DiskursGlossar

Deutungsmuster

Kategorie: Grundbegriffe
Verwandte Ausdrücke: Account, Deutungsschema, Denkmuster
Siehe auch: Narrativ, Framing, Ideologie, Propaganda, Topos, Hermeneutik, Diskursfigur, Kollektivsymbol
Autor: Clemens Knobloch
Version: 1.0 / Datum: 07.10.2025

Kurzzusammenfassung

Unter einem Deutungsmuster wird die problem- und lösungsbezogene Interpretation gesellschaftlicher und politischer Tatbestände verstanden, die Aussicht auf Akzeptanz in sozialen Gruppen hat. Der Begriff des Deutungsmusters hat Ähnlichkeit mit den Begriffen der Theorie und Ideologie. Meist werden gesellschaftlich verbreitete Leitdeutungen, die oft mit Schlagwörtern und Argumentationsmustern einhergehen (wie Globalisierung, Kapitalismus, Leistungsgesellschaft, Chancengleichheit etc.) als Beispiele für Deutungsmuster genannt. Sie sind in der Regel umstritten und verändern sich über die Zeit. Im Allgemeinen stehen gesellschaftlich-politische Grund- und Leitbegriffe mit ihren jeweils akzeptierten politischen Schlussfolgerungen für Deutungsmuster.

Im Gebrauch schwankt der Begriff zwischen Spontan-Verwendungen ohne weitreichenden Theorieanspruch besonders im medialen und politischen Interdiskurs sowie soziologisch-terminologischen Verwendungen im Fachdiskurs. Wo der Begriff Deutungsmuster mit terminologischem Anspruch verwendet wird, geht er auf die Sozialphänomenologie von Alfred Schütz (vgl. 1932, 1971–72), deren Popularisierung durch Berger und Luckmann (vgl. 1970) und auf frühe Arbeiten von Ulrich Oevermann zurück. Deutungsmuster werden dabei als gesellschaftlich geteilte Wissensbestände verstanden, die das alltägliche Handeln von Menschen und ihre Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit prägen.

Erweiterte Begriffsklärung

Deutungsmuster ist ein verstehenssoziologischer Reflexionsbegriff und als solcher definitorisch schwer zu fassen. Wie andere, ähnlich reflexive Begriffe (z. B. Narrativ oder Topos) fasst auch Deutungsmuster einen schwer zu begrenzenden Komplex diskursiver Praktiken zusammen. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass Deutungsmuster an allen sozialen Handlungen und Ereignissen beteiligt sein müssen, die Anspruch auf Verständlichkeit, Sinn und soziale Resonanz erheben. In diesem Sinne spricht der Soziologe Erving Goffman (1974) von Framing– und Keying-Aktivitäten, mittels derer Teilnehmer sozialer Situationen einander signalisieren, mit welchen Deutungsmustern sie selbst gerade ‚unterwegs‘ sind, damit ihr Verhalten, Ihre Äußerungen etc. für andere Teilnehmer anschlussfähig und verständlich bleiben.

In der fachlichen Praxis sind es aber eher die großen, bewusstseinsnahen und strittigen, eher ideologischen Zusammenhänge, die als Deutungsmuster thematisiert werden. Die alltäglichen Deutungsmuster bleiben dagegen selbstverständlich und bewusstseinsfern, thematisiert werden sie nur dann, wenn Schwierigkeiten auftauchen und Erklärungen improvisiert werden müssen (‚accounts‘). Veranschaulichen kann man sich das an Konstellationen, in denen die Deutungsmuster der Teilnehmer nicht zueinander passen (vgl. Schütz 1972: 55–69). Die Erfahrung von ‚Fremdheit‘ entsteht, wenn die eigenen Auslegungsschemata keinen Bezug zu den Erwartungen der anderen haben. Das gilt für beide Seiten: Der ‚Fremde‘ kann die Reaktionen der anderen auf seine Handlungen und Äußerungen so wenig antizipieren wie umgekehrt.

In der massenmedialen Realität hingegen taucht der Begriff in der Regel ohne terminologischen Anspruch auf. Hier steht er als Schlagwort eher für gruppen- und schichtenspezifische Deutungs- und Denkgewohnheiten und wird meist kritisch-abwertend verwendet. Deutungsmuster stehen in diesem Sinne meist für Deutungen, die der Autor für problematisch oder falsch hält und zu relativieren versucht, kurz: für Deutungen, Ideologien, Gewohnheiten der Gegner- oder gar Feindgruppe (vgl. die Beispiele unten).

Politische Propaganda besteht in der Hauptsache in der Ausarbeitung, Etablierung und Pflege (anti-)hegemonialer Deutungsmuster. Von Ideologien werden Deutungsmuster bisweilen dadurch unterschieden, dass erstere weitgehend einwands- und zweifelsimmun seien und der Vergesellschaftung von Wissen dienen, während Deutungsmuster sich von Fall zu Fall in konkreten Handlungslagen bewähren müssen und eher vergemeinschaften (vgl. Zehentreiter 2001: 41). Eine solche Differenzierung dürfte aber im konkreten Fall nur schwer zu validieren sein. Nach Oevermann (1973) haben Deutungsmuster so etwas wie eine „generative Logik“. Sie müssen so flexibel sein, dass sie für neue Problemlagen transformiert und angepasst werden können.

Begriffsgeschichtlich führt der Ausdruck zurück auf Alfred Schütz‘ (1932) sozialphänomenologischen Klassiker „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“. Allerdings ist dort überwiegend von „Deutungsschemata“ die Rede. Die gemeinte Sache ist aber dieselbe. Auch in den späteren Exil- bzw. US-Texten von Alfred Schütz findet man immer wieder Versuche, den Begriff des Deutungsschemas zu präzisieren. Diese Versuche reichen wiederum von der Alltagssphäre, in der von überliefertem und fraglosem Rezeptwissen, von (für evident geltenden) Gebrauchsanweisungen für Situationen die Rede ist, die nicht genauer untersucht werden (können) – vgl. Schütz (1972: 57) – bis hin zu hoch theoretischen und im Detail modellierten „Appräsentationsbeziehungen“, die das Verhältnis zwischen verschiedenen sozialen Wirklichkeiten (Alltag – Wissenschaft, Wissenschaft – Alltag, Alltag – Kunst etc.) regeln. Für den Umgang der verstehenden Soziologie mit Deutungsmustern bedeutet das, dass die (rekonstruierten) Deutungsmuster der Teilnehmenden selbst den Ausgangspunkt bilden müssen, auf den sich die Deutungsmuster der verstehenden Soziologie reflexiv beziehen. Fachliche Deutungen sozialen Verhaltens, die ohne Rücksicht auf Teilnehmerperspektiven entworfen werden, sagen womöglich etwas über die sozial-kommunikative Realität des Faches Soziologie, aber nichts über die soziale Realität der untersuchten Gesellschaftsmitglieder.

In der fachlichen und publizistischen Praxis werden Deutungsmuster in der Regel aus (gesprochenen oder geschriebenen) Texten interpretativ extrahiert. Schon wegen dieser textuellen Grundlage ist der wissenssoziologische Begriff des Deutungsmusters auch für die Diskursanalyse relevant. In den zu Grunde gelegten Texten geht es in der Regel darum, explizit zu machen, was implizit in den geäußerten Sprachwerken an Deutungsaktivität – an impliziten Annahmen und Zuschreibungen usw. – steckt. Fachlich ist der Begriff ohne eine reflexive Hermeneutik nicht sinnvoll einsetzbar. Das freilich tangiert den publizistisch-medialen Einsatz des Begriffes nicht oder nur wenig, weil dort die angesetzten Deutungsmuster eher ad hoc angesetzt und behauptet als methodisch entwickelt und erschlossen werden.

In der Regel gilt für Deutungsmuster (ähnlich wie für Narrative), dass es zwar so etwas wie einen Haupt- und Grundbegriff gibt, der für das jeweilige Deutungsmuster steht, dass aber zugleich auch jedes zum Muster gehörige Fragment den gesamten Komplex aufrufen kann. In diesem Sinne haben Deutungsmuster eine ‚gestaltartige‘ Organisation. Sie integrieren eine Fülle von Phänomenen, Erfahrungen, Handlungsoptionen etc. zu einem handhabbaren Gefüge. Wenn z. B. alle Erscheinungsweisen des modernen Rechtspopulismus pauschal mit dem hoch kontaminativen Feindbegriff Nazi gedeutet werden, dann erleichtert und vereindeutigt das den diskursiven Umgang mit solchen Phänomenen. Analytisch wäre aber natürlich zu fragen, ob eine solche Kontinuitätssuggestion das Deutungsmuster nicht auch blind macht für das, was an modernen Rechtstrends neu und durch die gegenwärtige politische Konstellation bedingt ist (vgl. Kohlstruck 2021).

Fachlich implementiert findet man den Deutungsmuster-Begriff vor allem im Umkreis der phänomenologisch inspirierten Wissenssoziologie und im Umkreis von Ulrich Oevermanns objektiver Hermeneutik. Zeitweise gab es auch in den Erziehungswissenschaften zahlreiche Veröffentlichungen (einige Beispiele bei Honegger 2001: 113 f). Der Anspruch des Deutungsmuster-Ansatzes in der Wissenssoziologie besteht darin, das weitgehend unvermittelte Nebeneinander von System- und Struktursoziologie auf der einen Seite sowie Sinn-, Einstellungs- und Handlungssoziologie auf der anderen Seite vermittelnd zu überbrücken. Deutungsmuster (so der Anspruch; vgl. Bögelein/Vetter 2019: 15) stehen für ‚Scharniere‘ zwischen den strukturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft und den individuellen Orientierungen der Akteure. Deutungsmuster machen das Handeln der Individuen zugleich subjektiv sinnvoll und systemkompatibel. Im medial-polemischen Gebrauch des Ausdrucks liegt der Akzent freilich eher darauf, dass Deutungsmuster Orientierungen und Handlungen jeweils eigengruppenkompatibel ermöglichen. Was als Gefährdung des sozial-politischen ‚Zusammenhalts‘ einer Gesellschaft kodiert wird, kann auch als Gefüge zunehmend inkompatibler gruppen- und szenenspezifischer Deutungsmuster verstanden werden.

Häufig sind Deutungsmuster durch ein Mit- und Nebeneinander fachdiskursiver und interdiskursiver Implementierungen charakterisiert. Die fachliche Version versieht die medial-interdiskursive mit den Weihen der ‚Wissenschaftlichkeit‘. So zirkuliert die ‚Hufeisentheorie‘ des politischen Spektrums, die rechte und linke Seite des politischen Spektrums gleichsetzt und gegen die Mitte koordiniert vorgehen sieht, sowohl in Teilen der Politikwissenschaft als auch im medio-politischen Interdiskurs. Nicht zu übersehen ist gegenwärtig die Neigung der Mitte-Parteien und ihrer ‚Leitmedien‘, BSW und AfD im politischen Spektrum gleichzusetzen. Die Frankfurter Rundschau, eine ehedem seriöse Zeitung, titelt am 08.08.2024: Ukrainische Mütter in Thüringen haben Angst vor Höcke und Wagenknecht, mit einem Bild, auf dem Höcke und Wagenknecht zu sehen sind, und mit dem zitierenden Untertitel Ich fürchte um meine Kinder. Solchermaßen moralisierende Implementierungen des ‚Hufeisen‘-Deutungsmusters sind nicht selten. AfD-Akteure, die (womöglich zu Recht) vermuten, dass in der gegenwärtigen Konstellation die Gleichsetzung ihnen eher nutzt (und dem BSW eher schadet), laden laufend Frau Wagenknecht ein, doch selbst in die AfD einzutreten.

Globalisierung, um ein anderes polit-ökonomisches Mega-Deutungsmuster zu nennen, ist Gegenstand zahlreicher Fachtheorien, lebt aber auch in der interdiskursiven Alltagserfahrung breiter Schichten als weltweite Angleichung von Lebensweisen, dem einfacheren Zugang zu Konsumgütern, der Verbreitung von Massenkulturen etc. Derzeit kann man beobachten, wie dieses zunächst positiv konnotierende Deutungsmuster (mit all seinen für ein ‚mehr‘ an Globalisierung disziplinierenden Bestandteilen: Standortwettbewerb, Freihandel, Lieferketten, Subventionen, Sanktionen etc.) semantisch umgebaut wird für eine Zeit, in der es nicht mehr die Eigengruppe des ‚Westens‘ ist, die den Prozess kontrolliert und definiert. In diesem Sinne wird Deutschland einerseits als Exportweltmeister gefeiert, während China ob seiner Exportüberschüsse zugleich wettbewerbsverzerrende Subventionen vorgeworfen werden.

Beispiele

Die folgenden Beispiele stammen teils aus den ‚Qualitätszeitungen‘, teils aus Quellen mit wissenschaftlichem Anspruch. Recherchiert wurden sie im DWDS (2025). Die Belege zeigen, dass es zwischen fachlichen und massenmedialen Verwendungsweisen des Begriffs Deutungsmuster fließende Übergänge gibt.

(1) Im folgenden Beleg steht der Begriff eindeutig für stigmatisierte Interpretationsschemata ‚der anderen‘, die bekämpft werden müssen.

Gerade in Krisenzeiten zeigten sich Gesellschaften, genauer Teile von ihnen, anfälliger für die schlichten Deutungsmuster der Verschwörungstheoretiker. So kursierte mit der letzten Wirtschaftskrise erneut das Modell, dass einflussreiche jüdische Wirtschaftseliten ihre Position ausnutzen, um Staaten zu destabilisieren und um die Macht zu gewinnen. (Südkurier, 16.09.2020)

(2) Das zweite Beispiel ist zwar wertneutraler als das erste. Es hat aber ebenfalls den belehrenden Tenor, der die Befangenheit der Individuen in ihren eigenen Bezugssystemen psychologisiert und kritisiert.

 Menschen bauen jede Art von Information sofort in das eigene Deutungsmuster der Welt ein, und wenn wir dann sagen: »Moment, das stimmt nicht«, fühlen sich die Leute persönlich angegriffen. (Neue Zürcher Zeitung, 26.04.2021)

(3) Das folgende Beispiel ist ebenso aus einem Zeitungstext, er ist aber im Duktus neutraler und fachlicher gehalten ist als die ersten beiden Beispiele (1) und (2).

Erinnerungen sind eine Voraussetzung für individuelle und gemeinschaftliche Identität, sie sind aber zugleich abhängig vom sozialen und kulturellen Umfeld, die den Erinnernden Begriffe und Deutungsmuster bereitstellen, um Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. (Neue Westfälische, 27.03.2020)

(4) Die beiden folgenden Beispiele zeigen einen kritisch-historisierenden Gebrauch des Begriffs mit Bezug auf Weltbilder, die in der Gegenwart als überwunden gelten:

 Jede Epoche hat ihre Antithesen und Leitbegriffe, zwischen die sie ihr Selbstverständnis spannt. Zu Melvilles Zeit hießen sie: Wildheit und Zivilisation. Sie boten Deutungsmuster für die amerikanische Expansion nach Westen und die ethnische Säuberung der Indianergebiete; sie legitimierten die Kolonisierung der Welt und die Sklaverei. (Der Tagesspiegel, 01.08.2019)

[…] das Buch kommt nicht los von seinen letztlich theologischen Deutungsmustern, von Sündenfall und Apokalypse, den hocherregten aber gedanklich bequemen Modellen, die als punktuelle Katastrophe ausgeben, was in Wahrheit prozessualen Charakter trägt. (Süddeutsche Zeitung, 26.06.2019)

(5) Im folgenden Beleg wird der Begriff für die Beschreibung von ideologischen Auseinandersetzungen gebraucht, in denen die Deutungen ‚der anderen‘ als tendenziös entlarvt werden.

Der Generalverdacht gegen die USA, sie benutzten Menschenrechte nur als moralischen Vorwand für die Durchsetzung imperialistischer Ziele, und die Warnung vor einem neuen deutschen Militarismus im Windschatten der amerikanischen Führungsmacht sind traditionell Teil »linker« politischer Deutungsmuster. (Die Zeit, 04.11.1999)

(6) Im folgenden psychologischen Fachtext ist der Begriff recht terminologisch verwendet. Er setzt subjektive Sinngebung, historische Fundierung und sozial vorgegebene Muster als Deutungsmuster in Verbindung.

Eine neue Erfahrung erhält ihren subjektiven Sinn, indem sie aus gegenwärtiger Sicht in die Schemata der Erfahrung oder Deutungsmuster des Subjekts eingeordnet wird. (Legewie, Heiner [1980] (2000): Alltagspsychologie. In: Asanger, Roland; Wenninger, Gerd (Hrsg.): Handwörterbuch Psychologie. Berlin: Directmedia.)

Literatur

Zum Weiterlesen

  • Honegger, Claudia (2001): Deutungsmusteranalyse reconsidered. In: Burkholz, Roland; Gärtner, Christel; Zehentreiter, Ferdinand (Hrsg.): Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann. Weilerswist: Velbrück, S. 107–136.
  • Schütz, Alfred (1932): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Wien: Julius Springer [Nachdruck Frankfurt a. M. 1974, Suhrkamp].

Zitierte Literatur

  • Berger, Peter; Luckmann, Thomas (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Bögelein, Nicole; Vetter, Nicole (Hrsg.) (2019): Der Deutungsmusteransatz. Weinheim, Basel: Beltz.
  • Goffman, Erving (1974): Frame Analysis. London: Harper & Row.
  • Honegger, Claudia (2001): Deutungsmusteranalyse reconsidered. In: Burkholz, Roland; Christel Gärtner; Ferdinand Zehentreiter (Hrsg.): Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann. Weilerswist: Velbrück, S. 107–136.
  • Kohlstruck, Michael (2021): Nazi. In: Ranan, David (Hrsg.): Sprachgewalt. Bonn: Dietz, S. 223–232.
  • Oevermann, Ulrich (1973): „Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern“. Unveröffentlichtes Manuskript (Berlin, MPI für Bildungsforschung).
  • Schütz, Alfred (1932): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Wien: Julius Springer [Nachdruck Frankfurt a. M. 1974, Suhrkamp].
  • Schütz, Alfred (1971, 1972): Gesammelte Aufsätze I: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, II: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag: Niejhoff.
  • Zehentreiter, Ferdinand (2001): Systematische Einführung. In: Burkholz, Roland; Christel Gärtner; Ferdinand Zehentreiter (Hrsg.): Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann. Weilerswist: Velbrück, S. 11–106.

Zitiervorschlag

Knobloch, Clemens (2025): Deutungsmuster. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 07.10.2025. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/deutungsmuster/.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Positionieren

Positionieren ist Grundbestandteil menschlicher Kommunikation. Wann immer wir miteinander interagieren und kommunizieren, bringen wir uns selbst, andere und die Objekte, über die wir sprechen, in bestimmte Relationen zueinander.

Sinnformel

‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und ähnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.

Praktik

Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes Bündel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrücken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).

Kontextualisieren

Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.

Narrativ

Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.

Argumentation

Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Agenda Setting

Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Techniken

Aus dem Zusammenhang reißen

Das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen gehört in den Funktionskreis der Redewiedergabe bzw. der Wiedergabe kommunikativer Ereignisse. Es kann (1) als intentionale argumentativ-polemische Strategie für ganz unterschiedliche diskursive Zielsetzungen von Akteuren genutzt werden, oder (2) es kann SprecherInnen und SchreiberInnen in unbeabsichtigter, fehlerhafter Weise unterlaufen.

Lobbying

Lobbying ist eine Form strategischer Kommunikation, die sich primär an Akteure in der Politik richtet. Beim Lobbying wird ein Bündel von kommunikativen Tätigkeiten mit dem Ziel eingesetzt, die Entscheidungen von Personen mit politischem Mandat oder den Entstehungsprozess von neuen Gesetzestexten interessengeleitet zu beeinflussen.

Pressemitteilung

Pressemitteilungen sind standardisierte Mitteilungen von Organisationen, die sich an Journalist:innen und andere Multiplikator:innen richten. Sie dienen der offiziellen und zitierfähigen Informationsweitergabe und übernehmen zugleich strategische Funktionen in der öffentlichen Kommunikation und Meinungssteuerung.

Shitstorm

Der Begriff Shitstorm beschreibt eine relativ junge Diskurskonstellation, die seit den 2010er Jahren an Bedeutung gewonnen hat und gemeinhin als Online-Wutausbruch bezeichnet wer-den kann.

Tarnschrift

Als Tarnschrift bezeichnet man unter den Bedingungen von Zensur und Verfolgungsrisiko veröffentliche Texte, die insbesondere in der strategischen Kommunikation des NS-Widerstands eine zentrale Rolle spielten.

Ortsbenennung

Die Benennung von Orten dient in erster Linie dazu, den jeweiligen geografischen Ort zu lokalisieren und ihn zu identifizieren. Doch Ortsnamen besitzen eine soziale Dimension und spielen eine entscheidende Rolle bei der sprachlich-kulturellen Identitätskonstruktion.

Finanz-Topos

Mit dem Finanz-Topos werden im Diskurs Argumente gebildet, mit denen Akteure bestimmte Maßnahmen als finanziell sinnvoll befürworten oder als unrentabel zurückzuweisen.

Strategische Prozessführung

Der Begriff strategische Prozessführung kombiniert die Worte Strategie im Sinne von Plan und Taktik‘ und Prozessführung im Sinne von ‚Klage vor Gericht‘. Eine einheitliche Definition des Konzepts existiert bislang nicht. Meist werden hierunter (Muster)Klagen von NGOs und Bürgerrechtsorganisationen verstanden, mit denen über den Einzelfall hinausgehende soziale und gesellschaftspolitische Ziele verfolgt werden.

Inszenierte Kontroverse

Inszenierte Kontroversen liegen vor, wenn Politiker, Vertreter von Interessengruppen, Aktivisten, Journalisten, Influencer oder andere öffentlich wirksame Akteure potentiell strittige Themen möglichst effektvoll in einen Diskurs einbringen oder einen entsprechenden Diskurs auslösen, und zwar um entsprechende Perspektivierungen bestimmter Konfliktlagen im eigenen Interesse konfrontativ zu prägen.

-ismus

Bei Ismen geht es ursprünglich um die Wortendung (sog. Suffix) -ismus (Plural -ismen), mit der Substantive mit substantivischem oder adjektivischem Wortstamm (Basis) gebildet werden (z.B. Vulkan-ismus oder Aktiv-ismus).

Schlagwörter

Relativieren

Der Ausdruck relativieren besitzt zwei zentrale Bedeutungsvarianten: In bildungssprachlichen und wissenschaftlichen Kontexten bezeichnet er eine analytische Praxis, bei der Aussagen, Begriffe oder Phänomene durch Bezugnahme auf andere Sachverhalte eingeordnet, differen-ziert und in ihrer Geltung präzisiert werden.

Massendemokratie

Geprägt wurde der Begriff Massendemokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von völkisch-konservativen Akteuren (prominent darunter Carl Schmitt 1926). Der Ausdruck Masse hatte damals bei den bürgerlichen Eliten eine rundum bedrohliche Assoziation.

Social Bots

Als Social Bots werden Computerprogramme bezeichnet, die in der Lage sind, in sozialen Medien Kommunikation menschlicher Nutzer*innen (teilweise) automatisiert nachzuahmen.

Kriegsmüdigkeit

Der Ausdruck Kriegsmüdigkeit bezeichnet die emotionale und physische Erschöpfung von Menschen, die einen Krieg erleben, sowie die gesellschaftliche und politische Ermüdung angesichts langanhaltender Konflikte. Er beschreibt den sinkenden Kampfeswillen bei Kriegsparteien und heute wird er auch für das wachsende Desinteresse an Kriegsthemen in Medien und Öffentlichkeit genutzt.

Woke

Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunächst den Bewusstseinszustand der Aufgeklärtheit über die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.

Identität

Unter Identität versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.

Wohlstand

Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darüber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.

Remigration

Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die Rückkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihren Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen.

Radikalisierung

Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu ändern sucht.

Bürokratie

Bürokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender Ausdrücke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen Bürokratisierung, Bürokratismus und Komposita, als wichtigstes Bürokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.

Verschiebungen

Dehumanisierung

Mit Dehumanisierung bzw. Anthropomorphisierung werden solche kommunikativen Techniken und Praktiken bezeichnet, die Personen, Sachverhalten oder Gegenständen menschliche Eigenschaften ab- bzw. zusprechen. Dehumanisierung und Anthropomorphisierung können sowohl durch sprachliche Mittel als auch durch andere, z. B. bildliche, Zeichen vollzogen werden.

Kriminalisierung

Kriminalität meint ein Verhalten, das gegen ein Gesetz verstößt. Folglich bedeutet Kriminalisierung im engeren Sinne den Vorgang, durch den Verhalten ungesetzlich gemacht wird – indem Gesetze geschaffen werden.

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Partizipatorischer Diskurs

Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, für (mehr) Partizipation zu sorgen.

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im Europäischen Parlament

Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ für die Erweiterung der militärischen Ausstattung und der Verlängerung des Krieges aussprachen. Vorschläge oder Vorstöße auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)

Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit

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Die Macht der Worte 3/4: Sprachliche Denkschablonen

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Die Macht der Worte 2/4: Freund-Feind-Begriffe

DiskursReview Die Macht der Worte (2/4): Freund-Feind-Begriffe Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 /...

Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen

DiskursReviewDie Macht der Worte (1/4): Wörter als Waffen Begleittext zum Podcast im Deutschlandfunk (1) Wörter als Waffen (2) Freund-Feind-Begriffe (3) Sprachliche Denkschablonen (4) So geht kultivierter StreitEin Text vonvon Friedemann VogelVersion: 1.0 / 06.03.2025...

Relativieren – kontextualisieren – differenzieren

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.