DiskursGlossar

Kollektivsymbol

Kategorie: Grundbegriffe
Verwandte Ausdrücke: Deutungsmuster, Bildspendesphäre, Interdiskurs, Spezialdiskurs
Siehe auch: Metapher, Diskurs, Normalismus, Wissen
Autor: Clemens Knobloch
Version: 1.1 / Datum: 19.07.2022

Kurzzusammenfassung

Zur Kollektivsymbolik einer Kultur rechnet man den gesellschaftlich geteilten Vorrat an sprachlichen, bildlichen, schematischen und anderen Ressourcen, derer sich politische und mediale Akteure bedienen, um Ereignisse und Handlungen für die Allgemeinheit deutbar und verständlich zu machen. Kollektivsymbole sind interdiskursive Ressourcen (Interdiskurs), d.h. sie werden eingesetzt, um fachliches und sonstiges Spezialwissen, das der Allgemeinheit nicht direkt zugänglich ist, für die Öffentlichkeit aufzubereiten. Die Kollektivsymbolik einer Kultur ist überwiegend metaphorisch, sie nutzt die analogischen Potenziale allgemein bekannter und vertrauter Erfahrungssphären als Bildspender und projiziert sie in Erfahrungsbereiche, die politisch relevant, aber nicht allgemein zugänglich sind. Was wir als ,Klimawandel‘ oder als ,Globalisierung‘ bezeichnen, besteht fachdiskursiv aus einer ganz unübersichtlichen Fülle von Daten, Erkenntnissen, Details, die womöglich in den Fachdiskursen nicht eindeutig, sondern höchst umstritten sind. Kollektivsymbole rekodieren und resynthetisieren solche spezialdiskursiven Befunde für die Allgemeinheit. Mit Hilfe von Kollektivsymbolen kann Widersprüchliches und gänzlich Neues in die Sphäre des Vertrauten integriert und dort verarbeitet werden. Die soziologische Funktion der interdiskursiven Kollektivsymbolik besteht darin, hochgradig ausdifferenzierte gesellschaftliche Subsysteme und Funktionsbereiche durch allgemein zugängliche Deutungsmuster symbolisch zu reintegrieren. Öffentlichkeit gibt es für spezialdiskursives Wissen nur im Medium interdiskursiver Kollektivsymbolik.

Theorie und Begrifflichkeit der Kollektivsymbolik entstammen im Kern dem Umfeld von Jürgen Link und der Zeitschrift kultuRRevolution.

Erweiterte Begriffsklärung

In aller Regel geht es bei Kollektivsymbolik nicht um einzelne, isolierte Metaphern, sondern um Bildspendesphären, die ein eigenes Ausbaupotential haben wie ,Sport‘, ,Verkehr‘, ,Gesundheit/Krankheit/Medizin‘. Es handelt sich bei den typischen kollektivsymbolischen Sphären um Titel oder Überschriften für allgemein vertraute Bereiche der gesellschaftlichen Kommunikation. Genutzt wird dieses Potenzial als Basis für konventionelle Inferenzen und Folgerungen. Das gilt sowohl für die pragmatische Ebene des Folgehandelns als auch für das jeweilige Begriffsnetz. Wenn ich ein feindliches Land als Krebsgeschwür bezeichne, dann legitimiert das radikale, im Zweifel auch militärische Operationen auf der Handlungsebene und adelt zugleich den militärischen Akteur als verantwortlichen Arzt. Und wenn migrationspolitisch das Boot voll ist, dann legitimiert das ebenso radikale Gegenmaßnahmen, weil sonst Gefahr besteht, dass alle gemeinsam untergehen. Das soziale Netz ist eine Schutz- und Sicherungseinrichtung, es verhindert, dass die Arbeitenden abstürzen, es darf aber nicht zur Hängematte werden, weil es die Betroffenen dann zu Bequemlichkeit verführt. All das sind Sprachbilder, die mit ihren konventionellen Folgerungen zusammen Deutungs- und Orientierungsmuster bilden.

Kollektivsymbole versorgen den politischen Diskurs mit Bildsphären, deren Konnotationen und Implikationen allen Teilnehmern vertraut sind. Sie vereinfachen komplexe Zusammenhänge suggestiv und machen sie öffentlich verhandelbar.

Was das Metaphorische an der Kollektivsymbolik betrifft, so ist daran zu erinnern, dass kein sprachlicher Ausdruck für sich betrachtet metaphorisch ist. Metaphorisch sind stets nur bestimmte Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke, wenn sie Merkmale ihres angestammten und ,eigentlichen‘ Gebrauchs auf andersartige Anwendungssphären projizieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass allenthalben ,metaphorischer‘ und ,eigentlicher‘ Gebrauch sprachlicher Ausdrücke und Ausdrucksnetze nahtlos ineinander übergehen. Wer möchte entscheiden, ob die Begriffsnetze des ,Wettbewerbs‘ eigentlich vornehmlich in den Sport, in die Wirtschaft, in die Politik (oder gar in die Wissenschaft) gehören? Sie werden überall verwendet, und eben das qualifiziert sie für den kulturellen Vorrat an allgemein zirkulationsfähigen Kollektivsymbolen. Das Repertoire kollektivsymbolisch nutzbarer Themen- und Motivfelder wird oft dargestellt im folgenden Schema:

cocsys
Abb. 1: Synchrones System der Kollektivsymbole

Im Allgemeinen werden auch Statistiken, Kurven, Schaubilder zur Kollektivsymbolik „normalistischer“ Kulturen (vgl. Link 2006) gerechnet. Ökonomisch repräsentiert eine von links nach rechts in Wellenlinien leicht ansteigende Kurve das ,Normalwachstum‘, ein plötzlich steiler Abfall repräsentiert eine Krise, eine alsbald wieder steil zur Normalität zurückkehrende V-Kurve beruhigt das Publikum in der Krise, weil sie die Rückkehr zur Normalität repräsentiert. Bleibt sie als L-Kurve nach dem Einbruch dauerhaft niedrig, symbolisiert das die Verstetigung der Krise. Alle Formen der Verpunktung und Verdatung von Gesellschaften nötigen den Einzelnen dazu, sich selbst permanent innerhalb der Verhältnisse zu verorten: Ausbildung, Einkommen, Wohnverhältnisse, politische Orientierung, überall erfahren wir, ,wo wir stehen‘ und ob wir uns noch im gesellschaftlichen Normalfeld aufhalten. Rankings gibt es mittlerweile für Urlaubsorte, Wirtschaftsstandorte und Universitäten, um nur einige Felder zu nennen. Sie spornen die Verantwortlichen an, ihre Position zu verbessern.

Nicht selten sind kollektivsymbolische Darstellungen im politischen Feld durch Bildbrüche (Katachresen) gekennzeichnet. Im politischen Interdiskurs werden derartige Bildbrüche toleriert, während in literarischen Interdiskursen erwartet wird, dass die Bildspendesphäre halbwegs folgerichtig integriert (oder wenigstens integrierbar) sein sollte. In der strukturellen Semantik literarischer Texte (A. Greimas) spricht man in diesem Zusammenhang von semantischen Isotopien (= die textuelle Verkettung rekurrenter semantischer Merkmale). Kollektivsymbolische politische Interdiskurse sind demgegenüber stärker auf der Ebene des Gemeinten semantisch integriert. Wir tolerieren durchaus Leitartikel, in denen die Konjunkturlokomotive den Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig macht und in der Oberliga hält. Und wenn in der Finanzkrise Banken zu Patienten werden, dann wird die staatliche Bankenrettung zur medizinischen Aktion. Lehrbuchbeispiele für Bildbrüche stammen darum meist aus der politischen Sphäre (noch mehr von der Medizin, mit der die überkontrollierte und vom Staat dirigierte deutsche Wirtschaft in den Graben gefahren wurde; FAZ vom 20. Juni 2005; oder der Patient Deutschland, der in den Stürmen vom Weg abgekommen ist etc.).

Da kollektivsymbolische Darstellungsweisen den Weg vom Fach- zum Interdiskurs bahnen, sind interdiskursiv zirkulationsfähige Konzepte und Termini durchaus auch in Fach- und Spezialdiskursen beliebt. Sie bahnen damit auch den Zugang zur allgemeinen Aufmerksamkeit (und oft auch zu Ressourcen, die mit öffentlicher Aufmerksamkeit verbunden sind). In der Fachkommunikation sollten sie freilich Elemente eines definierten terminologischen Netzwerkes („terministic screen“ bei Kenneth Burke) sein. Im Ergebnis (siehe hierzu unter [3] das Beispiel der Coronapandemie-Kollektivsymbolik) kommt es oft zu konkurrierenden fachlichen und interdiskursiven Lesarten der gleichen Ausdrücke.

Das ist darum relevant, weil Expertise und populäre Wissenschaftsversionen zu wichtigen Bildspendesphären geworden sind. Was auf den Wissensseiten der Zeitungen, in den Wissenschaftsformaten von Fernsehen und Internet präsentiert wird, das ist durchweg kollektivsymbolisch zirkulationsfähig gemachter Fachdiskurs (oder es soll jedenfalls so aussehen). Hinter Eröffnungen des Typs Experten haben herausgefunden, dass… verbirgt sich in der Regel die doppelte Autorität kollektivsymbolischer Präsentation und wissenschaftlicher Beweisbarkeit.

Im medio-politischen Interdiskurs wirken Experten durch die (weitgehend automatisierten) Schlussfolgerungen, mittels derer ihre Thesen und ,Tatsachen‘ mit den alltagspraktischen Maximen, Normen, Deutungsmustern und Ideologien der Laien verbunden sind – bzw. durch die Politik verbunden werden können. Im Fachdiskurs sind die gleichen Thesen und Tatsachen mit ganz anderen, nämlich den fachlich geteilten Wissensbeständen verbunden und verbindbar. Eine jede Tatsache ist somit zunächst nicht mehr als ein allgemein akzeptierter Ausgangspunkt für Weiterungen und Folgerungen. Und das müssen keinesfalls überall die gleichen sein. Schon gar nicht bei Experten und Laien. Die Medien wählen darum gerne Experten und Tatsachen, die erwünschte Verbindungen mit der jeweils eigenen Agenda und Position ermöglichen.

Beispiele

(1) Ein besonders interessantes Beispiel bietet die Kollektivsymbolik in der Coronapandemie, und zwar darum, weil die Kollektivsymbolik der ansteckenden Krankheit (Viren, Kontaktbeschränkungen, Quarantäne, Impfung, Prävention etc.), die ja auch zur Bearbeitung politischer Beziehungen zwischen Staaten oder Blöcken eingesetzt werden kann, zur politischen Bewältigung einer ansteckenden Krankheit verwendet wurde (also gewissermaßen auf sich selbst). Eine solche Deckung und Konkurrenz von Kollektivsymbolik und eigentlichem medizinischem Fachdiskurs (von pictura und subscriptio), erlaubt dem Publikum gewissermaßen den direkten Vergleich beider Diskurse. Dass in der Pandemie die Stunde der medientüchtigen Virologen schlug, ist kein Zufall, Widersprüche wurden beobachtbar und Kollateralschäden unübersehbar: Als Kollektivsymbol ‚verhindert eine Impfung die Infektion‘, im Pandemiediskurs musste man dem Publikum erklären, warum die Coronaimpfung die Infektion weder verhindert noch die Umgebung des Geimpften vor Infektion schützt. Experten, die nicht auf der Linie des politischen Interdiskurses lagen, galten plötzlich auch im fachlichen Spezialdiskurs als Verschwörungstheoretiker. Die direkte Berührung beider Ebenen sortiert das Feld auch auf beiden Seiten um. Zu beobachten war auch offene Konkurrenz zwischen medizinischen Fachverbänden (z.B. der Ständigen Impfkommission oder dem Netzwerk der evidenzbasierten Mediziner) und Medien, was die Ausdeutung von Fallzahlen, Todesursachen, Impfwirkungen betrifft (vgl. Knobloch 2020).

(2) Zu den häufig zitierten Standardbeispielen in der Literatur zur Kollektivsymbolik gehört die Abbildung wirtschaftlicher Dynamik im Medium von Transport und Verkehr: Der Konjunkturmotor stottert, die Wirtschaft nimmt Fahrt auf, die Konjunktur stürzt ab, wird gebremst. Die Wirtschaft bleibt auf Kurs, bekommt Rückenwind etc. Autobahn, Überholspur, Stau etc. gehören auch in dieses Repertoire. Auch die Symbolik von Schiff, Kapitän, Ausguck, Sturm, Untergang etc. wird gern für wirtschaftliche und politische Prozesse verwendet.

(3) Zu den Kernbeständen der Kollektivsymbolik gehört das Orientierungsschema für den politischen Raum, das aus den Positionen Links–Mitte–Rechts besteht. Dieses Schema ermöglicht ein bewegliches Management von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, von Innen und Außen, sowie die fallweise Verräumlichung des politischen Feldes. Es gibt zwei Varianten dieses Schemas: einmal die ,Gleichgewichtswaage‘, bei der die Mitte ein Wunschort sowie das Zentrum der ,Normalität‘ ist, während die Ränder für bedrohlich, tendenziell nicht normal, aber partiell integrierbar gelten. Typische Themen- und Personenkarrieren beginnen an den Rändern, die aufmerksamkeitspolitisch privilegiert sind, und enden in der Mitte. Die Ränder wiederum werden gegliedert in links/rechts – radikal – extremistisch – terroristisch. Die Ausschließungszone (Beobachtung durch den Verfassungsschutz, drohendes Verbot etc.) beginnt mit dem Prädikat extremistisch. Themen, Personen und Organisationen können im politischen Raum strategisch verschoben werden, aus der gehegten Mitte heraus an die Ränder und von den Rändern zur Mitte.

Die zweite Variante des Schemas, meist mit der krisenhaften Spätphase der Weimarer Republik assoziiert, ist die des ,symbolischen Bürgerkriegs‘, bei der die Mitte als verächtlicher Ort gilt und die extremen Ränder sie gemeinsam bekämpfen.

(4) Die Kollektivsymbolik der ,sozialen Landschaft‘, zum Verhältnis von attraktiver, Stabilität garantierender Mittelschicht, Reichen, Superreichen und Marginalisierten, Armen etc. bildet ebenfalls ein Zentralgebiet von Politik und Medien. Ursula Kreft (2001) hat das Verhältnis bildlicher, narrativer und sonstiger kollektivsymbolischer Ressourcen zu diesem Feld untersucht: Die einschlägige Kollektivsymbolik macht Gebrauch von exemplarischen Einzelfallgeschichten (rasche Aufstiege nach oben, steile Abstürze von oben), Modellcharakteren (Selbstunternehmer etc.), bildlichen Darstellungen der Sozialordnung (Schiff mit Sonnendeck und Unterdeck für die Ruderer etc.), Warngeschichten über die schrumpfende Mitte etc.

(5) Zu den typischen Anwendungsfeldern von Kollektivsymbolik gehört auch deren kritisch-satirischer Einsatz, wie z.B. im folgenden Bild von Michael Sowa, das ein Sprachbild mit Hilfe einer Illustration ,veranschaulicht‘:

Kollektivsymbol Abb2 Boot ist voll
Abb. 2: Michael Sowa: „Das Boot ist voll“

 

Literatur

Zum Weiterlesen

  • Becker, Frank; Gerhard, Ute; Link, Jürgen (1997): Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (II). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. (IASL), 22, S. 70–154.
  • Gerhard, Ute; Link, Jürgen; Schulte-Holtey, Ernst (Hrsg.)(2001): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartographie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg: Synchron.

Zitierte Literatur

  • Becker, Frank; Gerhard, Ute; Link, Jürgen (1997): Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (II). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. (IASL), 22, S. 70–154.
  • Burke, Kenneth (1966): Terministic Screens. In: ders.: Language as Symbolic Action. Berkeley, L.A.: University of California Press. S. 44-62.
  • Gerhard, Ute; Link, Jürgen; Schulte-Holtey, Ernst (Hrsg.)(2001): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartographie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg: Synchron.
  • Greimas, Algirdas J. (1966): Sémantique structurale. Paris: Larousse.
  • Jäger, Margarete; Jäger, Siegfried (2007): Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse. (= Medien – Kultur – Kommunikation). Wiesbaden: VS Verlag.
  • Knobloch, Clemens (2001): Aus Alt mach Neu: Links, Mitte, Rechts. In: Gerhard, Ute; Link, Jürgen; Schulte-Holtey, Ernst (Hrsg.)(2001): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartographie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg: Synchron. S. 175-190.
  • Knobloch, Clemens (2020): Über die Rolle der Experten im Corona-Notstand. In: kultuRRevolution 79/2020.
  • Kreft, Ursula (2001): Tiefe Risse, bedrohliche Verwerfungen. Soziale Ordnung und soziale Krise in deutschen Printmedien. In: Gerhard, Ute; Link, Jürgen; Schulte-Holtey, Ernst (Hrsg.)(2001): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartographie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg: Synchron. S. 127-148.
  • Link, Jürgen (1997): Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Stuttgart: UTB.
  • Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität hergestellt wird. 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck.

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Synchrones System der Kollektivsymbole. In: Link, Jürgen (1984): Diskursive Rutschgefahren ins vierte Reich? Rationales Rhizom, in: kultuRRevolution – zeitschrift für angewandte diskurstheorie. Nr. 5, 1984, S. 12-20.
  • Abb. 2: Michael Sowa: „Das Boot ist voll“. In: Roth, Claudia (Hrsg.).: Neue Mauern. Ein Postkartenbuch von 1994. o.S.

Zitiervorschlag

Knobloch, Clemens (2022): Kollektivsymbol. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 19.07.2022. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/kollektivsymbol.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Normalismus

Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.

Wissen

Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.

Werbung

Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf Einführung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.

Mediale Kontrolle

Medien werden vielfältig zur Durchsetzung von Macht verwendet. So in der Zensur, wenn eine politische Selektion des Sagbaren und des Unsagbaren stattfindet; in der Propaganda, wenn eine Bevölkerung von den Ansichten oder wenigstens der Macht einer bestimmten Gruppe überzeugt werden soll; oder in der Überwachung, die unerwünschtes Verhalten nicht nur beobachten, sondern unwahrscheinlich machen soll.

Freund- und Feind-Begriffe

Freund-, Gegner- und Feindbegriffe sind Teil der Politischen Kommunikation. Sie bilden die Pole eines breiten Spektrums von kommunikativen Zeichen, mit denen politische Akteure sich selbst und ihre politischen Gegner im Kampf um beschränkte Ressourcen auf dem diskursiven Schlachtfeld positionieren.

Sprachpolitik / Sprachenpolitik

Sprachpolitik bezeichnet allgemein alle politischen Prozesse, die auf eine Beeinflussung der Sprachverwendung in einer Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft abzielen. Unterschieden wird häufig zwischen Sprachenpolitik und Sprachpolitik im engeren Sinne.

Sagbarkeit

Im öffentlichen Diskurs findet sich häufig die strategische Behauptung, dass bestimmte Fakten oder Meinungen unsagbar seien. Auf diese Weise wird zum Ausdruck gebracht, dass es Grenzen des Sagbaren gebe, die im öffentlichen Diskurs Geltung hätten.

Kulturelle Grammatik

Kulturelle Grammatik steht für ein System von Regeln und/oder etablierten Regelmäßigkeiten, die Formen richtiger und/oder normaler Kommunikation und Interaktion auszeichnen.

Techniken

Passivierung

Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenüber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden müssen, was beispielsweise in Gesetzestexten für eine (gewünschte) größtmögliche Abstraktion sorgt („Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 3 GG).

Aufopferungs-Topos

Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren.

Opfer-Topos

Als Opfer-Topos bezeichnet man eine diskursive Argumentationsstrategie, bei der sich Akteure als ‚Opfer‘ gesellschaftlicher Urteilsbildung inszenieren und damit eigene Interessen – vor allem Aufmerksamkeit und Berücksichtigung von Bedürfnissen – geltend zu machen versuchen.

Analogie-Topos

Der Analogie-Topos zählt zu den allgemeinen bzw. kontextabstrakten Argumentationsmustern, die genutzt werden können, um für oder gegen eine Position zu argumentieren. Analogie-Topoi werden von verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen strategisch eingesetzt, um eine zustimmende Haltung bei den Zielgruppen zu bewirken.

Negativpreis

Ein Negativpreis ist eine Auszeichnung an Personen oder Organisationen (meist Unternehmen), die sich oder ihre Produkte positiv darstellen und vermarkten, ihre Versprechen aus Sicht des Preisverleihers allerdings nicht einhalten. Dabei dient der Preis durch seine Vergabe vor allem dem Zweck, Aufmerksamkeit zu erregen, mediale Präsenz auf ein Thema zu lenken und den Preisträger in seinem moralischen Image zu beschädigen.

Be-/Überlastungs-Topos

Der Be-/Überlastungstopos ist ein Argumentationsmuster, das vorwiegend in der politischen Kommunikation eingesetzt wird. Als zu vermeidende Konsequenz einer konkreten Situation wird mit dem Be-/Überlastungstopos ein Be- bzw. Überlastungs-Szenario skizziert.

Wahlkampf

Wahlkämpfe sind Zeiten stark intensivierter politischer Kommunikation. Politische Parteien entwickeln Programme für die nächste Legislaturperiode in der Hoffnung, durch entsprechenden Stimmengewinn zu deren Umsetzung ermächtigt zu werden.

Wir

Das Pronomen wir erfüllt aber noch eine weitere diskursive Funktion: Ein Fundament des politischen Diskurses sind dynamische politische Ideologien: Glaubens- und Wissenssysteme von politischen und sozialen Gruppen.

Petition

Petitionen sind eine der am meisten genutzten Partizipationsformen nach Wahlen. Sie sind sowohl ein Mittel der politischen Beteiligung als auch ein Protestmittel und damit Zwitterwesen in der politischen Landschaft. Durch die Digitalisierung haben sich Petitionen zudem maßgeblich verändert, ihre Zahl hat zugenommen, ebenso wie die Zahl der Plattformen, auf denen sich Petitionen starten lassen.

Influencer / Influencerin

Influencer:innen sind Personen, die auf Social-Media-Plattformen regelmäßig selbst produzierte Inhalte publizieren und damit eine öffentliche Reichweite über ihre Follower:innen aufbauen. Influencer:innen haben das Potenzial, Rezipient:innen in ihrem Wissen, Einstellungen und Verhalten zu beeinflussen (engl. to influence).

Schlagwörter

Demokratie

Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.

Plagiat/Plagiarismus

Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.

Fake News

Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.

Lügenpresse

Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.

Antisemitismus

Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene Phänomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloßen Distanzierung und Behauptung jüdischer Andersartigkeit, über vollständig ausgearbeitete Weltbilder, die Jüdinnen*Juden für sämtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken.

Grammatiknazi / Grammar Nazi

Das überwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi – als Übersetzung von engl. grammar nazi – wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den Äußerungen anderer (häufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen üben.

Respekt

Respekt oder respektvolles Verhalten wird eingefordert für die Eigengruppe (bzw. von der Eigengruppe), für wirklich oder vermeintlich diskriminierte Gruppen, für abweichende Meinungen. Mitgemeint ist bei der Forderung nach Respekt meist eine positiv bewertete Szene der (sozialen, kulturellen, ethnischen, sexuellen etc.) Vielfalt/Diversität.

Geschlechtergerechte Sprache

Mit dem heute als Fahnenwort gebrauchten Ausdruck geschlechtergerechte Sprache ist die Forderung verbunden, bei Personenbezeichnungen die einseitige, für diskriminierend erklärte Bezugnahme auf einen bestimmten Sexus, konkret: auf das männliche Geschlecht, zu unterlassen.

Identitätspolitik

Der Ausdruck steht heute für eine politische Konstellation, in der konkurrierende Wir-Gemeinschaften mit einer Diskriminierungs- und Benachteiligungsgeschichte in der Öffentlichkeit um Anerkennung konkurrieren. An der Oberfläche geht es ‚identitären‘ Wir-Gemeinschaften darum, die eigene Diskriminierung als Ermächtigungsmotiv an die Öffentlichkeit zu tragen.

Cancel Culture

Cancel Culture ist ein Kampf- und Stigmawort, das sich in skandalisierender Absicht gegen die Praxis (und oft auch bereits gegen die Forderung) des Absagens, Ausladens, Boykottierens moralisch missliebiger und politisch bekämpfter Personen, Organisationen und Positionen in Wissenschaft, Kultur und Politik wendet.

Verschiebungen

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft!

Im Herbst 2022 veranstalteten die Sender des Deutschlandradios eine Kampagne mit Hörerbeteiligung zur Auswahl eines Themas, mit dem sich ihre sogenannte „Denkfabrik“ über das kommende Jahr intensiv beschäftigen solle. Fünf Themen standen zur Auswahl, „wehrhafte Demokratie“ wurde gewählt, wenig überraschend angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine…

Satzsemantik von Vorhersage und Nutzen-Risiko-Abwägung: Die STIKO-Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige vom 18. August 2021

“Die Forschung muss… sich in die Lage versetzen, die politischen Implikationen, die sie hat, anzunehmen und auszuforschen, um nicht beim ersten Knall der Peitsche durch alle ihr vorgehaltenen Reifen zu springen. Diese Integrität kann die Wissenschaft gerade dadurch unter Beweis stellen, dass sie dem herrschenden Druck, praktische Tabus in theoretische umzuwandeln, widersteht” (Beck 1986, 283)

Review-Rückblick

In dieser Rubrik veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen kurze Notizen zu Ereignissen oder Phänomenen, die in den vergangenen Wochen in der strategischen und öffentlichen Kommunikation zu beobachten waren. Die Texte kommentieren subjektiv, unsystematisch, teils widersprüchlich und hoffentlich pointiert. Sie erheben keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, beobachten ihren Gegenstand aber von einer diskursanalytischen und -interventionistischen Position aus und sollen zum Widerspruch einladen. Sie repräsentieren nicht die Position der Redaktion des Diskursmonitors, sondern ihrer jeweiligen Autorinnen und Autoren.

Rasse, Rassismus

1) Zu Beginn drei exemplarische Medienereignisse aus der jüngsten Vergangenheit, in denen es um den Komplex Rasse, Rassismus ging…

Freund-Feind-Begriffe: Zum diskurssemantischen Feld soziopolitischer Kollektivierung

Mit jeder sprachlichen Äußerung (und das schließt das Nicht-Äußern mit ein) positioniert sich der Sprecher oder Schreiber sowohl innerhalb eines von ihm intersubjektiv (re)konstruierten als auch eines objektiven (d.h. objektivierbaren) diskursiven Raum sozialer Gruppen. Möglich ist dies nur aufgrund der sozialsymbolischen (indexikalischen) Bedeutung kommunikativer Zeichen im Bühlerschen Sinne…

PR, Punk oder Provinz: Wie Corona-Forschung die Öffentlichkeit (nicht) erregt.

Jeden Tag erreichen uns neue Nachrichten, neue Zahlen, neue Grafiken zur laufenden Corona-Pandemie. Wer erinnert sich da noch daran, was vor zwei oder drei Monaten oder vor einer Woche öffentlich diskutiert wurde? Vielleicht sind nur zwei Debatten wirklich in unserem öffentlichen Gedächtnis hängen geblieben, unter anderem, weil sie es zu eigenen Twitter-Hashtags gebracht haben: #HeinsbergProtokoll und #IchHabeBesseresZuTun…