohne dass das Meidegebot gebrochen wird: Metaphern und Metonymien, Euphemismen, Lautveränderungen, Entlehnungen aus anderen Sprachen, Antiphrasis (das Gegenteil sagen), stellvertretende Pronomen, Wortkreuzungen, Andeutungen und Umschreibungen sind nur eine exemplarische Aufstellung solcher möglicher Ersetzungsstrategien (einen Überblick über Ersetzungsstrategien gibt Schröder 2001). Es wäre jedoch verkürzt, das Sprachtabu als reines Bezeichnungsproblem zu sehen, bei dem lediglich die Benennung eines ‚Gegenstands oder Sachverhalts‘ dem Tabu unterliege, nicht jedoch der Gegenstand selbst (vgl. bspw. Hjelmslev 1963). Tatsächlich ist mit tabuisierten Zeichen zugleich ‚Tabu-Wissen‘ verbunden, das immer mit kommuniziert wird, wie z. B. die starke emotionale Ablehnung des Tabuisierten (z. B. in Wörtern wie Hure oder Nutte). Die kolonialistische und hochgradig rassistische Bezeichnung Neger beispielsweise ist nicht deshalb aus dem öffentlichen Raum verbannt, weil sie auf ein (meist überflüssigerweise hervorgehobenes) körperliches Merkmal referiert, sondern, weil die Bezeichnung von Menschen mit diesem Wort eine rassistische Stigmatisierung beinhaltet. Dieses Wissen ist im deutschsprachigen Raum fester Teil der Bedeutung des Wortes Neger geworden, sodass eine nicht-rassistische Verwendung gar nicht möglich ist (vgl. Kilomba 2011). Menschen, die mit Hure, Nutte oder Neger bezeichnet werden, werden als Personen abgewertet (Meliorisierung). Gleichzeitig kann aber auch ein Wort selbst zum Objekt der Tabuisierung werden, sodass das Aussprechen des Wortes unabhängig vom Kontext einen Tabubruch darstellt (siehe auch Zensur). Diese Form der Tabuisierung betrifft ebenfalls Wörter aus dem diskriminierenden Sprachgebrauch und vor allem kolonialistische Bezeichnungen für Menschen, die keine europäische Herkunft haben oder denen keine Zugehörigkeit zu Europa zugestanden wurde. Die noch recht junge Etablierung der Platzhalter N-Wort, Z-Wort, etc. für metasprachliche Erwähnungen in aufklärerischen Kontexten zeigt, dass auch die Benennung des Wortes als Wort oder die Wiedergabe in Zitaten nicht mehr unetikettiert geschehen kann.

Wer in einer Diskursgemeinschaft die Macht hat, etwas zu tabuisieren, bleibt noch zu erforschen. Ein Akteur, eine Akteursgruppe oder ein Kollektiv müsste in der Diskursgemeinschaft (Bewegung, Szene, Familie, Gemeinde, o. a. soziale Verbände), in der Tabus verändert werden (sollen), mit entsprechender „voice“ ausgestattet sein, um Tabubrecher erfolgreich ächten und ausgrenzen und Tabu-Wissen etablieren zu können. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass beliebige Gegenstände, Taten, Gedanken oder Gefühle tabuisiert werden könnten, da Tabus immer auch an gewachsene Traditionen, Ideale, Diskurse, Werte sowie an soziale Verhältnisse angeschlossen sein müssen. Die Tabuisierung kolonialistischer Bezeichnungen setzt beispielsweise das Selbstverständnis einer postkolonialen Gesellschaft voraus, den Wert der Gleichheit, das Ideal einer vielfältigen Gesellschaft, in der alle Bevölkerungsgruppen gleiche Rechte haben und prinzipiell diskursfähig sind, aber auch die gemeinsame, überlieferte Kolonialgeschichte und ihre sozialen Folgen. Auch die laienlinguistische Vorstellung, dass ‚Sprache als Waffe‘ benutzt werden kann und ‚Worte verletzen‘ können, muss bereits in der Diskursgemeinschaft etabliert sein. Außerdem braucht es moralische Autoritäten und Medien, die diese hörbar machen. Letztlich kann eine Tabuisierung nur in konkreten kommunikativen und kulturellen Praktiken realisiert werden, so dass die konsequente Ächtung des kolonialen Sprachgebrauchs vor allem an skandalisierten Einzelbeispielen in den Massenmedien und an konkreten Sanktionierungen in der Alltagskommunikation beobachtet werden kann.

Beispiele

(1) Der Deutsche Gruß oder auch Hitlergruß, bestehend aus einer Geste des rechten Arms und/oder des Ausrufs Sieg Heil oder Heil Hitler, ist als Symbol fest mit dem deutschen Nationalsozialismus verbunden. Als solches ist es nicht nur verboten, sondern auch tabuisiert, sodass Anspielungen und Verfremdungen, die von dem Gesetz nicht umfasst werden, aber ‚entziffert‘ werden können, emotionale Abwehr, Empörung und soziale Ächtung durch all diejenigen auslösen können, die nicht rechtsextremer Ideologie gegenüber offen sind. Gezeigt werden Symbole wie der Hitlergruß oder auch Hakenkreuze beispielsweise in Gedenkstätten und Ausstellungen zum Dritten Reich, in denen die Bedeutung und Gebrauchsgeschichte der Symbole auch erklärt und somit festgeschrieben werden. Ein ‚unschuldiger‘ Gebrauch ist im öffentlichen Raum damit nicht möglich und die Symbole sind als nicht-akzeptabel bzw. nicht (mehr) zu ‚uns‘ gehörig markiert. Die Verknüpfung von Hitlergruß und Nationalsozialismus bleibt durch das Gebrauchsverbot fest und das wiederum erschwert, dass ein Zeichenwandel durch das Aufladen mit anderen Kontexten und Bedeutungen einsetzen kann. Eine Ambiguierung (ein Mehrdeutig-Machen) des Zeichens ist so nicht ohne weiteres möglich, was Umdeutungs- und Aneignungsversuchen den Boden nimmt. Enttabuisierungen sind so höchst unwahrscheinlich. Ein Enttabuisierungsversuch konnte aber Anfang des Jahres 2025 beobachtet werden. Als Elon Musk bei der Amtseinführung von Donald Trump am 20.01.25 den Hitlergruß zeigte, verwendete er ihn als Zeichen des Triumphs von Donald Trump und seiner Anhängerschaft und rief dadurch gleichzeitig Assoziationen zu ‚Nazideutschland‘ auf. Er setzte das Zeichen dadurch in einen neuen Kontext. Als Reaktion setzte nicht nur äußerst emotionale Kritik an dieser Geste ein, sondern auch an der medialen Berichterstattung, in der Musks Geste oft nicht eindeutig als Hitlergruß bezeichnet wurde. Eines von vielen Beispielen dafür ist ein Artikel des Bayrischen Rundfunks, der mit den Worten einleitet:

Die Geste sorgt für erheblichen Wirbel: Was hat Tech-Milliardär Elon Musk vor den rund 20.000 Trump-Anhängern für eine Armbewegung gemacht? War sein ausgestreckter rechter Arm Zeichen des Dankes – oder ein mutmaßlicher Hitlergruß? Die Reaktionen. (Verenkotte 2025)

Musks Aktion kann als Versuch gelesen werden, den Hitlergruß in neue Kontexte zu transferieren und damit auch anzueignen und zu verändern, und der Artikel des Bayrischen Rundfunks lässt dies zu, indem er verschiedene Deutungsmöglichkeiten zur Auswahl stellt. Die Gegenwehr der deutschen Öffentlichkeit auch in Bezug auf die Berichterstattung impliziert die Erwartung an die öffentlich-rechtlichen Medien, den Hitlergruß als eindeutiges Zeichen zu lesen und seine historische Bedeutung auch als die aktuelle Bedeutung zu verteidigen. Denn nur so kann Musks Geste als Tabubruch gewertet und behandelt werden und die soziale Ächtung des Tabubrechers einsetzen (auch, wenn sie aufgrund seiner unhintergehbaren Machtposition wahrscheinlich ohnehin nicht konsequent durchführbar wäre). Dass Musks Geste diese Eindeutigkeit in vielen deutschen Medien nicht zugeschrieben wurde und stattdessen nach weiteren Deutungsmöglichkeiten gefragt wurde, kann als ein Anzeichen für die Destabilisierung des Tabus ‚Gebrauch von NS-Symbolen‘ gelesen werden.

(2) Das sogenannte Rotlichtviertel betrifft den Tabubereich ‚Kommerzialisierter Sex‘ und ist ein Beispiel für die Markierung und Aufrechterhaltung eines Zeigetabus: In nahezu jeder größeren Stadt findet man meistens in Bahnhofsnähe eine Häufung von Strip- und Tabledance-Bars, Sex-Kinos und Sexshops, die meist in unmittelbarer Nähe zueinander gelegen sind und so einen zusammenhängenden Komplex ergeben. Die tabuisierten Waren (z. B. Pornographie) und Dienstleistungen dürfen nur im Inneren der Geschäfte und Etablissements, nicht aber außen im öffentlichen Raum gezeigt werden. Die Außenseiten werden hier als Grenze zu Räumen markiert, in denen die Zeigetabus des öffentlichen Raums nicht gelten und zu denen der Zugang reglementiert ist. Das führt zur Unsichtbarkeit der Waren, Beschäftigten und der Kundschaft. Produkte und Dienstleistungen können zwar benannt, aber nicht realistisch abgebildet werden. So heißen die Geschäfte und Etablissements oft auch schmucklos Sex Shop oder Erotic Store, Porno Kino und Tabledance Bar. Da solche Orte nachts belebt werden, sind sie durch auffällige Leuchtschrift gekennzeichnet. Abbildungen sind nur in stilisierter Form oder metaphorisch möglich. Es fehlt an Wortspielen und emotionaler Sprache. Das Resultat ist eine wenig variable, funktionale und stark auf Klischees und eindeutige Symbole und Farben reduzierte Kommunikation, die gültige Tabugrenzen markieren und die Tabuisierung damit vollziehen und aufrechterhalten. Die Zeichenästhetik ist darüber hinaus zu einem Signal für den Tabubereich kommerzialisierter Sex geworden und ist entsprechend stigmatisiert. Dass solche Orte (z. B. Reeperbahn) und größere Ketten (z. B. Dollhouse und Erdbeermund) vor allem popkulturell Bekanntheit erlangen – was ihnen mehr sprachliche Kreativität bei der Namensgebung erlaubt – mag als Anzeichen einer Verschiebung der Tabugrenze gelesen werden.

(3) Der Sexualkundeunterricht ist ein Beispiel für eine begleitete und didaktisch aufbereitete Grenzüberschreitung, die der Aufklärung dient, die Tabuisierung der Themen ‚Sex‘ und Geschlechtlichkeit des Körpers‘ außerhalb dieses geschützten Raumes aber aufrechterhält. Aufklärung über Tabuthemen wie Sexualpraktiken, Menstruation und Abtreibung werden so nicht der rein privaten und unkontrollierbaren Sphäre der Familie und Freundeskreise überlassen, sondern zu einem öffentlichen Anliegen gemacht. Zur Aufklärung ist es notwendig, sich expliziten Lehrmaterials und einer expliziten Sprache zu bedienen. Die Tabugrenze verliert dadurch aber nicht an Bedeutung. Denn die Thematisierung wird explizit durch das Ziel der Aufklärung legitimiert und von Lehrpersonal geleitet und kontrolliert. Nach Beendigung des Sexualkundeunterrichts und außerhalb des Unterrichtsraumes ist das Thematisierungstabu wieder intakt. So kann ein Gespräch eines Lehrers oder einer Lehrerin über Sexualpraktiken mit einem Schüler oder einer Schülerin außerhalb der Schule oder schon außerhalb des Sexualkundeunterrichts als Grenzüberschreitung gesehen werden.

Literatur

Zum Weiterlesen

  • Kraft, Hartmut (2008). Nigger und Judensau. Tabus heute. In: Benthien, Claudia/Gutjahr, Ohrtrud (Hrsg.): TABU. Interkulturalität und Gender. München: Fink, 261–273.
  • Kuck, Kristin; Kanz, Vanessa (Hrsg.) (2025): Tabus und Tabubrüche als Symptome gesellschaftlicher Verhältnisse. (= Reihe Magdeburger Forschungen zu Bildungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften 2). Wiesbaden, 1–18.

Zitierte Literatur und Belege

  • Foucault, Michel (2012 [1972]): Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag.
  • Gottlieb, Alma (2020): Menstrual Taboos. Moving Beyond the Curse. In: Bobel, Chris et al. (Hrsg.): The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapur: Palgrave Macmillan, S. 143–162.
  • Havers, Wilhelm (1946): Neuere Literatur zum Sprachtabu. Wien: Akademie der Wissenschaft.
  • Hess-Lüttich, Ernest W. B. (2017): Kultur, Ritual, Tabu – und das Zeichen des Schleiers. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, Jg. 8, Heft 2, S. 119–142.
  • Hess-Lüttich, Ernest W. B. (2025): Queer Spaces. Ein Stadtviertel im Zeichen des Regenbogens. Subkultur in Schöneberg. In: Kuck, Kristin; Kanz, Vanessa (Hrsg.): Tabus und Tabubrüche als Symptome gesellschaftlicher Verhältnisse (Reihe Magdeburger Forschungen zu Bildungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften, Bd. 2). Wiesbaden: Springer VS, S. 151–178.
  • Hjelmslev, Louis (1968): Die Sprache. Eine Einführung. Aus dem Dänischen übersetzt, für deutsche Leser eingerichtet und mit einem Nachwort versehen von Otmar Werner. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  • Kilomba, Grada (2011): Das N-Wort und Trauma. In: Melter, Claus; Mecheril, Paul (Hrsg.): Rassismuskritik. Bd. 1: Rassismustheorie und -forschung. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Wochenschauverlag, S. 140–145.
  • Kraft, Hartmut (2004): Tabu. Magie und soziale Wirklichkeit. Düsseldorf: Patmos.
  • Kuck, Kristin (im Erscheinen): Tabugrenzen errichten und begründen. Didaktisierte Grenzüberschreitungen. In: Klug, Nina-Maria; Lautenschläger, Sina (Hrsg.): Verbotene Texte und Texte des Verbots. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur, 01/2026.
  • Kuck, Kristin; Kanz, Vanessa (2025): Das Tabu als Zugriffspunkt für Gesellschaftsforschung. In: dies. (Hrsg.): Tabus und Tabubrüche als Symptome gesellschaftlicher Verhältnisse (Reihe Magdeburger Forschungen zu Bildungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften, Bd. 2). Wiesbaden: Springer VS, S. 1–18.
  • Musolff, Andreas (1987): Sind Tabus tabu? Zur Verwendung des Wortes Tabu im öffentlichen Sprachgebrauch. In: Sprache und Literatur, Jg. 18, Heft 2, S. 10–18.
  • Niehr, Thomas (2023): Das Sprechen über Tabus in der öffentlichen Kommunikation. Über die gewandelte Bedeutung des Wortes Tabu. In: Böhnert, K.; Maataoui, M.; Slutas, H. (Hrsg.): Tabuthemen aus deutsch-tunesischer Perspektive. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 21–33.
  • Niehr, Thomas (2019): Sprache – Macht – Gewalt oder: wie man die Grenzen des Sagbaren verschiebt. In: Sprachreport, Jg. 35, Heft 3, S. 1–7.
  • Rothe, Matthias; Schröder, Hartmut (2002): Thematische Einleitung. Vom Tabu zur Tabuverletzung. In: dies. (Hrsg.): Ritualisierte Tabuverletzung, Lachkultur und das Karnevaleske. Beiträge des Finnisch-Ungarischen Kultursemiotischen Symposiums, 2002/9. S. 11–15.
  • Schröder, Hartmut (2001): Sprachtabu und Euphemismen. Sprachwissenschaftliche Anmerkungen zu Stefan Schorchs „Euphemismen in der hebräischen Bibel“. In: Häcki Buhofer, Annelies; Burger, Harald; Gautier, Laurent (Hrsg.): Phraseologiae Amor. Aspekte europäischer Phraseologie. Festschrift für Gertrud Gréciano zum 60. Geburtstag. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 229–246.
  • Schröter, Melani (2021): Diskurs als begrenzter Raum. Metadiskurs über den öffentlichen Diskurs in den neurechten Periodika Junge Freiheit und Sezession. In: Skandalisieren, stereotypisieren, normalisieren. Diskurspraktiken der Neuen Rechten aus sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Hamburg: Buske, S. 51–66.
  • Verenkotte (2025): Hitlergruß? Heftige Kritik an Musk – Milliardär wiegelt ab. In BR24. Online unter: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/elon-musks-arm-geste-reaktion-auf-angeblichen-hitlergruss,UaVppB4 ; Zugriff: 01.04.25.

Zitiervorschlag

Kuck, Kristin (2025): Tabuisieren. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 27.11.2025. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/tabuisieren.  

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Diskurssemantische Verschiebung

Mit dem Begriff der diskurssemantischen Verschiebung wird in der Diskursforschung ein Wandel in der öffentlichen Sprache und Kommunikation verstanden, der auf mittel- oder län-gerfristige Veränderung des Denkens, Handelns und/oder Fühlens größerer Gesellschafts-gruppen hinweist.

Domäne

Der Begriff der Domäne ist aus der soziologisch orientierten Sprachforschung in die Diskursforschung übernommen worden. Hier wird der Begriff dafür verwendet, um Muster im Sprachgebrauch und kollektiven Denken von sozialen Gruppen nach situationsübergreifenden Tätigkeitsbereichen zu sortieren.

Positionieren

Positionieren ist Grundbestandteil menschlicher Kommunikation. Wann immer wir miteinander interagieren und kommunizieren, bringen wir uns selbst, andere und die Objekte, über die wir sprechen, in bestimmte Relationen zueinander.

Deutungsmuster

Unter einem Deutungsmuster wird die problem- und lösungsbezogene Interpretation gesellschaftlicher und politischer Tatbestände verstanden, die Aussicht auf Akzeptanz in sozialen Gruppen hat. Der Begriff des Deutungsmusters hat Ähnlichkeit mit den Begriffen der Theorie und Ideologie. Meist werden gesellschaftlich verbreitete Leitdeutungen, die oft mit Schlagwörtern und Argumentationsmustern einhergehen (wie Globalisierung, Kapitalismus, Leistungsgesellschaft, Chancengleichheit etc.) als Beispiele für Deutungsmuster genannt.

Sinnformel

‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und ähnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.

Praktik

Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes Bündel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrücken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).

Kontextualisieren

Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.

Narrativ

Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.

Argumentation

Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Techniken

Dogwhistle

Unter Dogwhistle wird in Teilen der Forschung eine doppeldeutige Äußerung verstanden, die eine offene und eine verdeckte Botschaft an jeweils eine Zuhörerschaft kommuniziert.

Boykottaufruf

Der Boykottaufruf ist eine Maßnahme, die darauf abzielt, ein Ziel, also meist eine Verhaltensänderung des Boykottierten, hervorzurufen, indem zu einem Abbruch etwa der wirtschaftlichen oder sozialen Beziehungen zu diesem aufgefordert wird.

Aus dem Zusammenhang reißen

Das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen gehört in den Funktionskreis der Redewiedergabe bzw. der Wiedergabe kommunikativer Ereignisse. Es kann (1) als intentionale argumentativ-polemische Strategie für ganz unterschiedliche diskursive Zielsetzungen von Akteuren genutzt werden, oder (2) es kann SprecherInnen und SchreiberInnen in unbeabsichtigter, fehlerhafter Weise unterlaufen.

Lobbying

Lobbying ist eine Form strategischer Kommunikation, die sich primär an Akteure in der Politik richtet. Beim Lobbying wird ein Bündel von kommunikativen Tätigkeiten mit dem Ziel eingesetzt, die Entscheidungen von Personen mit politischem Mandat oder den Entstehungsprozess von neuen Gesetzestexten interessengeleitet zu beeinflussen.

Karten

Karten dienen dazu, Raumausschnitte im Hinblick auf ausgewählte Charakteristika so darzustellen, dass die Informationen unmittelbar in ihrem Zusammenhang erfasst und gut kommuniziert werden können. Dazu ist es notwendig, Daten und Darstellungsweisen auszuwählen und komplexe und oft umkämpfte Prozesse der Wirklichkeit in einfachen Darstellungen zu fixieren.

Pressemitteilung

Pressemitteilungen sind standardisierte Mitteilungen von Organisationen, die sich an Journalist:innen und andere Multiplikator:innen richten. Sie dienen der offiziellen und zitierfähigen Informationsweitergabe und übernehmen zugleich strategische Funktionen in der öffentlichen Kommunikation und Meinungssteuerung.

Shitstorm

Der Begriff Shitstorm beschreibt eine relativ junge Diskurskonstellation, die seit den 2010er Jahren an Bedeutung gewonnen hat und gemeinhin als Online-Wutausbruch bezeichnet wer-den kann.

Tarnschrift

Als Tarnschrift bezeichnet man unter den Bedingungen von Zensur und Verfolgungsrisiko veröffentliche Texte, die insbesondere in der strategischen Kommunikation des NS-Widerstands eine zentrale Rolle spielten.

Ortsbenennung

Die Benennung von Orten dient in erster Linie dazu, den jeweiligen geografischen Ort zu lokalisieren und ihn zu identifizieren. Doch Ortsnamen besitzen eine soziale Dimension und spielen eine entscheidende Rolle bei der sprachlich-kulturellen Identitätskonstruktion.

Finanz-Topos

Mit dem Finanz-Topos werden im Diskurs Argumente gebildet, mit denen Akteure bestimmte Maßnahmen als finanziell sinnvoll befürworten oder als unrentabel zurückzuweisen.

Schlagwörter

Echokammer

Der Begriff der Echokammer steht in seiner heutigen Verwendung vor allem im Zusammenhang mit der Nutzung Sozialer Medien. Er verweist metaphorisch auf einen digitalen Kommunikations- und Resonanzraum, in dem Mediennutzer*innen lediglich Inhalten begegnen, die ihre eigenen, bereits bestehenden Ansichten bestätigen, während abweichende Perspektiven und Meinungen ausgeblendet bzw. abgelehnt werden.

Relativieren

Der Ausdruck relativieren besitzt zwei zentrale Bedeutungsvarianten: In bildungssprachlichen und wissenschaftlichen Kontexten bezeichnet er eine analytische Praxis, bei der Aussagen, Begriffe oder Phänomene durch Bezugnahme auf andere Sachverhalte eingeordnet, differen-ziert und in ihrer Geltung präzisiert werden.

Massendemokratie

Geprägt wurde der Begriff Massendemokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von völkisch-konservativen Akteuren (prominent darunter Carl Schmitt 1926). Der Ausdruck Masse hatte damals bei den bürgerlichen Eliten eine rundum bedrohliche Assoziation.

Social Bots

Als Social Bots werden Computerprogramme bezeichnet, die in der Lage sind, in sozialen Medien Kommunikation menschlicher Nutzer*innen (teilweise) automatisiert nachzuahmen.

Kriegsmüdigkeit

Der Ausdruck Kriegsmüdigkeit bezeichnet die emotionale und physische Erschöpfung von Menschen, die einen Krieg erleben, sowie die gesellschaftliche und politische Ermüdung angesichts langanhaltender Konflikte. Er beschreibt den sinkenden Kampfeswillen bei Kriegsparteien und heute wird er auch für das wachsende Desinteresse an Kriegsthemen in Medien und Öffentlichkeit genutzt.

Woke

Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunächst den Bewusstseinszustand der Aufgeklärtheit über die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.

Identität

Unter Identität versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.

Wohlstand

Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.

Remigration

Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.

Radikalisierung

Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.

Verschiebungen

Dehumanisierung

Mit Dehumanisierung bzw. Anthropomorphisierung werden solche kommunikativen Techniken und Praktiken bezeichnet, die Personen, Sachverhalten oder Gegenständen menschliche Eigenschaften ab- bzw. zusprechen. Dehumanisierung und Anthropomorphisierung können sowohl durch sprachliche Mittel als auch durch andere, z. B. bildliche, Zeichen vollzogen werden.

Kriminalisierung

Kriminalität meint ein Verhalten, das gegen ein Gesetz verstößt. Folglich bedeutet Kriminalisierung im engeren Sinne den Vorgang, durch den Verhalten ungesetzlich gemacht wird – indem Gesetze geschaffen werden.

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Partizipatorischer Diskurs

Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im Europäischen Parlament

Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ für die Erweiterung der militärischen Ausstattung und der Verlängerung des Krieges aussprachen. Vorschläge oder Vorstöße auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)

Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit

DiskursReview Die Macht der Worte (4/4):So geht kultivierter Streit Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...

Die Macht der Worte 3/4: Sprachliche Denkschablonen

DiskursReview Die Macht der Worte (3/4):Sprachliche Denkschablonen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...

Die Macht der Worte 2/4: Freund-Feind-Begriffe

DiskursReview Die Macht der Worte (2/4): Freund-Feind-Begriffe Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...

Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen

DiskursReviewDie Macht der Worte (1/4): Wörter als Waffen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 / 06.03.2025...

Relativieren – kontextualisieren – differenzieren

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.