DiskursGlossar

Remigration

Kategorie: Schlagwörter
Verwandte AusdrĂŒcke: RĂŒckwanderung, „AuslĂ€nder raus!“, ethnische SĂ€uberung
Siehe auch: Schlagwort, Euphemismus, Radikalisierung, Links-Mitte-Rechts
Autor/in: Floris Biskamp
Version: 1.0 / Datum: 14.05.2025

Kurzzusammenfassung

Der Begriff Remigration hat zwei Verwendungsweisen. Zum einen wird er politisch neutral verwendet, um die RĂŒckkehrwanderung von Emigrant:innen in ihr Herkunftsland zu bezeichnen; die meisten Verwendungen beziehen sich heute jedoch auf Rechtsaußendiskurse, wo das Wort der euphemistischen Umschreibung einer aggressiven Politik dient, mit der nicht ethnisch deutsche Immigrant:innen und ihre Nachfahr:innen zur Ausreise bewegt oder gezwungen werden sollen. Eine wichtige diskursive Funktion des Begriffes bestand lange darin, extreme Politiken in einen harmlos und vornehm klingenden Begriff zu kleiden. Dies ist in Deutschland seit 2024 kaum noch möglich, weil der Begriff in der Öffentlichkeit nun weitgehend mit der zweiten Verwendungsweise identifiziert wird und als Zeichen von Extremismus gilt.

Erweiterte BegriffsklÀrung

Den beiden Verwendungsweisen des Begriffs entsprechen zwei Begriffsgeschichten.

Die Geschichte der heute eher marginalen, politisch neutralen Verwendung lĂ€sst sich im Englischen bis ins 17. Jahrhundert zurĂŒckverfolgen (vgl. Oxford English Dictionary 2009). Mit der Ausbildung einer expliziten Debatte ĂŒber Migration seit dem 20. Jahrhundert finden sich immer mehr Beispiele fĂŒr diese Verwendung, die sich bis in die jĂŒngste Vergangenheit fortsetzt – auch in der Wissenschaft (z. B. Currle 2006; Krumme 2004). In dieser Verwendungsweise wird der Begriff Remigration analog zu den etablierten Begriffen der Emigration und der Immigration verwendet. Demnach bezeichnet Emigration die Auswanderung aus einem Land, Immigration die Einwanderung in ein Land und Remigration die RĂŒckwanderung in das Land, aus dem jemand zuvor emigriert ist (RĂŒckkehrmigration). Allerdings spielte der Remigrationsbegriff in der Migrationsforschung nur eine geringe Rolle und zĂ€hlt nicht zu deren SchlĂŒsselbegriffen.

Die Geschichte der politischen Verwendungsweise in Rechtsaußendiskursen lĂ€sst sich bis in die 1960er zurĂŒckverfolgen, nĂ€mlich in Diskurse der Neuen Rechten, zunĂ€chst in Frankreich und spĂ€ter in Deutschland (vgl. Wagner 2025). In diesen Diskursen ist der Begriff Remigration eine vornehme Deckformel fĂŒr den Straßenslogan AuslĂ€nder raus! Deutschland den Deutschen! Im Extremfall steht Remigration dann fĂŒr die Fantasie einer ethnisch homogenen Bevölkerung, die erreicht werden soll, indem alle nicht ethnisch deutschen Gruppen dazu bewegt werden, das Land zu verlassen. Bei den in Deutschland geborenen Nachfahr:innen von Immigrant:innen soll die ‚RĂŒckwanderung‘ in die Heimatregion der Vorfahr:innen fĂŒhren. In weniger extremen Versionen bezieht sich die Forderung lediglich auf etwas enger begrenzte Gruppen, die als besonders unerwĂŒnscht gelten und bei deren Ausweisung die extreme Rechte auf breitere Zustimmung hoffen kann. Dazu zĂ€hlen z. B. ‚kriminelle AuslĂ€nder‘, ‚illegale AuslĂ€nder‘, ‚nicht integrationsbereite AuslĂ€nder‘ oder KriegsflĂŒchtlinge nach Ende des entsprechenden Krieges. Die vorgeschlagenen Mittel reichen von der bloßen ‚Werbung‘ fĂŒr Emigration aus Deutschland, ĂŒber die Schaffung positiver finanzieller Anreize (RĂŒckreiseprĂ€mie) und Versuche, das Leben in Deutschland unangenehm zu machen, bis zu direktem Zwang.

Bis 2024 lassen sich vor allem zwei Funktionen der politischen Begriffsverwendung in Rechtsaußendiskursen beschreiben. Die erste besteht darin, ein extremes und aggressives politisches Programm in eine intellektuell und vornehm klingende Bezeichnung zu kleiden und sie so fĂŒr Außenstehende harmlos erscheinen zu lassen. Die zweite Funktion ergibt sich aus der Vagheit des Begriffs. Das Bedeutungsspektrum erstreckt sich von einer extremen Politik der ethnischen SĂ€uberung, die nur bei einer kleinen politisch extremen Minderheit auf Zustimmung stoßen wĂŒrde, ĂŒber Programme der Ausweisung von ĂŒberschaubaren Gruppen, fĂŒr die sich in der politischen Mitte Zustimmung finden ließe, bis hin zur individuell frei gewĂ€hlten RĂŒckkehr in ein Herkunftsland, die politisch weitgehend unkontrovers ist. Wenn Rechtsaußenakteur:innen den Begriff verwenden, können sie davon ausgehen, dass dies bei den extremeren AnhĂ€nger:innen als Signal fĂŒr eine extreme Position wahrgenommen wird; zugleich können sie gegenĂŒber anderen Beobachter:innen stets darauf beharren, dass der Begriff nur ganz harmlose Prozesse meine.

Die EffektivitĂ€t dieser ersten beiden Funktionen ist in Deutschland heute deutlich eingeschrĂ€nkt. Hauptgrund ist die im Januar 2024 veröffentlichte Recherche der journalistischen Online-Plattform Correctiv, in der ĂŒber ein rechtes Vernetzungstreffen in Potsdam berichtet wurde (vgl. Bensmann et al. 2024). Dieser Bericht machte erstmals eine breitere Öffentlichkeit in Deutschland auf den Remigrationsbegriff aufmerksam und zeigte zugleich, dass das Konzept im Umfeld der AfD auch auf deutsche StaatsbĂŒrger:innen ‚mit Migrationshintergrund‘ bezogen, also recht extrem ausgelegt wird. Seither kann Remigration in Deutschland kaum noch als harmlos klingender Deckbegriff fungieren.

Durch das verstĂ€rkte öffentliche Bewusstsein fĂŒr den Begriff und seine mithin extreme Bedeutung, hat sich seine strategische Funktion entsprechend verĂ€ndert. Auf der einen Seite wird er nun vermehrt von Gegner:innen des Rechtsaußenlagers genutzt, um Rechtsaußenpolitik als extrem und menschenfeindlich zu stigmatisieren. Zwar verweisen Gegner:innen der Neuen Rechten schon lange darauf, dass diese unter dem Begriff der Remigration eine extreme Agenda vertritt. Allerdings hat sich die Resonanz fĂŒr diese Argumentation seit 2024 erheblich ausgeweitet – und damit auch die stigmatisierende Verwendung. Die Aussage, dass die AfD eine Remigrations-Agenda betreibt, funktioniert heute weithin als Verweis auf den rechtsextremen Charakter der Partei. Der 2024 erfolgte Wandel der Funktionsweise des Begriffs lĂ€sst sich auch daran zeigen, dass die AfD ihn bereits zur Europawahl 2019 und zur Bundestagswahl 2021 in ihren Wahlprogrammen verwendete, dies aber kaum öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Als die Partei es jedoch im Bundestagswahlprogramm 2025 wieder tat, wurde es weithin kommentiert und als Beleg ihrer extremen Position gewertet.

Das Rechtsaußenlager verwendet den Begriff weiter, allerdings nun mit leicht verĂ€nderten Funktionen, wobei wiederum zwei zu nennen sind. Erstens signalisiert die fortgesetzte Benutzung Unbeugsamkeit gegenĂŒber öffentlichem Druck. In der Parteitagsrede im Januar 2025, in der Alice Weidel die Aufnahme des Begriffs in das Bundestagswahlprogramm rechtfertigt, beschreibt sie die migrationspolitische Position der Partei und sagt dann: Und wenn es Remigration heißen soll, dann heißt es eben Re-migra-tion! Damit macht sie deutlich, dass man sich den Begriff nicht verbieten lĂ€sst – im Vorfeld gab es Kontroversen um seine Aufnahme ins Programm. Zweitens buchstabiert die Partei den Begriff nun konkreter aus und betont, dass sie darunter ausschließlich Politiken fasst, die mit dem Grundgesetz vereinbar seien, also z. B. keinen Ausreisezwang gegen deutsche StaatsbĂŒrger:innen implizieren. So kann sie sich wiederum als ein böswillig missverstandenes Opfer inszenieren.

Beispiele

(1) Im folgenden Absatz des Textes Geheimplan gegen Deutschland stellt die Plattform Correctiv ĂŒber den Begriff der Remigration eine Verbindung zwischen dem Aktivisten Martin Sellner, der AfD und einer extremen Agenda her:

Das rechtsradikale Konzept der Remigration: Sellners Ansichten sind nicht neu. In dessen Buch ‚Regime Change von Rechts‘ das 2023 in dem rechtsradikalen Verlag von Götz Kubitschek erschien, gibt Sellner die Linie vor: ‚Das rechte Hauptziel‘ sei die Bewahrung der ‚ethnokulturellen IdentitĂ€t und Substanz‘, dazu sei ‚eine radikale Wende‘ notwendig, um den ‚Bevölkerungsaustausch‘ aufzuhalten. DafĂŒr mĂŒsse man ‚die Politik der Remigration‘ anwenden. In dem Buch fordert der Kopf der IdentitĂ€ren Bewegung die ‚Revision‘ von bestehenden StaatsbĂŒrgerschaften und verweist auf ‚entsprechende Konzepte rechter Parteien und Bewegung‘. Der Text ist einfach zu ĂŒbersetzen: Es geht auch um die Vorbereitung einer millionenfachen Vertreibung. Die NĂ€he zwischen Sellner und AfD-Politikern ist schon lĂ€nger zu beobachten. (Bensmann et al. 2024)

(2) In ihrem Programm zur Bundestagswahl 2025 verwendet die AfD den Begriff weiter. Zwar betont sie dabei explizit die VerfassungskonformitĂ€t ihrer Auslegung des Begriffs und somit die eigene Verfassungstreue. Allerdings macht sie mit der bloßen Tatsache der Verwendung auch deutlich, dass sie angesichts von Kritik nicht zurĂŒckweicht.

Unser Maßnahmenkatalog zur Umkehr dieses migrationspolitischen Staatsversagens heißt Remigration und umfasst folgende Maßnahmen, die bereits heute der geltenden Rechtslage entsprechen oder sich jedenfalls mittels verfassungskonformer GesetzesĂ€nderungen umsetzen lassen: [Darauf folgt eine Liste mit fĂŒnf konkreten politischen Forderungen.] (AfD 2025: 101)

(3) Hier ein Beispiel fĂŒr die neutrale Begriffsverwendung in der Migrationsforschung:

‚Remigration‘ und ‚RĂŒckkehr‘ bezeichnen Teilbereiche von Migrationsprozessen, die aus den unterschiedlichsten GrĂŒnden erfolgen können. GrundsĂ€tzlich wird der Begriff der RĂŒckkehrmigration verwendet, wenn Personen in ihr Herkunftsland zurĂŒckkehren, nachdem sie eine signifikante Zeit nicht im Landverbracht haben. Bei der Definition der Zeitspanne im Aufnahmeland sollte zwischen dauerhafter (gemĂ€ĂŸ der Definition der Vereinten Nationen ab einem Jahr Aufenthalt) und temporĂ€rer Migration (unter einem Jahr Aufenthalt) unterschieden werden. (Currle 2006)

Literatur

Zum Weiterlesen

  • Wagner, Florian (2025): Remigration. In: Bartels, Inken; Löhr, Isabella; Reinecke, Christiane; SchĂ€fer, Philipp; Stielike, Laura; Stierl, Maurice (Hrsg.): Inventar der Migrationsbegriffe. OsnabrĂŒck: osnadocs. Online unter: https://osnadocs.ub.uni-osnabrueck.de/handle/ds-2025021912178 ; Zugriff: 07.05.2025.

Zitierte Literatur und Belege

  • AfD (2025): Zeit fĂŒr Deutschland. Programm der Alternative fĂŒr Deutschland fĂŒr die Wahl zum 21. Deutschen Bundestag. Online unter: https://www.afd.de/wp-content/uploads/2025/02/AfD_Bundestagswahlprogramm2025_web.pdf ; Zugriff: 07.05.2025.
  • Bensmann, Marcus; von Daniels, Justus; Dowideit, Annette; Peters, Jean; Keller, Gabriela (2024): Geheimplan gegen Deutschland. In: correctiv.org. Online unter: https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/ ; Zugriff: 07.05.2025.
  • Currle, Edda (2006): TheorieansĂ€tze zur ErklĂ€rung von RĂŒckkehr und Remigration. In: Sozialwissenschaftlicher Fachinformationsdienst soFid, Migration und ethnische Minderheiten, Jg. 2006, Heft 2, Leibniz: GESIS, S. 7–23.
  • Krumme, Helen (2004): FortwĂ€hrende Remigration: Das transnationale Pendeln tĂŒrkischer Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten im Ruhestand / Continual Return: Transnational Circular Migration of Turkish Migrant Workers in Retirement. In: Best, Henning; Kusche, Isabel; Röhl, Tobias; Scheele, Alexandra; Schulz-Schaeffer, Ingo; Teney, CĂ©line (Hrsg.): Zeitschrift fĂŒr Soziologie, Jg. 33, Heft 2, Berlin: De Gruyter, S. 138–153.
  • Oxford English Dictionary (2009): remigration, n. Meanings, etymology and more. In: Oxford English Dictionary. Online unter: https://www.oed.com/dictionary/remigration_n ; Zugriff: 07.05.2025.
  • Wagner, Florian (2025): Remigration. In: Bartels, Inken; Löhr, Isabella; Reinecke, Christiane; SchĂ€fer, Philipp; Stielike, Laura; Stierl, Maurice (Hrsg.): Inventar der Migrationsbegriffe. OsnabrĂŒck: osnadocs. Online unter: https://osnadocs.ub.uni-osnabrueck.de/handle/ds-2025021912178 ; Zugriff: 07.05.2025.

Zitiervorschlag

Biskamp, Floris (2025): Remigration. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 14.05.2025. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/remigration.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Sinnformel

‚Wer sind wir? Woher kommen, wo stehen und wohin gehen wir? Wozu leben wir?‘ Auf diese und Ă€hnliche existentielle Fragen geben Sinnformeln kondensierte Antworten, die in privaten wie sozialen Situationen Halt und Argumenten in politischen und medialen Debatten einen sicheren Unterbau geben können.

Praktik

Eine Praktik ist ein spezifisches, situativ vollzogenes und sinnhaftes BĂŒndel von körperlichen Verhaltensweisen, an dem mehrere Menschen und Dinge beteiligt sein können (z. B. Seufzen, um Frust auszudrĂŒcken, oder einen Beschwerdebrief schreiben, Fußballspielen).

Kontextualisieren

Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.

Narrativ

Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.

Argumentation

Argumentation bezeichnet jene sprachliche TĂ€tigkeit, in der man sich mithilfe von GrĂŒnden darum bemĂŒht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klĂ€ren.

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung fĂŒr FĂŒhrung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative FĂ€higkeit, lĂ€ngere zusammenhĂ€ngende sprachliche Äußerungen wie ErzĂ€hlungen, ErklĂ€rungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Agenda Setting

Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, mĂŒssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage fĂŒr Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die FĂ€higkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhĂ€ngig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, KrĂ€fteverhĂ€ltnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf WahrheitsansprĂŒche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Techniken

Inszenierte Kontroverse

Inszenierte Kontroversen liegen vor, wenn Politiker, Vertreter von Interessengruppen, Aktivisten, Journalisten, Influencer oder andere öffentlich wirksame Akteure potentiell strittige Themen möglichst effektvoll in einen Diskurs einbringen oder einen entsprechenden Diskurs auslösen, und zwar um entsprechende Perspektivierungen bestimmter Konfliktlagen im eigenen Interesse konfrontativ zu prÀgen.

-ismus

Bei Ismen geht es ursprĂŒnglich um die Wortendung (sog. Suffix) -ismus (Plural -ismen), mit der Substantive mit substantivischem oder adjektivischem Wortstamm (Basis) gebildet werden (z.B. Vulkan-ismus oder Aktiv-ismus).

Persuasion

Persuasion kommt vom lateinischen Verb persuadere und bedeutet â€šĂŒberzeugen, ĂŒberreden‘ (gebildet aus suadere ‚raten, empfehlen‘ und per ‚durch, ĂŒber‘).‘). Der Begriff stammt aus der Rhetorik, in der es vor allem darum geht, wie man Hörer:innen oder Leser:innen auf seine Seite bringt: wie man sie zum Beispiel in einem Gerichtsprozess von der Schuld oder Unschuld eines/einer Angeklagten ĂŒberzeugt, wie man sie politisch zur Parteinahme ĂŒberredet oder wie man sie ganz allgemein fĂŒr sich selbst oder einen bestimmten Gegenstand/Sachverhalt einnimmt.

Ironie

Ironie (altgriechisch Î”áŒ°ÏÏ‰ÎœÎ”ÎŻÎ± (eirƍneĂ­a), wörtlich ‚Verstellung‘, ‚VortĂ€uschung‘) ist in unserer unmittelbaren und massenmedialen Kommunikationskultur sehr bedeutsam. Sie arbeitet mit einem Bewertungsgegensatz zwischen Gesagtem und Gemeintem.

Wiederholen

Das Wiederholen von Äußerungen in öffentlichen (politischen) Diskursen zielt darauf, das Denken anderer zu beeinflussen, Wissen zu popularisieren, einseitige (z. B. fanatisierende, beschwörende, hysterische, ablenkende, pseudosachliche) Konstruktionen von Wahrheit zu erzeugen, um die soziale Wirklichkeit als intersubjektiven Konsens im einseitigen Interesse des „Senders“ zu verĂ€ndern. Grundvoraussetzung ist die Annahme, dass das kollektive Denken stets mĂ€chtiger als das individuelle Denken ist.

Diskreditieren

Das Diskreditieren ist eine Praktik, mit der Diskursakteure durch verschiedenste Strategien, die von Verunglimpfungen und Verleumdungen bis hin zu rufschĂ€digenden Äußerungen reichen, abgewertet und herabgesetzt werden.

NĂ€he inszenieren

Die Inszenierung von NÀhe beschreibt eine Kommunikations>>praktik, bei der Akteur:innen Techniken einsetzen, um Vertrautheit, Sympathie und AuthentizitÀt zu vermitteln (z.B. das Angebot einer:s Vorgesetzten, zu duzen).

Diplomatie

Diplomatie bezeichnet im engeren Sinne eine Form der Kommunikation zwischen offiziellen Vertretern von Staaten, die die Aufgabe haben, zwischenstaatliche Beziehungen durch und fĂŒr Verhandlungen aufrecht zu erhalten. Diese Vertreter können Politiker oder Beamte, insbesondere des diplomatischen Dienstes, sowie Vertreter internationaler Organisationen sein.

Typografie

Typografie bezeichnet im modernen Gebrauch generell die Gestaltung und visuelle Darstellung von Schrift, Text und (in einem erweiterten Sinne) auch die Dokument-Gesamtgestaltung (inklusive visueller Formen wie Abbildungen, Tabellen, Taxono-mien usw.) im Bereich maschinell hergestellter Texte (sowohl im Druck als auch auf dem Bildschirm)

Fact Checking

Fact Checking ist eine kommunikationsstrategische Interventionstechnik, bei der eine Diskursaussage auf Bild oder Textbasis unter dem Gesichtspunkt der FaktizitĂ€t bewertet wird. Sie ist ĂŒberwiegend in journalistische Formate eingebettet, die als Faktencheck bezeichnet werden.

Schlagwörter

Woke

Der Ausdruck woke stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bezeichnete dort zunĂ€chst den Bewusstseinszustand der AufgeklĂ€rtheit ĂŒber die Verbreitung von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung unter Angehörigen ethnischer Minderheiten.

IdentitÀt

Unter IdentitĂ€t versteht man allgemein die Summe von Merkmalen, die Individuen oder sozialen Kollektiven – etwa Nationen, Organisationen oder sozialen Gruppen – als charakteristisch oder gar als angeboren zugeordnet werden.

Wohlstand

Unter Wohlstand sind verschiedene Leitbilder (regulative Ideen) zu verstehen, die allgemein den Menschen, vor allem aber den Beteiligten an politischen und wissenschaftlichen Diskursen (politisch Verantwortliche, Forschende unterschiedlicher Disziplinen usw.) eine Orientierung darĂŒber geben sollen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht.

Radikalisierung

Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu Ă€ndern sucht.

BĂŒrokratie

BĂŒrokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender AusdrĂŒcke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen BĂŒrokratisierung, BĂŒrokratismus und Komposita, als wichtigstes BĂŒrokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.

Politisch korrekt / Politische Korrektheit

Der Ausdruck politisch korrekt / Politische Korrektheit und die amerikanischen Vorbilder politically correct /P.C. / Political Correctness (Gegenteile, etwa politisch unkorrekt etc., sind mitzudenken) reprĂ€sentieren ein seit den frĂŒhen Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts populĂ€res Deutungsmuster, mit dem weltanschauliche, Ă€sthetische und politische Konflikte berichtet/bewertet werden, meist zuungunsten der als politisch korrekt bezeichneten Positionen, denen man eine ĂŒberzogene, sowohl lĂ€cherliche als auch gefĂ€hrliche Moralisierung unterstellt.

Kipppunkt

Als öffentliches Schlagwort ist Kipppunkt Teil eines Argumentationsmusters: es behauptet ein ‚Herannahen und baldiges Überschreiten einer unumkehrbaren SachverhaltsĂ€nderung, die fatale bzw. dystopische FolgeschĂ€den auslöst, wenn nicht umgehend bestimmte Maßnahmen eingeleitet oder unterlassen werden.‘

Verfassung

Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht fĂŒr die höchste und letzte normative und LegitimitĂ€t setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen GrĂŒndungsakt eine Verfassung gibt.

ToxizitÀt / das Toxische

Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lĂ€sst sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schĂ€dlich‘ erweitert hat, doch die UmstĂ€nde, unter denen etwas fĂŒr jemanden toxisch, d. h. schĂ€dlich ist, mĂŒssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.

Zivilgesellschaft

Im gegenwÀrtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezÀhlt.

Verschiebungen

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen SicherheitsverstĂ€ndnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurĂŒckzufĂŒhren ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlĂ€ssig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwĂ€rtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-KalkĂŒle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche ĂŒbertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die SphÀre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Partizipatorischer Diskurs

Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, fĂŒr (mehr) Partizipation zu sorgen.

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsĂ€chlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Beobachtung zum Begriff „Diplomatie“ beim Thema Ukraine im EuropĂ€ischen Parlament

Von EU-Vertretern waren zur Ukraine seit 2022 vor allem Aussagen zu hören, die sich unter dem Motto „as long as it takes“ beziehungsweise „so lange wie nötig“ fĂŒr die Erweiterung der militĂ€rischen Ausstattung und der VerlĂ€ngerung des Krieges aussprachen. VorschlĂ€ge oder VorstĂ¶ĂŸe auf dem Gebiet der „Diplomatie“ im Sinne von ‚Verhandeln (mit Worten) zwischen Konfliktparteien‘ gab es dagegen wenige, obwohl die klare Mehrheit von Kriegen mit Diplomatie beendet wurden (vgl. z.B. Wallensteen 2015: 142)

Die Macht der Worte 4/4: So geht kultivierter Streit

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Die Macht der Worte 3/4: Sprachliche Denkschablonen

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Die Macht der Worte 2/4: Freund-Feind-Begriffe

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Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen

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Relativieren – kontextualisieren – differenzieren

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem fĂŒr Praktiken, die das KerngeschĂ€ft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische GegenstĂ€nde miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.