DiskursGlossar

MaterialitÀt

Kategorie: Grundbegriffe
Verwandte AusdrĂŒcke: Materie, Materialismus, Materialisierung, Stoff, Stofflichkeit, Substanz, Wesenhaftigkeit
Autorin: Lorina Buhr
Version: 1.1 / Datum: 07.04.2022

Kurzzusammenfassung

Der Terminus MaterialitĂ€t verweist auf die tragende Grundlage eines Gegenstandes, in erster Linie ist seine sinnlich erfahrbare Stofflichkeit gemeint. Er wird in verschiedenen sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskursen und FĂ€chern aufgegriffen. Dabei wird zum einen – vor allem in philosophisch orientierten – Diskursen der Begriff der Materie (von lat. materia) aufgewertet und in den Mittelpunkt der Begriffs- und Theoriebildung gestellt. Zum anderen wird der Untersuchungsfokus auf physische Dinge und Artefakte und deren kulturhistorische Bedeutung gelegt.

Der theoretische Fokus auf MaterialitĂ€t ist denk- und wissensgeschichtlich allerdings kein Novum, sondern hat sich bereits in der FrĂŒhen Neuzeit zu einer theoretischen Position oder Weltanschauung verdichtet. Die Position des ‚Materialismus‘ rĂ€umt dem Materiellen einen erkenntnistheoretischen, erklĂ€renden oder empirischen Vorrang vor dem Geistigen oder Ideellen ein. In der radikalen Form des ‚Physikalismus‘ erkennt eine materialistische Position lediglich physische Elemente, Körper und Prozesse als in der Wirklichkeit gegebene Einheiten an. Im Bereich der Weltanschauungen betrachtet eine materialistische Ideologie die wesentlichen Charakteristika einer Gesellschaft von den konkreten menschlichen TĂ€tigkeiten und VerhĂ€ltnissen der Produktion und Reproduktion her.

Erweiterte BegriffsklÀrung

Die theoretische Hinwendung zur MaterialitÀt von Dingen, Medien und Praktiken hat in den letzten zwanzig Jahren eine Renaissance erlebt, nachdem in der Mitte und in der zweiten HÀlfte des 20. Jahrhunderts vor allem sprachliche Bedeutungen, Differenzierungen und Differenzen, Sinn- und ZeichenzusammenhÀnge im Zentrum der Aufmerksamkeit der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften standen (der sogenannte linguistic turn).

Materie und MaterialitÀt

Um besser zu verstehen, worauf sich die Frage nach der MaterialitĂ€t eines Dinges oder GegenstandsgefĂŒges richtet, lohnt es sich, die Bedeutung und Funktion des Begriffs der Materie bei Aristoteles zu vergegenwĂ€rtigen, denn unter Aristoteles – genauer in seiner Vorlesung zur Physik – taucht dieser Begriff erstmalig als philosophischer Begriff auf. Der altgriechische VorlĂ€ufer des Terminus ‚Materie‘ (von lateinisch materia bzw. materies) ist das Wort hyle, das Holz im Sinne von Nutz- und Bauholz meint. In der Bestimmung von Bauholz ist bereits eine begriffliche Anlage enthalten, die bis heute das GrundverstĂ€ndnis von MaterialitĂ€t prĂ€gt: Aus dem Bauholz lĂ€sst sich ein GebĂ€ude, z. B. ein Holzhaus, errichten; Bauholz bildet also die stoffliche Grundlage eines Holzhauses. Wir können auch sagen: Ein Holzhaus entsteht aus Holz und Holz ist eine stoffliche Basis, die eine bestimmte Formung, nĂ€mlich als Brett und Balken eines Holzhauses, erfĂ€hrt. Allgemeiner gesprochen bestimmt Aristoteles Materie als „das, woraus etwas entsteht“ (Aristoteles, Physik, VII.3, 245b 10). Dieser Zusammenhang kann wiederum als allgemeine Beziehung formuliert werden: Etwas (x) ist die Materie von etwas (y). Wenn also nach der MaterialitĂ€t von etwas gefragt wird, so richtet sich die Frage auf die sinnlich erfahrbare stoffliche Basis, die TrĂ€gerschaft oder den substanziellen Gehalt einer Sache. In der aristotelischen Denktradition, die bis heute sehr wirkmĂ€chtig fĂŒr viele wissenschaftliche und kĂŒnstlerische Bereiche ist, ist die Angabe der Materie bzw. MaterialitĂ€t eng mit der Angabe der die Materie bestimmenden Form oder formgebenden Struktur verbunden. Materie und Form und deren Verbindung und VerhĂ€ltnis zueinander bilden zentrale Erkenntnisprinzipien fĂŒr Objekte, Gebilde und Praktiken.

Materialismen

Die Betrachtung von GegenstĂ€nden in der Welt kann sich vor dem Hintergrund der Unterscheidungen von Form und Materie oder Geistiges und Materielles einseitig auf die Seite der Materie bzw. MaterialitĂ€t verlagern. Der MaterialitĂ€t von GegenstĂ€nden wird dann eine höhere oder alleinige Relevanz fĂŒr das VerstĂ€ndnis oder die ErklĂ€rung von Dingen in der Welt zugesprochen. Der Fokus auf die MaterialitĂ€t von Dingen kann sich dabei zu einer theoretischen und weltanschaulichen Position erhĂ€rten. Eine sogenannte materialistische Position (oder auch Lehre) macht eine Aussage ĂŒber die Art und Gesamtheit der existierenden EntitĂ€ten in der Welt und beschrĂ€nkt dabei die existierenden EntitĂ€ten auf materielle – und damit zumeist auf messbare – EntitĂ€ten, oder nimmt eine bestimmte Vorrangstellung des (physischen) Materiellen ĂŒber das Geistige, Mentale oder Ideelle vor. In der Geschichte des Denkens und der Wissenschaften sind verschiedene AusprĂ€gungen und Typen dieser Position, d. h. verschiedene Materialismen und materialistische Lehren, hervorgebracht und zum Teil als wissenschaftliche und politische Programme ausgerufen worden. Nachfolgend werden zwei zentrale Materialismen in der Geschichte der Wissenschaften vorgestellt.

Der naturwissenschaftliche Materialismus ist die Grundannahme, dass es eine vom Bewusstsein unabhĂ€ngige, ‚objektive‘ materielle Welt (oder Natur) gibt, auf die sich die wissenschaftliche Erkenntnis bezieht. Wird die Position vertreten, dass allein von materiellen bzw. körperlichen Objekten gĂŒltige Erkenntnis möglich ist, nimmt die Position des Materialismus die Form eines (reduktiven) ‚Physikalismus‘ oder ‚Naturalismus‘ an (vgl. SandkĂŒhler 2010, 1504). Der wissenschaftliche Materialismus ist ein Kind der frĂŒhen Neuzeit und bis heute die implizite Vorannahme vieler Natur- und Lebenswissenschaften. Im 18. Jahrhundert wurde insbesondere in Frankreich der naturwissenschaftliche Materialismus auf einen mechanistischen und physiologischen Materialismus zugespitzt, der das Verhalten von Tieren, Menschen und generell SeelenvorgĂ€nge in Analogie zu Maschinenfunktionen deutete (vgl. Nieke 1980, 842). Diese Formen des Materialismus haben im 19. Jahrhundert vehemente Kritik von idealistischen und erkenntniskritischen Positionen – beispielsweise diejenigen von Kant, Hegel und Fichte – erfahren. Idealistische und erkenntniskritische Gegenpositionen betonen, dass es vor und außerhalb des Materiellen auch eine Welt der GrĂŒnde, der Zwecke und der Freiheit gibt und dass die Erkenntnis von körperlichen Dingen gerade vom nicht-materiellen, geistig verfassten Denken ausgeht.

Karl Marx und Friedrich Engels haben die idealistische Kritik fĂŒr die Reformulierung einer materialistischen Position aufgenommen, nun aber den Anwendungsbereich des Materialismus nicht mehr nur auf die Erkenntnis der Natur bezogen, sondern auch auf die SphĂ€re der menschlichen TĂ€tigkeit (Produktion) und Geschichte (‚materialistische Geschichtsauffassung‘). Gesellschaftliche VerĂ€nderungen und Bewegungen wĂŒrden demnach nicht primĂ€r, so eine Kernannahme des historischen Materialismus, durch Ideen, sondern durch VerĂ€nderungen der Produktions- und Wirtschaftsweise und damit der materiellen Basis einer Gesellschaft verursacht. Der historische Materialismus wurde dann wiederum von Engels und spĂ€ter von Lenin zu einer dialektischen, d. h. alle Bewegungsformen von den physischen, chemischen und biologischen bis zu sozialhistorischen Bewegungen umfassenden materialistischen Weltanschauung weiterentwickelt. Der dialektische Materialismus bildete einen Grundbaustein der sozialistischen und kommunistischen Ideologie im 20. Jahrhundert.

Im politischen Denken und in der politischen Analyse identifiziert eine (post-)marxistisch orientierte materialistische Perspektive WidersprĂŒche zwischen verschiedenen sozialen Klassen, analysiert die bestehenden VerhĂ€ltnisse der Arbeitsteilung, (Re-)Produktion und zur Natur sowie die AbhĂ€ngigkeiten von Herrschenden und Beherrschten. Dabei ist die materialistische Analyse mit dem Anliegen der Kritik verbunden, d.h. mit dem Impuls, durch die gesellschaftliche Analyse einen Beitrag zu einer gerechteren und emanzipierten Gesellschaft zu leisten. Aus dieser materialistischen Perspektive sollten sĂ€mtliche Herausforderungen der Gesellschaft – seien es die Klima- und Umweltkrise, die sich weitende Schere zwischen Arm und Reich oder Fragen der sozialen und politischen kollektiven IdentitĂ€t – immer im Lichte der konkreten sozialen (Herrschafts-)VerhĂ€ltnisse und ‚Klassen‘ bzw. sozialen Gruppierungen betrachtet werden.

In jĂŒngerer Zeit, genauer seit Mitte der 2000er, werden in verschiedenen kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskursen Fragen nach der Materie und MaterialitĂ€t von Dingen, Medien und Praktiken vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit und diskurspolitischen BemĂŒhungen gerĂŒckt. Diese transdisziplinĂ€re diskursive Bewegung wird auch als material turn bezeichnet (vgl. z. B. Löw et al. 2017). Dabei wird allerdings keineswegs an dem historischen oder dialektischen Materialismus angeschlossen, sondern (in theoretischer Hinsicht) eine systematische Fokussierung und Reflexion auf das Konzept der Materie oder (in empirischer und theoriebildender Absicht) auf Anteile des Materiellen an der Kultur, Technik und Handlung unternommen. Nachfolgend seien einige Hauptströme dieser Richtung skizziert: Unter dem Stichwort der ‚materiellen Kultur‘ werden Dinge in der Welt in ihren Verbindungen mit Handlungen, Bedeutungen, geschichtlichen, Situierungs-, Produktions-, Design-, Konsum- und Nutzungskontexten untersucht (vgl. Ludwig 2020). Diese empirisch orientierten Untersuchungen werden vor allem in den Kultur- und Medienwissenschaften sowie in der Geschichte und ArchĂ€ologie betrieben. In der Wissenschaftsforschung (Science Studies, Science and Technology Studies) werden materielle Grundlagen und Ausstattungen von sozialen Settings unter dem Terminus der materiellen Wirkungsmacht (material agency) als prinzipiell beteiligt an und konstitutiv fĂŒr Handlungen und Erkenntnis begriffen. In der Medienkulturwissenschaft und Diskurs- und Dispositivforschung ist die analytische Unterscheidung von ‚diskursiven‘ und ‚nicht-diskursiven‘ Praktiken von Foucault aufgegriffen und mit einem besonderen Fokus auf die materiellen Elemente von Diskursen und Dispositiven (z. B. Aufschreibesysteme wie Schreibmaschinen und Computer, Architekturen, Instrumente) zu einer materiell orientierten Untersuchungsperspektive weiterentwickelt worden. Auf der Ebene der Theoriebildung werden unter dem Label ‚Neuer Materialismus‘ (new materialism) naturphilosophische und metaphysische Ideen der Materie und materieller WirkkrĂ€fte und -mĂ€chte aufgegriffen und fĂŒr eine soziale und politische Theorie der Wissenschaft, Erkenntnis und Gesellschaft fruchtbar gemacht (vgl. Coole/Frost 2010, sowie Beispiel 2).

Materialismus als Bezichtigung

Wenn fernab der philosophischen, sozialgeschichtlichen und politischen Kontexte (aber gleichwohl mit einer impliziten Referenz) in der gesprochenen Sprache und im gesellschaftlichen Diskurs Personen oder Verhaltensweise als materialistisch charakterisiert werden, erfolgt dies in erster Linie mit der Funktion der Bezichtigung. Hinter der Aussage „Du bist/das ist aber materialistisch!“ verbirgt sich der Vorwurf „von mangelnde[m] moralischen ‚Idealismus‘, ‚Gottlosigkeit‘ und ‚Unsittlichkeit‘ und egoistischen ‚Strebens nach materiellen GĂŒtern‘“ (SandkĂŒhler 2010, 1504).

Beispiele

(1) MaterialitÀt (in) der politischen Architektur

Die Frage nach der MaterialitĂ€t des geplanten Erweiterungsbaus des Bundeskanzleramtes bzw. den darin konkret verwendeten Materialien bildete (neben der Frage nach den Kosten) den Gegenstand einer Kleinen Anfrage, die Abgeordnete des Bundestagstags sowie die Fraktion von BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN im Juni 2021 an die damalige Bundesregierung richteten (Bundestag, Drucksache 19/30354). Es wurde darin u. a. gefragt, welche Materialien hauptsĂ€chlich verwendet werden sollen und welcher Anteil an nachwachsenden Rohstoffen unter den eingesetzten Materialien angestrebt werde. Die Frage nach der geplanten MaterialitĂ€t des Erweiterungsbaus wurde hier unter energetischen und ökologischen Gesichtspunkten und dem Aspekt „Vorbildfunktion des Bundes“ fĂŒr eine nachhaltige und effiziente Bauweise vorgebracht (Bundestag, Drucksache 19/30354). In der Antwort wird die ZentralitĂ€t der MaterialitĂ€t fĂŒr die Planung direkt aufgegriffen, denn nicht nur die „direkte Bezugnahme und WeiterfĂŒhrung der Architektur des BestandsgebĂ€udes“, auch die „MaterialitĂ€t“ hĂ€tten den „gestalterische[n] Leitgedanke[n] der Architekten“ gebildet (Bundestag, Drucksache 19/30354).

Bundeskanzleramt in Berlin (lizenzfrei; Bildquelle: Pixabay, https://pixabay.com/de/photos/bundeskanzleramt-architektur-modern-3111370/
Abb. 1: Bundeskanzleramt in Berlin.

Interessanterweise wird also in der Kleinen Anfrage – einem wichtigen demokratiepraktischen Instrument – die MaterialitĂ€t, weniger aber die Form, erstens in den Fokus gerĂŒckt und zweitens zugleich bestimmten PrĂŒfkriterien, nĂ€mlich denen der Nachhaltigkeit und CO2-Bilanz, zugefĂŒhrt. Das Beispiel gibt einen Hinweis auf eine diskursive VerĂ€nderung: Die MaterialitĂ€t von Dingen – von KonsumgĂŒtern bis zu GebĂ€udekomplexen – wird nicht mehr nur nach der symbolischen, sozialen und politischen Bedeutung, sondern zunehmend auch nach Gesichtspunkten der Ökologie und KlimavertrĂ€glichkeit diskutiert.

(2) Materialisierung des Geschlechts (J. Butler)

Bei Aristoteles haben wir ein Grundschema des Begriffs der Materie kennengelernt: Etwas (x) ist die Materie von etwas (y). Diese klassische Bestimmung von Materie hat einen fixierenden Aspekt: Die Materie eines Gegenstandes wird hier regelrecht ‚dingfest‘ gemacht. Sie lĂ€sst aber auch eine andere Betrachtungsweise zu, indem man darauf schaut, wie etwas zu einem Materiehaften, Stoffgleichen wird, wie also ĂŒberhaupt etwas materialisiert – und damit immer auch: diskursiv fixiert – wird. Genau diese Strategie hat die feministische Philosophin Judith Butler in ihrer zentralen Schrift Körper von Gewicht (Original: Bodies that matter) gewĂ€hlt. Statt von der (sprachlichen, diskursiven) „Konstruktion“ von Geschlecht zu sprechen, schlĂ€gt sie vor, nach den Prozessen der Materialisierung, der MaterialitĂ€t und ja, der „‚Materie‘ des biologischen Geschlechts“ selbst zu fragen (Butler 2017, 32).

Literatur

Zum Weiterlesen

  • Eagleton, Terry (2018): Materialismus: die Welt erfassen und verĂ€ndern. Wien: Promedia.
    HĂŒlsen-Esch, Andrea von (2017): Materie – Material – MaterialitĂ€t: DisziplinĂ€re AnnĂ€herungen. DĂŒsseldorf: DUP, DĂŒsseldorf University Press.
  • Mainzer, Klaus (1996): Materie: von der Urmaterie zum Leben. MĂŒnchen: Beck.
  • Stoff, Heiko (2018): MaterialitĂ€t. In: Doing Space While Doing Gender –Vernetzungen von Raum und Geschlecht in Forschung und Politik. Bielefeld: transcript Verlag, S. 77–92.

Zitierte Literatur und Belege

  • Aristoteles (1987): Aristoteles’ Physik: Vorlesung ĂŒber Natur. Zweiter Halbband: BĂŒcher V (E)–VIII (Θ). Griechisch-Deutsch. Übers., mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. v. Hans GĂŒnter Zekl. Hamburg: F. Meiner.
  • Britta Haßelmann, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 19/30024 –).
  • Butler, Judith (2017): Das Unbehagen der Geschlechter (Gender Trouble, 1990).Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Coole, Diana H.; Frost, Samantha (Hrsg.) (2010): New materialisms: ontology, agency, and politics. Durham, NY; London: Duke University Press.
  • Deutscher Bundestag 19. Wahlperiode. Drucksache 19/30354 v. 07.06.2021. (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Christian KĂŒhn (TĂŒbingen).
  • Löw, Christine et al. (Hrsg.) (2017): Material turn: feministische Perspektiven auf MaterialitĂ€t und Materialismus. Opladen Berlin Toronto: Verlag Barbara Budrich.
  • Ludwig, Andreas (2020): Materielle Kultur. Version 2.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, ZZF – Centre for Contemporary History: Docupedia. Online unter: https://zeitgeschichte-digital.de/doks/1943 ; Zugriff: 04.04.2022.
  • Nieke, Wolfgang (1980): Materialismus. In: Ritter, Joachim; GrĂŒnder, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh). Basel: Schwabe Verlag, S. 842–850.
  • SandkĂŒhler, Hans J. (2010): Materialismus. In: Ders.: EnzyklopĂ€die Philosophie. In drei BĂ€nden mit einer CD-ROM. Hamburg: F. Meiner Verlag, S. 1504–1514.

Abbildungsverzeichnis

Zitiervorschlag

Buhr, Lorina (2022): MaterialitÀt. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 07.04.2022. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/materialitaet.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Kontextualisieren

Kontextualisieren wird im allgemeineren bildungssprachlichen Begriffsgebrauch verwendet, um das Einordnen von etwas oder jemandem in einen bestimmten Zusammenhang zu bezeichnen.

Narrativ

Mit der diskursanalytischen Kategorie des Narrativs werden Vorstellungen von komplexen Denk- und Handlungsstrukturen erfasst. Narrative in diesem Sinne gehören wie Schlagwörter, Metaphern und Topoi zu den Grundkategorien der Analyse von Diskursen.

Argumentation

Argumentation bezeichnet jene sprachliche TĂ€tigkeit, in der man sich mithilfe von GrĂŒnden darum bemĂŒht, die Richtigkeit einer Antwort auf eine bestimmte Frage zu erweisen. Das kann in ganz verschiedenen Situationen und Bereichen nötig sein, namentlich um eine poli-tische, wissenschaftliche, rechtliche, unternehmerische oder private Angelegenheit zu klĂ€ren.

Hegemonie

Wie der britische Politikwissenschaftler Perry Anderson 2018 in einer umfassenden, historisch weit ausgreifenden Studie zum Gebrauch des Begriffs Hegemonie und seinen Konjunkturen beschreibt, liegen die historischen Wurzeln des Begriffs im Griechischen, als Bezeichnung fĂŒr FĂŒhrung (eines Staatswesens) mit Anteilen von Konsens.

Diskurskompetenz

Im engeren, linguistischen Sinn bezeichnet Diskurskompetenz die individuelle sprachlich-kommunikative FĂ€higkeit, lĂ€ngere zusammenhĂ€ngende sprachliche Äußerungen wie ErzĂ€hlungen, ErklĂ€rungen, Argumentationen zu formulieren und zu verstehen.

Agenda Setting

Rassistisch motivierte Gewalt, Zerstörung des Regenwaldes, Gender pay gap: Damit politische Institutionen solche Probleme bearbeiten, mĂŒssen sie erst als Probleme erkannt und auf die politische Tagesordnung (Agenda) gesetzt werden. Agenda Setting wird in Kommunikations- und Politikwissenschaft als eine Form strategischer Kommunikation beschrieben, mithilfe derer Themen öffentlich Gehör verschafft und politischer Druck erzeugt werden kann.

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage fĂŒr Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die FĂ€higkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhĂ€ngig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, KrĂ€fteverhĂ€ltnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf WahrheitsansprĂŒche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Metapher

In der politischen Berichterstattung ist oft davon die Rede, dass eine bestimmte Partei einen Gesetzesentwurf blockiert. Weil das Wort in diesem Zusammenhang so konventionell ist, kann man leicht ĂŒbersehen, dass es sich dabei um eine Metapher handelt.

Normalismus

Normalismus ist der zentrale Fachbegriff fĂŒr die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers JĂŒrgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚NormalitĂ€t‘ und ‚AnormalitĂ€t‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.

Techniken

Distanzieren

Distanzieren bezeichnet die Abgrenzung eines individuellen oder organisationalen Akteurs von einem anderen Akteur. Eine Distanzierung kann kommunikativ oder operativ vollzogen werden, d. h. die Abgrenzung findet verbal oder unter AufkĂŒndigung eines ArbeitsverhĂ€ltnisses statt.

Kontaktschuld-Topos

« ZurĂŒck zur ArtikelĂŒbersichtKontaktschuld-Topos Kategorie: TechnikenVerwandte AusdrĂŒcke: Assoziationsschuld, Applaus von falscher Seite, ad hominem, Guilt by AssociationSiehe auch: Verschwörungstheorie, Moralisierung, Freund-Feind-Begriffe, Topos, Opfer-ToposAutoren:...

Schlagbilder

Der Terminus Schlagbild bezeichnet mehr oder weniger inszenierte Bilder. Ihre Bedeutung beruht nicht nur auf ihren sichtbaren (ikonischen) Formen, sondern vielmehr auf den symbolischen Inhalten, die sich durch vielfache mediale Wiederholung und Konventionen gefestigt haben.

InvektivitÀt / MetainvektivitÀt

InvektivitĂ€t ist ein Überbegriff fĂŒr den PhĂ€nomenbereich der Herabsetzung und Ausschließung mittels symbolischer Praktiken. In Invektiven (z.B. Spott, Beleidigung, sprachliche Aggression, Diskriminierung, Hassrede) werden Einzelnen oder Gruppen marginalisierte oder niedrige soziale Positionen zugeschrieben, Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften abgesprochen oder IdentitĂ€ten negiert.

Parole

Die Parole ist ein kleines, potentes sprachliches Werkzeug, das in der politischen Kommunikation unerlÀsslich ist und zweckgebunden in politischen Mobilisierungen eingesetzt wird.

Komposita

. In der politischen Rhetorik tragen Komposita zur PrĂ€gnanz und EmotionalitĂ€t von Botschaften bei, indem sie komplexe Sachverhalte und politische Themen in zentralen Begriffen bĂŒndeln, in griffige Schlagworte packen und diese fĂŒr den gesellschaftlichen Diskurs zur VerfĂŒgung stellen (zum Beispiel Krisenmodus, Zeitenwende oder RĂŒckfĂŒhrungspatenschaften).

Nicht-Entschuldigen / Nonpology

Mit der Nicht-Entschuldigung verfolgen Diskursakteure verschiedene Ziele: sie wollen Ablenken von der eigenen Schuld, erhoffen sich eine Reputationsverbesserung durch vorgespielte Reue oder wollen (andere) negative Konsequenzen abwenden und sich in der Öffentlichkeit positiv als fehlereinsichtig und selbstkritisch darstellen.

Liken

Die eigentliche Funktion des Likens geht jedoch ĂŒber das Signalisieren von Zustimmung hinaus und ist konstitutiv fĂŒr das Funktionieren sozialer Medienplattformen und das Aushandeln von verschiedenen Formen der SozialitĂ€t auf diesen.

Hashtag

Mit dem Begriff Hashtag wird auf eine kommunikative Technik der spontanen Verschlagwortung und Inde-xierung von Postings in der Internetkommunikation verwiesen, bei der Sprache und Medientechnik sinnstif-tend zusammenwirken. Der Gebrauch von Hashtags hat eine diskursbĂŒndelnde Funktion: Er ermöglicht es, Inhalte zu kategorisieren (#Linguistik, #Bundestag), such- und auffindbar zu machen (#Bundestags-wahl2025), aber auch zu bewerten (#nicetohave) und zu kontextualisieren (#Niewiederistjetzt).

Diminutiv

Auch in Politik, Wirtschaft, Presse und Werbung werden Diminutiv-Formen zu rhetorischen Zwecken eingesetzt, um etwa emotionale NĂ€he zu konstruieren (unser LĂ€ndle), eine Person abzuwerten (die ist auch so ein SchĂ€tzchen), einen als ‚riskant‘ geltenden Sachverhalt zu ‚verharmlosen‘ (ein Bierchen) oder eine ‚Sachverhaltsbanalisierung‘ zurĂŒckzuweisen (Ihre ‚Demonstratiönchen‘).

Schlagwörter

Radikalisierung

Das Adjektiv radikal ist ein mehrdeutiges Wort, das ohne spezifischen Kontext wertneutral gebraucht wird. Sprachhistorisch bezeichnete es etwas ‚tief Verwurzeltes‘ oder ‚Grundlegendes‘. Dementsprechend ist radikales Handeln auf die Ursache von etwas gerichtet, indem es beispielsweise zugrundeliegende Systeme, Strukturen oder Einstellungen infrage stellt und zu Ă€ndern sucht.

BĂŒrokratie

BĂŒrokratie ist ein Begriff, der im Rahmen aktueller strategischer Kommunikation ein dicht besetztes, polarisiertes Feld korrespondierender AusdrĂŒcke öffnet. Neben den direkten Ab-leitungen BĂŒrokratisierung, BĂŒrokratismus und Komposita, als wichtigstes BĂŒrokratieabbau, gehören dazu vor allem Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung.

Politisch korrekt / Politische Korrektheit

Der Ausdruck politisch korrekt / Politische Korrektheit und die amerikanischen Vorbilder politically correct /P.C. / Political Correctness (Gegenteile, etwa politisch unkorrekt etc., sind mitzudenken) reprĂ€sentieren ein seit den frĂŒhen Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts populĂ€res Deutungsmuster, mit dem weltanschauliche, Ă€sthetische und politische Konflikte berichtet/bewertet werden, meist zuungunsten der als politisch korrekt bezeichneten Positionen, denen man eine ĂŒberzogene, sowohl lĂ€cherliche als auch gefĂ€hrliche Moralisierung unterstellt.

Kipppunkt

Als öffentliches Schlagwort ist Kipppunkt Teil eines Argumentationsmusters: es behauptet ein ‚Herannahen und baldiges Überschreiten einer unumkehrbaren SachverhaltsĂ€nderung, die fatale bzw. dystopische FolgeschĂ€den auslöst, wenn nicht umgehend bestimmte Maßnahmen eingeleitet oder unterlassen werden.‘

Verfassung

Die Verfassung eines Landes (in Deutschland das Grundgesetz von 1949) steht fĂŒr die höchste und letzte normative und LegitimitĂ€t setzende Instanz einer staatlichen Rechtsordnung. In der offiziellen Version demokratischer Selbstbeschreibung ist es das Volk selbst, das sich in einem rituellen GrĂŒndungsakt eine Verfassung gibt.

ToxizitÀt / das Toxische

Es ist nicht immer ganz eindeutig bestimmbar, was gemeint wird, wenn etwas als toxisch bezeichnet wird. Zeigen lĂ€sst sich zwar, dass sich die Bedeutung von ‚giftig‘ hin zu ‚schĂ€dlich‘ erweitert hat, doch die UmstĂ€nde, unter denen etwas fĂŒr jemanden toxisch, d. h. schĂ€dlich ist, mĂŒssen aus der diskursiven Situation heraus erschlossen werden.

Zivilgesellschaft

Im gegenwÀrtigen deutschen Sprachgebrauch werden so heterogene Organisationen, Bewegungen und Initiativen wie ADAC und Gewerkschaften, Trachtenvereine und Verbraucherschutzorganisationen, Umweltorganisationen und religiöse Gemeinschaften zur Zivilgesellschaft gezÀhlt.

Demokratie

Der Ausdruck Demokratie dient hĂ€ufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.

Plagiat/Plagiarismus

Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die IllegitimitÀt dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.

Fake News

Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre AnhĂ€nger wechselseitig der LĂŒge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.

Verschiebungen

Versicherheitlichung

In akademischen Kontexten wird Versicherheitlichung in Abgrenzung zu einem naiv-realistischen SicherheitsverstĂ€ndnis verwendet. Dieses betrachtet Sicherheit als einen universell erstrebenswerten und objektiv feststellbaren Zustand, dessen Abwesenheit auf das Handeln von Akteuren zurĂŒckzufĂŒhren ist, die feindselig, kriminell, unverantwortlich oder zumindest fahrlĂ€ssig agieren.

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwĂ€rtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-KalkĂŒle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche ĂŒbertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die SphÀre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Partizipatorischer Diskurs

Partizipation ist mittlerweile von der Forderung benachteiligter Personen und Gruppen nach mehr Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft zu einem Begriff der Institutionen selbst geworden: Kein Programm, keine Bewilligung mehr, ohne dass bestimmte Gruppen oder Personen dazu aufgefordert werden, fĂŒr (mehr) Partizipation zu sorgen.

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsĂ€chlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

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Die Macht der Worte 1/4: Wörter als Waffen

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Relativieren – kontextualisieren – differenzieren

Die drei Handlungsverben relativieren, kontextualisieren, differenzieren haben gemein, dass sie sowohl in Fachdiskursen als auch im mediopolitischen Interdiskurs gebraucht werden. In Fachdiskursen stehen sie unter anderem fĂŒr Praktiken, die das KerngeschĂ€ft wissenschaftlichen Arbeitens ausmachen: analytische GegenstĂ€nde miteinander in Beziehung zu setzen, einzuordnen, zu typisieren und zugleich Unterschiede zu erkennen und zu benennen.

Neue BeitrÀge Zur Diskursforschung 2023

Mit Beginn des Wintersemesters laden die Forschungsgruppen CoSoDi und Diskursmonitor sowie die Akademie diskursiv ein zur Vortragsreihe Neue BeitrÀge Zur Diskursforschung. Als interdisziplinÀres Forschungsfeld bietet die Diskursforschung eine Vielzahl an...