DiskursGlossar
Negativpreis
Kategorie: Techniken
Verwandte Ausdrücke: Schmähpreis
Siehe auch: Guerillakommuniktion, Imageverschmutzung, Skandalisierung
Autorin: Mona Srenk
Version: 1.2 / Datum: 19.12.2022
Kurzzusammenfassung
Ein Negativpreis ist eine Auszeichnung an Personen oder Organisationen (meist Unternehmen), die sich oder ihre Produkte positiv darstellen und vermarkten, ihre Versprechen aus Sicht des Preisverleihers allerdings nicht einhalten. Dabei dient der Preis durch seine Vergabe vor allem dem Zweck, Aufmerksamkeit zu erregen, mediale Präsenz auf ein Thema zu lenken und den Preisträger in seinem moralischen Image zu beschädigen. Die Preisgewürdigten sowie Teile der Öffentlichkeit (zum Beispiel staatliche Behörden oder KundInnen) sollen zu Verhaltensänderungen bewegt werden (beispielsweise dazu, eine kritisierte Produktbeschreibung zu korrigieren, Unternehmenskontrollen durchzuführen oder das Konsumverhalten zu verändern). Der Erfolg von Negativpreisen hängt dabei maßgeblich davon ab, dass seine Verleihung in möglichst vielen Massen- und Sozialen Medien aufgenommen und verbreitet wird.
Erweiterte Begriffsklärung
Der Negativpreis ist „eine Auszeichnung, mit der besonders negativ zu bewertende Produkte, Phänomene oder kritikwürdige Personen, Institutionen o.Ä. angeprangert werden“ (DWDS: 2022b). Der Begriff Schmähpreis wird synonym hierzu verwendet (vgl. DWDS: 2022a).
Ein Negativpreis wird national sowie international von verschiedenen Organisationen in unterschiedlichen Kategorien vergeben. Beispielsweise wird Die Mogelpackung des Jahres an Hersteller überreicht, die regelmäßig Füllmengen und Preise verändern und sich so dem Vorwurf der versteckten Preiserhöhung aussetzen müssen (vgl. DWDS: 2022a).
Wie funktioniert ein Negativpreis? Ein Negativpreis wird vergeben, um mediale Aufmerksamkeit auf ein zuvor vernachlässigtes Thema zu lenken. Dafür wird auf Imageverschmutzungen zurückgegriffen, mit dem Ziel, dem Ruf der Gegenseite nachhaltig zu schaden und so ihre kritisierten Vorhaben zu be- oder verhindern. Den kritisierten Produktherstellern wird zumeist vorgeworfen, sich auf Kosten anderer, zum Beispiel auf Kosten von VerbraucherInnen, mit falschen Versprechen positiv darzustellen. Die Imageverschmutzung ist vor allem dann erfolgreich, wenn beobachtende Dritte, beispielsweise KonsumentInnen, infolge einer veränderten Wahrnehmung des Preisgewürdigten ihr Handeln (z.B. Konsumverhalten) anpassen. Die Preisvergebenden beanspruchen den Status einer moralischen Korrekturinstanz, die im Namen der Allgemeinheit handelt und darum in legitimerweise einem/r GegnerIn einen öffentlichen Imageschaden zufügen kann (der potenziell justiziabel sein kann). Auch darum ist mediale Präsenz und große Reichweite eine wichtige Erfolgsbedingung für Negativpreise (vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe 2012: 149). Von hoher Priorität ist, die Aufmerksamkeit der KonsumentInnen auf verbraucherrelevante Themen zu lenken und damit zum Handeln im Hinblick auf bestimmte Diskurse anzuregen. Negativpreise sind darum oft Teil von Skandalisierungspraktiken, die Aufmerksamkeit verschaffen und dabei helfen, bislang nicht involvierte ZuschauerInnen (z.B. Presse, Behörden, andere NGOs) zu weiterer Aufklärung und/oder Sanktionen zu motivieren (vgl. Reese-Schäfer 2017: 78).
Berichterstattung und Reaktion der Gegenseite: Für die Bekanntgaben werden nicht nur klassische Massenmedien genutzt, sondern auch Internetseiten oder soziale Medien wie Facebook, Instagram oder YouTube. Hierbei nutzen NGOs, wie beispielsweise Foodwatch, die Portale auch selbst, um ihre Berichte zu verbreiten. Darüber hinaus knüpfen sie die Preisvergabe an Aufmerksamkeit-generierende Aktionen an: Zahlreiche Medien berichten, wenn Foodwatch am Ende ihrer Kampagne zum jeweiligen Firmensitz reist, um den Goldenen Windbeutel persönlich an die GewinnerInnen zu überreichen. Durch diese Aktion und die damit einhergehende mediale Präsenz steigt der Handlungsdruck bei Betroffenen (vgl. Nessel 2016: 183). Format sowie Medium der Verleihung variieren je nach Akteur. Der internationale Negativpreis Goldene Himbeere (auch Anti-Oscar genannt) veranstaltet beispielsweise ein Oscar-ähnliches Event, um die GewinnerInnen bekanntzugeben.
Die Kritik von Foodwatch im Rahmen der zuvor erwähnten Kampagnen wird von der Gegenseite als ernstzunehmende Image-Bedrohung wahrgenommen, die nur selten ignoriert wird. 2013 kündigte der nominierte Hersteller und spätere Preisträger Capri-Sonne bereits im Vorfeld der Abstimmung Zurückweisung im Falle der Preisvergabe an (vgl. Nessel 2016: 183). Andere Unternehmen reagierten im Nachgang, indem sie Etikettierungen änderten oder Produkte vom Markt nahmen, sich damit – gezwungenermaßen – teilweise kooperativ zeigten. Die Annahme des Preises wird dennoch in den meisten Fällen verweigert, sich aber mit den Preisvergebenden auseinandergesetzt. Unternehmen und damit auch GewinnerInnen des Goldenen Windbeutels der letzten Jahre wie Hochland, Alete oder Coca-Cola gaben dazu in schriftlichen Stellungnahmen bekannt, wieso sie den Preis als nicht gerechtfertigt ansahen und verteidigten ihre Produkte oder ihre Geschäftsaktivitäten. Den AktivistInnen wurde dann auch der Zutritt zu ihren Gebäuden verwehrt.
Beispiele
(1) Negativpreis Unwort des Jahres
Das Unwort des Jahres wird von einer unabhängigen und ehrenamtlichen Initiative, bestehend aus SprachwissenschaftlerInnen und einer Journalistin, bestimmt. Hierbei wird vorab öffentlich dazu aufgerufen, Vorschläge für Preiskandidaten (umstrittene Wörter oder Phrasen) bis Jahresende einzusenden. Bedingung ist dabei, dass das Wort in einem öffentlichen Kontext geäußert wurde. Da hier kein/e ausgewählte/r GegnerIn, wie beispielsweise ein Unternehmen, im Fokus steht, wird das gekürte Wort lediglich auf der Webseite der Initiative und durch eine Presseerklärung bzw. einer Pressekonferenz bekannt gegeben und kurz begründet.
Auf der Internetseite finden sich Stellungnahmen zum erst- und zweitplatzierten Unwort sowie Angaben zur Art und Anzahl der Einsendungen. Motiv der Unwortwahl ist zum Beispiel, dafür zu sensibilisieren, „die Grenzen des öffentlich Sagbaren nicht immer weiter in Richtung Menschenfeindlichkeit, antidemokratische Tendenzen und Zynismus verschieben zu lassen“ (Wengeler 2020: 195). Die Jury bemüht sich um einen Balanceakt zwischen linguistisch begründeter und populärer Sprachkritik (Sprachkritik als Diskurskritik) und möchte damit zur Reflexion des Sprachgebrauchs anregen (vgl. Wengeler 2020: 200). Über die Unwortwahl wird auch in zahlreichen öffentlichen Medien wie die Tagesschau, ZDF oder Die Zeit berichtet, was dann von öffentlichen Personen und letztlich auch von durch die Kritik Betroffenen kommentiert wird (siehe Abb. 1), aber auch dem Zweck der Distanzierung dient
(siehe Abb. 2). Bei der Wahl zum Unwort des Jahres zeigt sich typischerweise in weiteren Verläufen, ob die Gegenseite die unerwartete Aufmerksamkeit für ihre Zwecke erntet, indem sie sich als Opfer einer ,Sprachpolizei‘ darstellt oder ob sie die Kritik lediglich ignoriert.
Abb. 1: Tweet von Alice Weidel (2020): Klimahysterie ist das Unwort des Jahres 2019.
Abb. 2: Tweet von Nurder Koch (2021): Pushback ist Unwort des Jahres 2021.
Die Wahl zum Unwort des Jahres wird (in der Fachwelt) zuweilen als willkürlich und unwissenschaftlich kritisiert, weil eine sprachwissenschaftliche Begründung der Begriffe meist nicht möglich sei (vgl. Wengeler 2020: 198). Linksliberale KritikerInnen fordern zudem eine ‚echte‘ Aufklärung über die Unzufriedenheit der BürgerInnen im (politischen) Alltag und damit überhaupt die Entstehung der Unwörter.
(2) Negativpreis Goldener Windbeutel
Foodwatch ist ein 2002 gegründeter Verein, der sich die Förderung des Verbraucherschutzes durch gekennzeichnete Produkte sowie mehr Transparenz in der Lebensmittelproduktion zum Ziel gesetzt hat. Dabei geht er vor allem auf die für ihn unzureichende Kennzeichnung von Inhaltsstoffen, Herkunft und Produktionsbedingungen der Lebensmittel ein. Der Verein setzt auf Enthüllungen, Studien und Kampagnen, um auf eigene Untersuchungsergebnisse aufmerksam zu machen (vgl. Nessel 2016: 173-174). Foodwatchs Negativpreis Goldener Windbeutel wird seit 2009 für die ,Werbelüge des Jahres‘ an auserwählte Konzerne vergeben. Dabei geht Foodwatch bereits mit dem Preisnamen Windbeutel auf den Grund zur Auswahl des ausgezeichneten Produktes ein: Der Begriff steht nicht nur für ein Lebensmittel, sondern wird umgangssprachlich auch im übertragenden Sinn abwertend für eine oberflächliche und prahlerische Person verwendet, die sich gut in Szene zu setzen weiß, allerdings wenig Essenz enthält (vgl. DWDS: 2022c).
Typisch für Foodwatch ist, die konstatierten Missstände oder ‚Fehlverhalten‘ der Unternehmen medial zu skandalisieren (vgl. Nessel 2016: 180). Die Gegenseite soll durch medial erzeugten Druck dazu bewegt werden, ebendieses Fehlverhalten einzustellen. Dabei verkleidet sich ein/e AktivistIn stets als dasjenige Produkt, das für Foodwatch die dreisteste Werbelüge darstellt (siehe Abb. 3) (vgl. Baringhorst / Witterhold 2017: 559). Zudem postet Foodwatch selbst auf seinem YouTube-Kanal ein Video zur Preisvergabe mitsamt Informationen zur Stimmverteilung sowie zum Preisträger und zeigen die tatsächliche Preisübergabe und dazugehörige Vorbereitungen (vgl. Foodwatch 2021).
Abb. 3 Screenshot von Foodwatch (2021): Rewe gewinnt den Goldenen Windbeutel.
Rewe, Preisträger 2021 (siehe Abb. 3), stand für ein Gespräch nicht zur Verfügung und bot nur die Möglichkeit, den Preis per Post einzusenden. Zuvor gab das Unternehmen bereits eine Stellungnahme ab, dass Foodwatchs Vorwürfe unbegründet seien. Über die Vergabe des Negativpreises wurde auch auf diversen Webseiten von Nachrichtenagenturen, -portalen und Magazinen in unterschiedlichem Umfang berichtet. Am 11. Februar 2022 berichtete Foodwatch auf Facebook, Rewe habe in Folge der öffentlichen Kritik die Zusammenarbeit mit dem ‚fake-Klimaschutz-Waldprojekt in Peru‘ beendet (vgl. Foodwatch: 2022).
Foodwatch sieht sich durch seine Kampagnenführung starken medialen Gegenkampagnen ausgesetzt, die die Glaubwürdigkeit der Organisation vielfach in Bezug auf die Spendenfinanzierung in Zweifel ziehen (vgl. Nessel 2016: 179). Auch bei der Entscheidungsfindung des/der GewinnerIn wird Foodwatch regelmäßig mangelnde Transparenz zu Auswahlkriterien und Wahl vorgeworfen. Kritisiert wird, Nominierungen achteten lediglich auf die Prominenz der Unternehmen und weniger auf die Dreistigkeit bzw. den tatsächlichen Stellenwert der Irreführung. Kritiker fordern außerdem, nicht nur die Produzenten, sondern auch die KonsumentInnen stärker in die Verantwortung zu nehmen (vgl. Hasso 2014: 50-52).
Literatur
Zum Weiterlesen
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Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe; Blissett, Luther; Brünzels, Sonja (2012): Handbuch der Kommunikationsguerilla. Hamburg: Assoziation A.
Zitierte Literatur
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Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe; Blissett, Luther; Brünzels, Sonja (2012): Handbuch der Kommunikationsguerilla. Hamburg: Assoziation A.
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Baringhorst, Sigrid; Witterhold, Katharina (2017): Zwischen Markt und Zivilgesellschaft – Organisation und Verbraucherinteressen Online/Offline. In: Kenning, Peter et al. (Hrsg.): Verbraucherwissenschaften. Rahmenbedingungen, Forschungsfelder und Institutionen. Wiesbaden: Springer, S. 557–572.
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DWDS (2022a): Der Schmähpreis. DWDS, online unter: https://www.dwds.de/wb/Schm%C3%A4hpreis ; Zugriff: 15.02.2022.
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DWDS (2022b): Der Negativpreis. DWDS, online unter: https://www.dwds.de/wb/Negativpreis#d-1-1 ; Zugriff: 18.02.2022.
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DWDS (2022c): Der Windbeutel. DWDS, online unter: https://www.dwds.de/wb/Windbeutel ; Zugriff: 05.03.2022.
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Foodwatch (2021): Rewe gewinnt den Goldenen Windbeutel. Online unter: https://www.foodwatch.org/de/aktuelle-nachrichten/2021/rewe-gewinnt-den-goldenen-windbeutel/ ; Zugriff: 27.02.2022.
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Foodwatch (2022): Rewe stoppt Klimawerbung für Hähnchenbrustfilet. Facebook. Online unter: https://www.facebook.com/plugins/post.php?href=https%3A%2F%2Fwww.facebook.com%2Ffoodwatch%2Fposts%2F10166616508290529&show_text=true&width=500 ; Zugriff: 05.03.2022.
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Hasso, Mansfeld (2014): Foodwatch geht einen gefährlichen Weg. Beim Goldenen Windbeutel scheint die Prominenz der Nominierten wichtiger als die Dreistigkeit der Werbelügen. In: Lebensmittel Zeitung, Heft 37, Jg. 67, S. 50–52.
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Nessel, Sebastian (2016): Verbraucherorganisationen und Märkte. Eine wirtschaftssoziologische Untersuchung. Wiesbaden: Springer.
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Reese-Schäfer, Walter (2017): Politische Ethik unter Realitätsbedingungen. Die Welt von Gewalt, Lügen und Skandalisierungen. Wiesbaden: Springer.
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Schiffers, Maximilian (2021): NGOs als besondere Akteure der Interessenvermittlung. Eine Analyse der politischen Rationalität von Nichtregierungsorganisationen. Wiesbaden: Springer.
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Wengeler, Martin (2020): Die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“ – Diskurssensibilisierung oder Medien-Hype? In: Vogel, Friedemann; Deus, Fabian (Hrsg.): Diskursinterventionen. Normativer Maßstab der Kritik und praktische Perspektiven zur Kultivierung öffentlicher Diskurse. Wiesbaden: Springer, S. 193–202.
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Wengeler, Martin (2013): Unwörter. Eine medienwirksame Kategorie zwischen linguistisch begründeter und populärer Sprachkritik. In: Diekmannshenke, Hajo; Niehr, Thomas (Hrsg.): Öffentliche Wörter. Analysen zum öffentlich-medialen Sprachgebrauch. Stuttgart: ibidem-Verlag, S. 13–31.
Abbildungsverzeichnis
- Abb. 1: Weidel, Alice (2020): Klimahysterie ist das Unwort des Jahres 2019. Tweet vom 14.01.2022. URL: https://twitter.com/Alice_Weidel/status/1217020940405673984?ref_src=twsrc%5Etfw ; Zugriff: 05.03.2022.
- Abb. 2: Koch, Nurder (2021): Pushback ist Unwort des Jahres 2021. Tweet vom 12.01.2021. URL: https://twitter.com/NurderK/status/1481197584123318273 ; Zugriff: 30.11.2022.
- Abb. 3: Foodwatch (2021): Rewe gewinnt den Goldenen Windbeutel. Foodwatch. URL: https://www.foodwatch.org/de/aktuelle-nachrichten/2021/rewe-gewinnt-den-goldenen-windbeutel/ ; Zugriff: 27.02.2022.
Zitiervorschlag
Srenk, Mona (2022): Negativpreis. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 19.12.2022. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/negativpreis.
DiskursGlossar
Grundbegriffe
Argumentation
Argumentation bezeichnet jene sprachliche Tätigkeit, in der man sich mithilfe von Gründen darum bemüht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klären.
Hegemonie
Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung für Führung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.
Diskurskompetenz
Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.
Agenda Setting
Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.
Medien
Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.
Macht
Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.
Normalismus
Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.
Wissen
Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.
Werbung
Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf Einführung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.
Mediale Kontrolle
Medien werden vielfältig zur Durchsetzung von Macht verwendet. So in der Zensur, wenn eine politische Selektion des Sagbaren und des Unsagbaren stattfindet; in der Propaganda, wenn eine Bevölkerung von den Ansichten oder wenigstens der Macht einer bestimmten Gruppe überzeugt werden soll; oder in der Überwachung, die unerwünschtes Verhalten nicht nur beobachten, sondern unwahrscheinlich machen soll.
Techniken
Nicht-Entschuldigen / Nonpology
Mit der Nicht-Entschuldigung verfolgen Diskursakteure verschiedene Ziele: sie wollen Ablenken von der eigenen Schuld, erhoffen sich eine Reputationsverbesserung durch vorgespielte Reue oder wollen (andere) negative Konsequenzen abwenden und sich in der Öffentlichkeit positiv als fehlereinsichtig und selbstkritisch darstellen.
Hashtag
Mit dem Begriff Hashtag wird auf eine kommunikative Technik der spontanen Verschlagwortung und Inde-xierung von Postings in der Internetkommunikation verwiesen, bei der Sprache und Medientechnik sinnstif-tend zusammenwirken. Der Gebrauch von Hashtags hat eine diskursbündelnde Funktion: Er ermöglicht es, Inhalte zu kategorisieren (#Linguistik, #Bundestag), such- und auffindbar zu machen (#Bundestags-wahl2025), aber auch zu bewerten (#nicetohave) und zu kontextualisieren (#Niewiederistjetzt).
Diminutiv
Auch in Politik, Wirtschaft, Presse und Werbung werden Diminutiv-Formen zu rhetorischen Zwecken eingesetzt, um etwa emotionale Nähe zu konstruieren (unser Ländle), eine Person abzuwerten (die ist auch so ein Schätzchen), einen als ‚riskant‘ geltenden Sachverhalt zu ‚verharmlosen‘ (ein Bierchen) oder eine ‚Sachverhaltsbanalisierung‘ zurückzuweisen (Ihre ‚Demonstratiönchen‘).
Sündenbock
Der Sündenbock bezeichnet eine Person oder Gruppe, die stellvertretend für etwas beschuldigt wird. Hinter dieser Schuldzuweisung steckt ein kommunikativer Mechanismus des Gruppenzusammenhalts, der sich in verschiedenen kulturellen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten durch Rituale, Mythen, Erzählungen oder Verhalten manifestiert.
Redenschreiben
Wer Reden schreibt, bereitet die schriftliche Fassung von Reden vor, die bei besonderen Anlässen gehalten werden und bei denen es auf einen ausgearbeiteten Vortrag ankommt.
Offener Brief
Bei einem offenen Brief handelt es sich um eine strategische Praktik, die genutzt wird, um Anliegen einer Person oder Gruppe öffentlich sichtbar zu machen. Die Texte, die als offene Briefe bezeichnet werden, richten sich an eine Person oder Institution und werden über Medien veröffentlicht.
Kommunikationsverweigerung
Unter dem Begriff Kommunikationsverweigerung lässt sich ein Bündel von Praktiken und Strategien fassen, die den kommunikativen Austausch zu erschweren oder zu verhindern suchen.
Flugblatt
Unter Flugblättern versteht man einseitige Druckerzeugnisse, die ursprünglich meist illustriert waren. Eng verwandt sind die mehrseitigen Flugschriften. Während Flugschriften und Flugblätter heute kostenlos verteilt werden oder zur Mitnahme ausliegen, wurden sie in der Frühen Neuzeit zunächst als Handelswaren verkauft und gingen so als frühe Massenmedien den Zeitungen voraus.
Passivierung
Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenüber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden müssen, was beispielsweise in Gesetzestexten für eine (gewünschte) größtmögliche Abstraktion sorgt („Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 3 GG).
Aufopferungs-Topos
Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren.
Schlagwörter
Verfassung
Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.
Toxizität / das Toxische
Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.
Zivilgesellschaft
Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.
Demokratie
Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.
Plagiat/Plagiarismus
Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.
Fake News
Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.
Lügenpresse
Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.
Antisemitismus
Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene Phänomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloßen Distanzierung und Behauptung jüdischer Andersartigkeit, über vollständig ausgearbeitete Weltbilder, die Jüdinnen*Juden für sämtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken.
Grammatiknazi / Grammar Nazi
Das überwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi – als Übersetzung von engl. grammar nazi – wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den Äußerungen anderer (häufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen üben.
Respekt
Respekt oder respektvolles Verhalten wird eingefordert für die Eigengruppe (bzw. von der Eigengruppe), für wirklich oder vermeintlich diskriminierte Gruppen, für abweichende Meinungen. Mitgemeint ist bei der Forderung nach Respekt meist eine positiv bewertete Szene der (sozialen, kulturellen, ethnischen, sexuellen etc.) Vielfalt/Diversität.
Verschiebungen
Versicherheitlichung
In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen Sicherheitsverständnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurückzuführen ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlässig agieren.
Ökonomisierung
Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren
Moralisierung
Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.
Konstellationen
Skandal
Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.
DiskursReview
Review-Artikel
Relativieren – kontextualisieren – differenzieren
Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem für Praktiken, die das Kerngeschäft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische Gegenstände miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.
Wehrhafte Demokratie: Vom Wirtschaftskrieg zur Kriegswirtschaft
Weitgehend ohne Öffentlichkeit und situiert in rechtlichen Grauzonen findet derzeit die Militarisierung der ursprünglich als „Friedensprojekt“ gedachten EU statt.
Tagung 2025: „Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung und Delegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen
„Das geht zu weit!“ Sprachlich-kommunikative Strategien der Legitimierung undDelegitimierung von Protest in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen Tagung der Forschungsgruppe Diskursmonitor Tagung: 04. bis 5. Juni 2025 | Ort: Freie Universität...
„Remigration“ – Ein Riss im Schleier der Vagheit. Diskursive Strategien rund um das Remigrationskonzept und die Correctiv-Recherchen
Die am 10. Januar veröffentlichte Correctiv-Recherche über ein rechtes Vernetzungstreffen in Potsdam sorgte für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und die größten Demonstrationen gegen Rechtsaußen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Im Fokus der Kritik…
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Mit Beginn des Wintersemesters laden die Forschungsgruppen CoSoDi und Diskursmonitor sowie die Akademie diskursiv ein zur Vortragsreihe Neue Beiträge Zur Diskursforschung. Als interdisziplinäres Forschungsfeld bietet die Diskursforschung eine Vielzahl an...
Tagung: Zur Politisierung des Alltags – Strategische Kommunikation in öffentlichen Diskursen (01.–03.02.2023)
Die (krisenbedingt verschärfte) Politisierung der Alltagsdiskurse stehen im Zentrum der hier geplanten Tagung. Antworten auf folgende Leitfragen sollen dabei diskutiert werden: Was sind die sozialen, medial-räumlichen und sprachlichen Konstitutionsbedingungen…
Tagung: Diskursintervention (31.01.2019–01.02.2019)
Welchen Beitrag kann (bzw. muss) die Diskursforschung zur Kultivierung öffentlicher Diskurse leisten? Was kann ein transparenter, normativer Maßstab zur Bewertung sozialer und gesellschaftlicher Diskursverhältnisse sein?
Was ist ein Volk?
Dass „Volk“ ein höchst schillernder und vielschichtiger politischer Leitbegriff der vergangenen Jahrhunderte gewesen ist (und nach wie vor ist), kann man schon daran erkennen, dass der Eintrag „Volk, Nation“ in Brunner, Conze & Kosellecks großem Nachschlagwerk zur politischen Begriffsgeschichte mehr als 300 Seiten umfasst.
Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft!
Im Herbst 2022 veranstalteten die Sender des Deutschlandradios eine Kampagne mit Hörerbeteiligung zur Auswahl eines Themas, mit dem sich ihre sogenannte „Denkfabrik“ über das kommende Jahr intensiv beschäftigen solle. Fünf Themen standen zur Auswahl, „wehrhafte Demokratie“ wurde gewählt, wenig überraschend angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine…
Über einige Neuzugänge im (täglich wachsenden) Repertoire bellizistischer Kampf- und Kontaminationsbegriffe
[1] Was haben die Ausdrücke »Eskalationsphobie«, »Friedensmeute« und »Lumpenpazifismus« gemeinsam? Nun, zuerst einmal den Umstand, dass alle drei verdienstvolle Neuprägungen unserer medio-politischen Klasse sind…