DiskursGlossar

Offener Brief

Kategorie: Techniken
Verwandte Ausdrücke: Sendbrief, Sendschreiben
Siehe auch: Petition, Protest, Flugblatt
Autorin: Ylva Keneman
Version: 1.1 / Datum: 19.03.2024

Kurzzusammenfassung

Bei einem offenen Brief handelt es sich um eine strategische Praktik, die genutzt wird, um Anliegen einer Person oder Gruppe öffentlich sichtbar zu machen. Die Texte, die als offene Briefe bezeichnet werden, richten sich an eine Person oder Institution und werden über Medien veröffentlicht. Sie enthalten eine Meinungsäußerung zur gegenwärtigen politischen Situation, können Missstände anprangern oder Forderungen zum Ausdruck bringen. Offene Briefe bedienen sich der Öffentlichkeit, um Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu lenken.

Eine Besonderheit des offenen Briefes ist die Doppeladressierung. Es gibt in der Regel eine oder mehrere direkt genannte Adressat*innen, aber gleichzeitig soll auch die Leserschaft des Mediums angesprochen werden. Unterzeichnet werden offene Briefe von einer oder mehreren Absender*innen, die oft bereits vorher öffentlich bekannt sind und in dem Brief eine Handlungsaufforderung zum Ausdruck bringen oder um eine Stellungnahme bitten. Damit sind sie Petitionen nicht unähnlich, das Sammeln von Unterschriften ist hier jedoch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung oft bereits abgeschlossen. 

Erweiterte Begriffsklärung

Form und Inhalt offener Briefe

Über die Definition und Einordnung des Genres Offener Brief ist sich die Literatur nicht einig. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass weder Wörterbücher noch die wissenschaftliche Literatur „[e]in klares Bild von der Gattung zeichnen“ (Essig 2000: 11 f.). Dennoch existiert der Terminus „in nahezu allen Schriftkulturen, […] in vielen Sprachen“ und bezeichnet dort dasselbe Konzept: „ein[en] Brief, der – obwohl an eine Person oder Institution gerichtet – bestimmt ist, von vielen gelesen zu werden und deshalb veröffentlicht wird“ (Essig 2000: 11).

Magnet und Carnet (2004) stellen eine Beziehung zwischen offenen Briefen und Leserbriefen her und grenzen diese von gewöhnlichen Briefen ab. Offene Briefe bedienen sich „journalistic polemic features“ (vgl. Magnet und Carnet 2004: 3). „Life writing“, also Beschreibungen des Alltags oder persönliche Neuigkeiten, finden sich in offenen Briefen nicht. Essig und Rose behandeln einen offenen Brief als „publizistische Gattung“ (Rose 2020: 553) und stellen damit die journalistischen Elemente noch mehr in den Fokus. Offene Briefe als Teil politischer Kommunikation wird in der Literatur weniger behandelt, aufgrund der oft enthaltenen Forderungen und Bezugnahme auf politische Ereignisse scheint es jedoch ein wichtiger Bestandteil der Gattung zu sein.

Ein wichtiges Merkmal des offenen Briefes ist die „Doppeladressierung“ (Rose 2020: 553). Er richtet sich sowohl an die namentlich genannten Adressat*innen wie beispielsweise Politiker*innen oder Organisationen als auch an die breitere Öffentlichkeit (vgl. Rose 2020: 553). Eine direkte Zustellung, beispielsweise postalisch, an die genannten Adressat*innen findet in der Regel nicht statt, da davon ausgegangen wird, dass diese durch die Veröffentlichung allein bereits davon erfahren werden (vgl. Rose 2020: 553).

Formal und strukturell betrachtet beginnen und schließen offene Briefe oft mit einer Grußformel. Zunächst werden die direkt Adressierten angesprochen, beispielsweise mit Sehr geehrter Herr Minister Buschmann, sehr geehrte Bundesregierung (CFFP 2024). Anschließend folgen in der Regel die Forderungen oder ein Appell sowie eine Begründung, warum diese Forderungen gestellt werden. So erklärt zum Beispiel die Kassenärztliche Bundesvereinigung ihre Aufforderung an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, bestimmte Passagen eines Gesetzesentwurfs zu entfernen, damit, dass sie das Vorhaben, die […] Neupatientenregelung […] zu streichen, besonders hart treffe, da sie unter zusätzliche[m] wirtschaftlichen Druck durch steigende Kosten stehen (KBV 2022). Beendet werden kann ein offener Brief mit typischen Grußformeln wie mit freundlichen Grüßen (AWO o. J.). Es gibt jedoch auch offene Briefe, die auf Grußformeln verzichten und stattdessen die Adressaten in der Überschrift nennen. Bezüglich der Länge offener Briefe gilt, dass diese „von wenigen Zeilen bis zu umfangreichen Buchpublikationen“ reichen kann (Rose 220: 554). Die in diesem Eintrag erwähnten Beispiele umfassen je ein bis drei Normseiten.

Für gewöhnlich werden „offene Briefe […] in Tages- oder Wochenzeitungen publiziert“ (Rose 2020: 557). Sie erscheinen aber nicht nur in Tages- oder Wochenzeitungen, sondern können auch in Fachzeitschriften, auf Internetportalen und an weiteren Orten veröffentlicht werden. Wie sich in den nachfolgenden Beispielen zeigt, nutzen Verfasser*innen von offenen Briefen auch teils eigene Websites und sind so unabhängig von großen Publikationen und den damit verbundenen Entscheidungsprozessen, die eine mögliche Veröffentlichung behindern könnten. Dies funktioniert jedoch nur, wenn die Verfasser*innen bereits über eine große Reichweite verfügen oder der offene Brief anschließend von den Medien aufgegriffen wird.

Inhaltlich und auch formell scheinen offene Briefe einige Ähnlichkeiten zu Petitionen aufzuweisen. In der Berichterstattung über offene Briefe zeigt sich, dass auch Journalist*innen den offenen Brief nicht trennscharf von anderen Gattungen abgrenzen – Petition und offener Brief werden teils synonym verwendet. Dennoch unterscheiden sich beide Textsorten. Während bei Petitionen eher die Quantität der Unterschriften im Vordergrund steht, scheint bei offenen Briefen die Qualität im Sinne vom Bekanntheitsgrad oder der Autorität der Unterzeichnenden meist wichtiger. Ein weiterer Unterschied zwischen Petitionen und offenen Briefen ist der Ort der Veröffentlichung. Während es für Petitionen insbesondere heutzutage dedizierte Plattformen und rechtlich kodifizierte Verfahren gibt, werden offene Briefe eher in (Tages-)Zeitungen und weiteren Publikationen veröffentlicht. Im Gegensatz zu einem offenen Brief scheint die mediale Berichterstattung aber keine Grundvoraussetzung für Petitionen zu sein. Teilweise werden für Petitionen auch auf der Straße Unterschriften gesammelt oder die Initiator*innen suchen Bürger*innen zuhause auf, um für ihr Anliegen zu werben. 

Der offene Brief als Strategie

Um eine Erwartungshaltung oder Handlungsaufforderung an politische Akteure zu kommunizieren, ist der offene Brief natürlich nicht die einzige Möglichkeit. Wenn lediglich der politische Akteur erreicht werden soll, gibt es auch die Möglichkeit nicht-öffentlicher Kommunikation, wie einen regulären Brief oder eine E-Mail. Daher können offene Briefe als strategische Kommunikationspraktik gesehen werden, für die die öffentliche Wahrnehmung und Reaktion eine wichtige Rolle spielen. Indem ein Thema öffentlich adressiert wird, versuchen die Verfasser*innen, Druck auf die Adressat*innen auszuüben. Zudem müssen die Adressat*innen damit rechnen, von Medien um Stellungnahme gebeten zu werden. Es wird damit schwieriger, die Forderungen zu ignorieren. An die Öffentlichkeit kann ein offener Brief ein Signal der Unterstützung derer senden, die ähnliche Positionen vertreten, aber nicht die Möglichkeiten haben, diese derart öffentlichkeitswirksam zu äußern. Die Verfasser*innen können sich als eine Art Stellvertreter*in oder Fürsprecher*in inszenieren. Handelt es sich um eine weniger verbreitete oder sehr kontroverse Meinung, kann sich dies aber auch negativ auswirken, insbesondere dann, wenn die Verfasser*innen bisher nicht als Vertreter*innen einer umstrittenen politischen oder gesellschaftlichen Haltung bekannt waren.

Offene Briefe können auch über ihr Veröffentlichungsmedium hinaus Aufmerksamkeit generieren und als berichtenswerte Nachricht erachtet werden. Dies gilt insbesondere, wenn sie von namhaften Personen verfasst wurden (z. B. Prominente, populäre Wissenschaftsexpert*innen, Literat*innen, Vorstandsvorsitzenden u. ä.). Offene Briefe können theoretisch von jeder*m verfasst werden, historisch sieht Rose jedoch zunächst erfolgreiche Schriftsteller, die offene Briefe als „Medium einer intellektuellen Debatte“ gebrauchten (Rose 2020: 556). Heute nennt Rose „publizistische Instanz[en]“ als häufige Verfasser*innen (Rose 2020: 554). Ein offener Brief muss nicht nur von einer Einzelperson unterzeichnet sein. Oft ist er von mehreren Personen unterschrieben (s. zum Beispiel Geoghegan/Kelly 2011). In den Beispielen finden sich unter anderem Vereine und Lobbyorganisationen als Initiator*innen.

Gelingensbedingungen

Wann gilt ein offener Brief als erfolgreich? Ein klarer Fall wäre die Umsetzung der Forderungen des offenen Briefes. Dies wird auch von den Verfasser*innen als Erfolg verbucht, wie in Beispiel 2 zu sehen ist und wird von Rose als „idealtypische“ Wirkung bezeichnet (Rose 2020: 553). Auch eine Reaktion der Adressat*innen des offenen Briefes stellt einen Erfolg dar. Diese könnte in Form einer Antwort, öffentlich oder nicht-öffentlich, oder einer Stellungnahme passieren. Durch die Doppeladressierung sowie die Veröffentlichung können sich jedoch auch weitere Akteure einschalten und auf den offenen Brief reagieren. Ein Beispiel hierfür ist der weiter unten besprochene offene Brief von Alice Schwarzer und anderen vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs. Ein Zusammenschluss ukrainischer Vereine, die Allianz ukrainischer Organisationen, wandte sich ebenfalls in öffentlicher Briefform an die Unterzeichnenden und kritisierte ihre Forderungen scharf (vgl. Allianz ukrainischer Organisationen 2022). Werden in klassischen Medien eher die Antworten von Politiker*innen, Organisationen oder weiteren relevanten Akteure veröffentlicht, bieten Kommentarfelder und soziale Medien auch jede*m die Möglichkeit, seine Meinung auszudrücken.

Als weiterer Erfolgsindikator kann bereits die Veröffentlichung des offenen Briefes durch ein relevantes Medium gezählt werden. Wird der Brief veröffentlicht, erachtet das Medium Inhalt und Verfasser*innen als relevant genug, ihnen eine Bühne zu bieten. Auch die Rezeption und Berichterstattung kann als Zeichen dienen, dass die Forderungen oder die Meinung als diskussionswürdig, wenn nicht gar unterstützenswert gesehen werden. In manchen Fällen wird jedoch allein aufgrund der Bekanntheit der Absender*innen oder einer besonders provokanten Forderung über den offenen Brief berichtet. Schließen sich weitere Unterzeichner*innen dem offenen Brief an, können sie der im Brief geäußerten Position mehr Gewicht verleihen. Zudem wird den Absender*innen so deutlich Unterstützung signalisiert. Durch Teilen in beispielsweise sozialen Medien kann sich die Reichweite eines offenen Briefes weiter vergrößern.

Interessant ist das Format des offenen Briefes vor dem Hintergrund des Wandels großer Printmedien sowie des Internets und wie dies den möglichen Erfolg beeinflusst, insbesondere im Verhältnis zu ähnlichen Formaten. Dazu zählen nicht nur die erwähnten Petitionen, sondern auch Text- und Videobotschaften in sozialen Netzwerken (etwa in Form von Influencer-Praktiken oder politischen Memes), die sich Algorithmen sowie audiovisueller Werkzeuge zunutze machen, aber inhaltlich ähnlich wie offene Briefe aufgebaut sind.  Hierzu finden sich jedoch in der Literatur wenig bis keine Kommentare.

Journalist*innen selbst sehen offene Briefe teils als „antiquierte[s] Genre“ und Inszenierung Intellektueller als moralisch integre Personen (Lorenz 2022; El Ouassil 2022) oder beklagen vermeintlich mangelnde inhaltliche und sprachliche Qualität (Steinkopf 2022). Auch stellen sie die Frage, ob seit dem Aufstieg von sozialen Medien offene Briefe noch einen „politischen Wert“ besitzen (El Ouassil 2022). Aller Kritik zum Trotz nehmen Journalist*innen aber eine Zunahme offener Briefe wahr. Sie weisen zudem darauf hin, dass offene Briefe je nach politischer Lage sowie der Presse- und Meinungsfreiheit nur einen geringen Einsatz fordern und somit eher ein „Lippenbekenntnis“ darstellen, oder die Verfasser*innen einem großen Risiko aussetzen können (Lorenz 2022).  

Beispiele

(1) Im April 2022 veröffentlichte die Zeitschrift EMMA einen offenen Brief an den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, in dem die Verfasser*innen einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine forderten und sich gegen Waffenlieferungen aus Deutschland aussprachen (Schwarzer et al. 2022). Unter den Erstunterzeichner*innen befanden sich überwiegend Kulturschaffende wie Schauspieler Lars Eidinger oder Autoren wie Martin Walser und Juli Zeh. Bei Alice Schwarzer, einer der Unterzeichner*innen, handelt es sich dabei um die Herausgeberin der Zeitschrift. Somit griff sie auf ihr bestehendes Publikum zurück, um den offenen Brief zu verbreiten und musste nicht erst ein passendes Medium finden, das bereit gewesen wäre, ihn zu veröffentlichen.

In einer zweiten Runde unterzeichneten auch Privatpersonen den Brief. Besonders interessant an diesem offenen Brief ist, dass er nach der Erstveröffentlichung ebenfalls auf der Petitionsplattform change.org zur Verfügung gestellt wurde und damit anonyme Unterschriften über die Plattform ermöglichte. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Glossareintrags hatte die Petition über eine halbe Million Unterschriften gesammelt. Außer dem Wechsel der Plattform, vom Magazin zu change.org, wurde der offene Brief nicht bearbeitet und wird so nur durch die Umgebung, in der er steht, zur Petition.

Über den Brief sowie die öffentliche Reaktion berichteten beispielsweise die Frankfurter Rundschau (vgl. Kathe 2022), der Spiegel (vgl. Spiegel 2022) sowie die ZEIT (vgl. ZEIT 2022). In diesen Berichten kamen auch Kritiker*innen zu Wort. Der Tagesspiegel veröffentlichte den bereits erwähnten Antwortbrief ukrainischer Organisationen, die den Forderungen deutlich widersprachen (vgl. Allianz ukrainischer Organisationen 2022). Bis auf das Medienecho jedoch scheint der Erfolg bisher begrenzt zu sein. Dafür spricht ebenfalls, dass Alice Schwarzer im Februar 2023 erneut mit ähnlichen Forderungen auftrat und gemeinsam mit Sahra Wagenknecht einen weiteren Text veröffentlichte, nun direkt auf der Petitionsplattform change.org sowie auf einer eigenen Website, der sich jedoch stilistisch und inhaltlich wenig von dem ersten offenen Brief abzuheben scheint. Statt als offenen Brief bezeichnen die Autor*innen diesen jedoch als Manifest und versehen ihn dadurch zusätzlichen Geltungsanspruch. Mit Sahra Wagenknecht unterstützt nun eine bekannte deutsche Oppositionspolitikerin das Anliegen.   

In diesem Beispiel ist eine Anpassung der Strategie erkennbar, über die Gründe dessen ist jedoch nichts bekannt. Es ist möglich, dass die Unterzeichner*innen hoff(t)en, durch einen Schulterschluss einer Publizistin und einer Politikerin sowie der direkten Möglichkeit der offenen Unterzeichnung im zweiten Anlauf mehr positive Resonanz zu erhalten.

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Abb. 1: Offener Brief an Kanzler Scholz auf EMMA zum Ukrainekrieg.

(2) Offener Brief des Verbands der Gründer und Selbstständigen Deutschland e.V. (VGSD) zu finanziellen Hilfen während der Corona-Pandemie: Im Mai 2021 wandten sich Vertreter*innenverbände von Freiberuflern und Selbstständigen in einem offenen Brief an Bundesminister Helge Braun und forderten eine Verlängerung und Erhöhung der sogenannten Neustarthilfe, die Einrichtung eines Ausfallfonds für die Veranstaltungsbranche sowie die Möglichkeit für Selbstständige, bei dem Vorwurf von Subventionsbetrug Stellung zu nehmen (vgl. Ewer et al. 2021).

Etwa 4 Wochen nach der Veröffentlichung  im Juni 2021 vermeldete der VGSD erste Erfolge. Sie führten die angekündigte Verlängerung und Erhöhung der Neustarthilfe sowie die Einrichtung eines Ausfallfonds auf ihren offenen Brief zurück, übten aber gleichzeitig Kritik an den Stellen, wo sie die Maßnahmen als nicht ausreichend erachteten (vgl. Lutz 2021). Dieser offene Brief ist sowohl geprägt von formeller Sprache als auch von hochemotionalen Formulierungen, die die Dringlichkeit des Anliegens verdeutlichen sollen. So wird einerseits Corona als Killer bezeichnet, gleichzeitig tritt aber der Nominalstil gehäuft auf und es wird auf normalistische Statistiken verwiesen, um die eigene Position zu untermauern. Er wurde auf der Plattform des VGSD veröffentlicht, einem der Mitinitiator*innen und Unterzeichner*innen. So wird auch hier auf die eigene Reichweite zurückgegriffen und die eigene Plattform genutzt. Es ist nicht der erste offene Brief, in dem wirtschaftslobbyistische Gruppen um Hilfen für Selbständige während der Corona-Pandemie baten. Bereits 2020 wandte sich der VGSD gemeinsam mit dem Bundesverband der Freien Berufe (BFB) an Scholz, damals Vizekanzler und Finanzminister, und wies auf besondere Herausforderungen für Freiberufler hin (vgl. Luck 2020). Auch abseits dieser Thematik bedient sich der Verband regelmäßig des offenen Briefes, um den Forderungen und Meinungen seiner Mitglieder Nachdruck zu verleihen. Für ihn scheint es sich um eine erfolgsbewährte Strategie zu handeln.

Offener Brief vgsd

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Abb. 2: Offener Brief an den Bundesminister zu Corona-Hilfen für Selbstständige.

Literatur

Zum Weiterlesen

  • Essig, Rolf-Bernhard (2000): Der offene Brief: Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günther Grass. Würzburg: Königshausen und Neumann.

Zitierte Literatur

Abbildungsverzeichnis

Zitiervorschlag

Keneman, Ylva (2024): Offener Brief. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 19.03.2024. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/offener-brief/.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative Fähigkeit, längere zusammenhängende sprachliche Äußerungen wie Erzählungen, Erklärungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Agenda Setting

Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, müssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Normalismus

Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.

Wissen

Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.

Werbung

Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf Einführung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.

Mediale Kontrolle

Medien werden vielfältig zur Durchsetzung von Macht verwendet. So in der Zensur, wenn eine politische Selektion des Sagbaren und des Unsagbaren stattfindet; in der Propaganda, wenn eine Bevölkerung von den Ansichten oder wenigstens der Macht einer bestimmten Gruppe überzeugt werden soll; oder in der Überwachung, die unerwünschtes Verhalten nicht nur beobachten, sondern unwahrscheinlich machen soll.

Freund- und Feind-Begriffe

Freund-, Gegner- und Feindbegriffe sind Teil der Politischen Kommunikation. Sie bilden die Pole eines breiten Spektrums von kommunikativen Zeichen, mit denen politische Akteure sich selbst und ihre politischen Gegner im Kampf um beschränkte Ressourcen auf dem diskursiven Schlachtfeld positionieren.

Sprachpolitik / Sprachenpolitik

Sprachpolitik bezeichnet allgemein alle politischen Prozesse, die auf eine Beeinflussung der Sprachverwendung in einer Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft abzielen. Unterschieden wird häufig zwischen Sprachenpolitik und Sprachpolitik im engeren Sinne.

Techniken

Kommunikationsverweigerung

Unter dem Begriff Kommunikationsverweigerung lässt sich ein Bündel von Praktiken und Strategien fassen, die den kommunikativen Austausch zu erschweren oder zu verhindern suchen.

Flugblatt

Unter Flugblättern versteht man einseitige Druckerzeugnisse, die ursprünglich meist illustriert waren. Eng verwandt sind die mehrseitigen Flugschriften. Während Flugschriften und Flugblätter heute kostenlos verteilt werden oder zur Mitnahme ausliegen, wurden sie in der Frühen Neuzeit zunächst als Handelswaren verkauft und gingen so als frühe Massenmedien den Zeitungen voraus.

Passivierung

Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenüber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden müssen, was beispielsweise in Gesetzestexten für eine (gewünschte) größtmögliche Abstraktion sorgt („Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 3 GG).

Aufopferungs-Topos

Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren.

Opfer-Topos

Als Opfer-Topos bezeichnet man eine diskursive Argumentationsstrategie, bei der sich Akteure als ‚Opfer‘ gesellschaftlicher Urteilsbildung inszenieren und damit eigene Interessen – vor allem Aufmerksamkeit und Berücksichtigung von Bedürfnissen – geltend zu machen versuchen.

Analogie-Topos

Der Analogie-Topos zählt zu den allgemeinen bzw. kontextabstrakten Argumentationsmustern, die genutzt werden können, um für oder gegen eine Position zu argumentieren. Analogie-Topoi werden von verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen strategisch eingesetzt, um eine zustimmende Haltung bei den Zielgruppen zu bewirken.

Topos der düsteren Zukunftsprognose

Der Topos der düsteren Zukunftsprognose beschreibt ein Argumentationsmuster, bei dem eine negative, dystopische Zukunft prognostiziert wird. Dabei wird auf die drohenden Folgen einer Krise oder einer allgemeinen Gefahr verwiesen, aus der eine negative Zukunft bei falschem Handeln resultieren wird.

Negativpreis

Ein Negativpreis ist eine Auszeichnung an Personen oder Organisationen (meist Unternehmen), die sich oder ihre Produkte positiv darstellen und vermarkten, ihre Versprechen aus Sicht des Preisverleihers allerdings nicht einhalten. Dabei dient der Preis durch seine Vergabe vor allem dem Zweck, Aufmerksamkeit zu erregen, mediale Präsenz auf ein Thema zu lenken und den Preisträger in seinem moralischen Image zu beschädigen.

Be-/Überlastungs-Topos

Der Be-/Überlastungstopos ist ein Argumentationsmuster, das vorwiegend in der politischen Kommunikation eingesetzt wird. Als zu vermeidende Konsequenz einer konkreten Situation wird mit dem Be-/Überlastungstopos ein Be- bzw. Überlastungs-Szenario skizziert.

Wahlkampf

Wahlkämpfe sind Zeiten stark intensivierter politischer Kommunikation. Politische Parteien entwickeln Programme für die nächste Legislaturperiode in der Hoffnung, durch entsprechenden Stimmengewinn zu deren Umsetzung ermächtigt zu werden.

Schlagwörter

Verfassung

Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht für die höchste und letzte normative und Legitimität setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen Gründungsakt eine Verfassung gibt.

Toxizität / das Toxische

Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lässt sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schädlich‘ erweitert hat, doch die Umstände, unter denen etwas für jemanden toxisch, d. h. schädlich ist, müssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.

Zivilgesellschaft

Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezählt.

Demokratie

Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.

Plagiat/Plagiarismus

Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.

Fake News

Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.

Lügenpresse

Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.

Antisemitismus

Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene Phänomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloßen Distanzierung und Behauptung jüdischer Andersartigkeit, über vollständig ausgearbeitete Weltbilder, die Jüdinnen*Juden für sämtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken.

Grammatiknazi / Grammar Nazi

Das überwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi – als Übersetzung von engl. grammar nazi – wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den Äußerungen anderer (häufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen üben.

Respekt

Respekt oder respektvolles Verhalten wird eingefordert für die Eigengruppe (bzw. von der Eigengruppe), für wirklich oder vermeintlich diskriminierte Gruppen, für abweichende Meinungen. Mitgemeint ist bei der Forderung nach Respekt meist eine positiv bewertete Szene der (sozialen, kulturellen, ethnischen, sexuellen etc.) Vielfalt/Diversität.

Verschiebungen

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

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Tagung: Diskursintervention (31.01.2019–01.02.2019)

Welchen Beitrag kann (bzw. muss) die Diskursforschung zur Kultivierung öffentlicher Diskurse leisten? Was kann ein transparenter, normativer Maßstab zur Bewertung sozialer und gesellschaftlicher Diskursverhältnisse sein?

Was ist ein Volk?

Dass „Volk“ ein höchst schillernder und vielschichtiger politischer Leitbegriff der vergangenen Jahrhunderte gewesen ist (und nach wie vor ist), kann man schon daran erkennen, dass der Eintrag „Volk, Nation“ in Brunner, Conze & Kosellecks großem Nachschlagwerk zur politischen Begriffsgeschichte mehr als 300 Seiten umfasst.

Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft!

Im Herbst 2022 veranstalteten die Sender des Deutschlandradios eine Kampagne mit Hörerbeteiligung zur Auswahl eines Themas, mit dem sich ihre sogenannte „Denkfabrik“ über das kommende Jahr intensiv beschäftigen solle. Fünf Themen standen zur Auswahl, „wehrhafte Demokratie“ wurde gewählt, wenig überraschend angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine…