DiskursGlossar

Materialität

Kategorie: Grundbegriffe
Verwandte Ausdrücke: Materie, Materialismus, Materialisierung, Stoff, Stofflichkeit, Substanz, Wesenhaftigkeit
Siehe auch:
Autorin: Lorina Buhr
Version: 1.0 / Datum: 07.04.2022

Kurzzusammenfassung

Der Terminus Materialität verweist auf die tragende Grundlage eines Gegenstandes, in erster Linie ist seine sinnlich erfahrbare Stofflichkeit gemeint. Er wird in verschiedenen sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskursen und Fächern aufgegriffen. Dabei wird zum einen – vor allem in philosophisch orientierten – Diskursen der Begriff der Materie (von lat. materia) aufgewertet und in den Mittelpunkt der Begriffs- und Theoriebildung gestellt. Zum anderen wird der Untersuchungsfokus auf physische Dinge und Artefakte und deren kulturhistorische Bedeutung gelegt.

Der theoretische Fokus auf Materialität ist denk- und wissensgeschichtlich allerdings kein Novum, sondern hat sich bereits in der Frühen Neuzeit zu einer theoretischen Position oder Weltanschauung verdichtet. Die Position des ‚Materialismus‘ räumt dem Materiellen einen erkenntnistheoretischen, erklärenden oder empirischen Vorrang vor dem Geistigen oder Ideellen ein. In der radikalen Form des ‚Physikalismus‘ erkennt eine materialistische Position lediglich physische Elemente, Körper und Prozesse als in der Wirklichkeit gegebene Einheiten an. Im Bereich der Weltanschauungen betrachtet eine materialistische Ideologie die wesentlichen Charakteristika einer Gesellschaft von den konkreten menschlichen Tätigkeiten und Verhältnissen der Produktion und Reproduktion her.

Erweiterte Begriffsklärung

Die theoretische Hinwendung zur Materialität von Dingen, Medien und Praktiken hat in den letzten zwanzig Jahren eine Renaissance erlebt, nachdem in der Mitte und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem sprachliche Bedeutungen, Differenzierungen und Differenzen, Sinn- und Zeichenzusammenhänge im Zentrum der Aufmerksamkeit der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften standen (der sogenannte linguistic turn).

Materie und Materialität

Um besser zu verstehen, worauf sich die Frage nach der Materialität eines Dinges oder Gegenstandsgefüges richtet, lohnt es sich, die Bedeutung und Funktion des Begriffs der Materie bei Aristoteles zu vergegenwärtigen, denn unter Aristoteles – genauer in seiner Vorlesung zur Physik – taucht dieser Begriff erstmalig als philosophischer Begriff auf. Der altgriechische Vorläufer des Terminus ‚Materie‘ (von lateinisch materia bzw. materies) ist das Wort hyle, das Holz im Sinne von Nutz- und Bauholz meint. In der Bestimmung von Bauholz ist bereits eine begriffliche Anlage enthalten, die bis heute das Grundverständnis von Materialität prägt: Aus dem Bauholz lässt sich ein Gebäude, z. B. ein Holzhaus, errichten; Bauholz bildet also die stoffliche Grundlage eines Holzhauses. Wir können auch sagen: ein Holzhaus entsteht aus Holz und Holz ist eine stoffliche Basis, die eine bestimmte Formung, nämlich als Brett und Balken eines Holzhauses, erfährt. Allgemeiner gesprochen bestimmt Aristoteles Materie als „das, woraus etwas entsteht“ (Aristoteles, Physik, VII.3, 245b 10). Dieser Zusammenhang kann wiederum als allgemeine Beziehung formuliert werden: etwas (x) ist die Materie von etwas (y). Wenn also nach der Materialität von etwas gefragt wird, so richtet sich die Frage auf die sinnlich erfahrbare stoffliche Basis, die Trägerschaft oder den substanziellen Gehalt einer Sache. In der aristotelischen Denktradition, die bis heute sehr wirkmächtig für viele wissenschaftliche und künstlerische Bereiche ist, ist die Angabe der Materie bzw. Materialität eng mit der Angabe der die Materie bestimmenden Form oder formgebenden Struktur verbunden. Materie und Form und deren Verbindung und Verhältnis zueinander bilden zentrale Erkenntnisprinzipien für Objekte, Gebilde und Praktiken.

Materialismen

Die Betrachtung von Gegenständen in der Welt kann sich vor dem Hintergrund der Unterscheidungen von Form und Materie oder Geistiges und Materielles einseitig auf die Seite der Materie bzw. Materialität verlagern. Der Materialität von Gegenständen wird dann eine höhere oder alleinige Relevanz für das Verständnis oder die Erklärung von Dingen in der Welt zugesprochen. Der Fokus auf die Materialität von Dingen kann sich dabei zu einer theoretischen und weltanschaulichen Position erhärten. Eine sogenannte materialistische Position (oder auch Lehre) macht eine Aussage über die Art und Gesamtheit der existierenden Entitäten in der Welt und beschränkt dabei die existierenden Entitäten auf materielle – und damit zumeist auf messbare – Entitäten, oder nimmt eine bestimmte Vorrangstellung des (physischen) Materiellen über das Geistige, Mentale oder Ideelle vor. In der Geschichte des Denkens und der Wissenschaften sind verschiedene Ausprägungen und Typen dieser Position, d. h. verschiedene Materialismen und materialistische Lehren, hervorgebracht und zum Teil als wissenschaftliche und politische Programme ausgerufen worden. Nachfolgend werden zwei zentrale Materialismen in der Geschichte der Wissenschaften vorgestellt.

Der naturwissenschaftliche Materialismus ist die Grundannahme, dass es eine vom Bewusstsein unabhängige, ‚objektive‘ materielle Welt (oder Natur) gibt, auf die sich die wissenschaftliche Erkenntnis bezieht. Wird die Position vertreten, dass allein von materiellen bzw. körperlichen Objekten gültige Erkenntnis möglich ist, nimmt die Position des Materialismus die Form eines (reduktiven) ‚Physikalismus‘ oder ‚Naturalismus‘ an (vgl. Sandkühler 2010, 1504). Der wissenschaftliche Materialismus ist ein Kind der frühen Neuzeit und bis heute die implizite Vorannahme vieler Natur- und Lebenswissenschaften. Im 18. Jahrhundert wurde insbesondere in Frankreich der naturwissenschaftliche Materialismus auf einen mechanistischen und physiologischen Materialismus zugespitzt, der das Verhalten von Tieren, Menschen und generell Seelenvorgänge in Analogie zu Maschinenfunktionen deutete (vgl. Nieke 1980, 842). Diese Formen des Materialismus haben im 19. Jahrhundert vehemente Kritik von idealistischen und erkenntniskritischen Positionen – beispielsweise diejenigen von Kant, Hegel und Fichte – erfahren. Idealistische und erkenntniskritische Gegenpositionen betonen, dass es vor und außerhalb des Materiellen auch eine Welt der Gründe, der Zwecke und der Freiheit gibt und dass die Erkenntnis von körperlichen Dingen gerade vom nicht-materiellen, geistig verfassten Denken ausgeht.

Karl Marx und Friedrich Engels haben die idealistische Kritik für die Reformulierung einer materialistischen Position aufgenommen, nun aber den Anwendungsbereich des Materialismus nicht mehr nur auf die Erkenntnis der Natur bezogen, sondern auch auf die Sphäre der menschlichen Tätigkeit (Produktion) und Geschichte (‚materialistische Geschichtsauffassung‘). Gesellschaftliche Veränderungen und Bewegungen würden demnach nicht primär, so eine Kernannahme des historischen Materialismus, durch Ideen, sondern durch Veränderungen der Produktions- und Wirtschaftsweise und damit der materiellen Basis einer Gesellschaft verursacht. Der historische Materialismus wurde dann wiederum von Engels und später von Lenin zu einer dialektischen, d. h. alle Bewegungsformen von den physischen, chemischen und biologischen bis zu sozialhistorischen Bewegungen umfassenden materialistischen Weltanschauung weiterentwickelt. Der dialektische Materialismus bildete einen Grundbaustein der sozialistischen und kommunistischen Ideologie im 20. Jahrhundert.

Im politischen Denken und in der politischen Analyse identifiziert eine (post-)marxistisch orientierte materialistische Perspektive Widersprüche zwischen verschiedenen sozialen Klassen, analysiert die bestehenden Verhältnisse der Arbeitsteilung, (Re-)Produktion und zur Natur sowie die Abhängigkeiten von Herrschenden und Beherrschten. Dabei ist die materialistische Analyse mit dem Anliegen der Kritik verbunden, d.h. mit dem Impuls, durch die gesellschaftliche Analyse einen Beitrag zu einer gerechteren und emanzipierten Gesellschaft zu leisten. Aus dieser materialistischen Perspektive sollten sämtliche Herausforderungen der Gesellschaft – seien es die Klima- und Umweltkrise, die sich weitende Schere zwischen Arm und Reich oder Fragen der sozialen und politischen kollektiven Identität – immer im Lichte der konkreten sozialen (Herrschafts-)Verhältnisse und ‚Klassen‘ bzw. sozialen Gruppierungen betrachtet werden.

In jüngerer Zeit, genauer seit Mitte der 2000er, werden in verschiedenen kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskursen Fragen nach der Materie und Materialität von Dingen, Medien und Praktiken vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit und diskurspolitischen Bemühungen gerückt. Diese transdisziplinäre diskursive Bewegung wird auch als material turn bezeichnet (vgl. z. B. Löw et al. 2017). Dabei wird allerdings keineswegs an dem historischen oder dialektischen Materialismus angeschlossen, sondern (in theoretischer Hinsicht) eine systematische Fokussierung und Reflexion auf das Konzept der Materie oder (in empirischer und theoriebildender Absicht) auf Anteile des Materiellen an der Kultur, Technik und Handlung unternommen. Nachfolgend seien einige Hauptströme dieser Richtung skizziert: Unter dem Stichwort der ‚materiellen Kultur‘ werden Dinge in der Welt in ihren Verbindungen mit Handlungen, Bedeutungen, geschichtlichen, Situierungs-, Produktions-, Design-, Konsum- und Nutzungskontexten untersucht (vgl. Ludwig 2020). Diese empirisch orientierten Untersuchungen werden vor allem in den Kultur- und Medienwissenschaften sowie in der Geschichte und Archäologie betrieben. In der Wissenschaftsforschung (Science Studies, Science and Technology Studies) werden materielle Grundlagen und Ausstattungen von sozialen Settings unter dem Terminus der materiellen Wirkungsmacht (material agency) als prinzipiell beteiligt an und konstitutiv für Handlungen und Erkenntnis begriffen. In der Medienkulturwissenschaft und Diskurs- und Dispositivforschung ist die analytische Unterscheidung von ‚diskursiven‘ und ‚nicht-diskursiven‘ Praktiken von Foucault aufgegriffen und mit einem besonderen Fokus auf die materiellen Elemente von Diskursen und Dispositiven (z. B. Aufschreibesysteme wie Schreibmaschinen und Computer, Architekturen, Instrumente) zu einer materiell orientierten Untersuchungsperspektive weiterentwickelt worden. Auf der Ebene der Theoriebildung werden unter dem Label ‚Neuer Materialismus‘ (new materialism) naturphilosophische und metaphysische Ideen der Materie und materieller Wirkkräfte und -mächte aufgegriffen und für eine soziale und politische Theorie der Wissenschaft, Erkenntnis und Gesellschaft fruchtbar gemacht (vgl. Coole/Frost 2010, sowie Beispiel 2).

Materialismus als Bezichtigung

Wenn fernab der philosophischen, sozialgeschichtlichen und politischen Kontexte (aber gleichwohl mit einer impliziten Referenz) in der gesprochenen Sprache und im gesellschaftlichen Diskurs Personen oder Verhaltensweise als materialistisch charakterisiert werden, erfolgt dies in erster Linie mit der Funktion der Bezichtigung. Hinter der Aussage „Du bist/das ist aber materialistisch!“ verbirgt sich der Vorwurf „von mangelnde[m] moralischen ‚Idealismus‘, ‚Gottlosigkeit‘ und ‚Unsittlichkeit‘ und egoistischen ‚Strebens nach materiellen Gütern‘“ (Sandkühler 2010, 1504).

Beispiele

(1) Materialität (in) der politischen Architektur

Die Frage nach der Materialität des geplanten Erweiterungsbaus des Bundeskanzleramtes bzw. den darin konkret verwendeten Materialien bildete (neben der Frage nach den Kosten) den Gegenstand einer Kleinen Anfrage, die Abgeordnete des Bundestagstags sowie die Fraktion von BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN im Juni 2021 an die damalige Bundesregierung richteten (Bundestag, Drucksache 19/30354). Es wurde darin u. a. gefragt, welche Materialien hauptsächlich verwendet werden sollen und welcher Anteil an nachwachsenden Rohstoffen unter den eingesetzten Materialien angestrebt werde. Die Frage nach der geplanten Materialität des Erweiterungsbaus wurde hier unter energetischen und ökologischen Gesichtspunkten und dem Aspekt „Vorbildfunktion des Bundes“ für eine nachhaltige und effiziente Bauweise vorgebracht (Bundestag, Drucksache 19/30354). In der Antwort wird die Zentralität der Materialität für die Planung direkt aufgegriffen, denn nicht nur die „direkte Bezugnahme und Weiterführung der Architektur des Bestandsgebäudes“, auch die „Materialität“ hätten den „gestalterische[n] Leitgedanke[n] der Architekten“ gebildet (Bundestag, Drucksache 19/30354).

Bundeskanzleramt in Berlin (lizenzfrei; Bildquelle: Pixabay, https://pixabay.com/de/photos/bundeskanzleramt-architektur-modern-3111370/
Abb.1: Bundeskanzleramt in Berlin (lizenzfrei; Bildquelle: Pixabay, https://pixabay.com/de/photos/bundeskanzleramt-architektur-modern-3111370/ ; Zugriff: 04.04.2022)

Interessanterweise, wird also in der Kleinen Anfrage – einem wichtigen demokratiepraktischen Instrument – die Materialität, weniger aber die Form, erstens in den Fokus gerückt und zweitens zugleich bestimmten Prüfkriterien, nämlich denen der Nachhaltigkeit und CO2-Bilanz, zugeführt. Das Beispiel gibt einen Hinweis auf eine diskursive Veränderung: Die Materialität von Dingen – von Konsumgütern bis zu Gebäudekomplexen – wird nicht mehr nur nach der symbolischen, sozialen und politischen Bedeutung, sondern zunehmend auch nach Gesichtspunkten der Ökologie und Klimaverträglichkeit diskutiert.

(2) Materialisierung des Geschlechts (J. Butler)

Bei Aristoteles haben wir ein Grundschema des Begriffs der Materie kennengelernt: etwas (x) ist die Materie von etwas (y). Diese klassische Bestimmung von Materie hat einen fixierenden Aspekt: die Materie eines Gegenstandes wird hier regelrecht ‚dingfest‘ gemacht. Sie lässt aber auch eine andere Betrachtungsweise zu, indem man darauf schaut, wie etwas zu einem Materiehaften, Stoffgleichen wird, wie also überhaupt etwas materialisiert – und damit immer auch: diskursiv fixiert – wird. Genau diese Strategie hat die feministische Philosophin Judith Butler in ihrer zentralen Schrift Körper von Gewicht (Original: Bodies that matter) gewählt. Statt von der (sprachlichen, diskursiven) „Konstruktion“ von Geschlecht zu sprechen, schlägt sie vor, nach den Prozessen der Materialisierung, der Materialität und ja, der „‚Materie‘ des biologischen Geschlechts“ selbst zu fragen (Butler 2017, 32).

Literatur

Zum Weiterlesen

  • Eagleton, Terry (2018): Materialismus: die Welt erfassen und verändern. Wien: Promedia.
  • Hülsen-Esch, Andrea von (2017): Materie – Material – Materialität: Disziplinäre Annäherungen. DUP, Düsseldorf University Press.
  • Mainzer, Klaus (1996): Materie: von der Urmaterie zum Leben. München: Beck.
  • Stoff, Heiko (2018): Materialität. In: Doing Space While Doing Gender –Vernetzungen von Raum und Geschlecht in Forschung und Politik. transcript Verlag, 77–92.

Zitierte Literatur

  • Aristoteles (1987): Aristoteles’ Physik: Vorlesung über Natur. Zweiter Halbband: Bücher V (E)–VIII (Θ). Griechisch-Deutsch. Übers., mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. v. Hans Günter Zekl. Hamburg: F. Meiner.
  • Britta Haßelmann, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 19/30024 –).
  • Butler, Judith (2017): Das Unbehagen der Geschlechter (Gender Trouble, 1990), 18. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Coole, Diana H./Frost, Samantha (Hrsg.) (2010): New materialisms: ontology, agency, and politics. Durham, NY; London: Duke University Press.
  • Deutscher Bundestag 19. Wahlperiode. Drucksache 19/30354 v. 07.06.2021. (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Christian Kühn (Tübingen).
  • Löw, Christine/Volk, Katharina/Leicht, Imke/Meisterhans, Nadja (Hrsg.) (2017): Material turn: feministische Perspektiven auf Materialität und Materialismus. Opladen Berlin Toronto: Verlag Barbara Budrich.
  • Ludwig, Andreas (2020): Materielle Kultur. Version 2.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, ZZF – Centre for Contemporary History: Docupedia, DOI: 10.14765/ZZF.DOK-1943. Text abrufbar unter: https://zeitgeschichte-digital.de/doks/1943
  • Nieke, Wolfgang (1980): Materialismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh), hg. v. Joachim Ritter/ Karlfried Gründer. Basel: Schwabe Verlag, 842–850.
  • Sandkühler, Hans Jörg (2010): Materialismus. In: Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM, hg. v. ders., Hamburg: F. Meiner Verlag, Bd. 2., 1504–1514.

Abbildungsverzeichnis

Zitiervorschlag

Buhr, Lorina (2022): Materialität. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 07.04.2022. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/materialitaet.

DiskursGlossar

Grundbegriffe

Medien

Die Begriffe Medien/Massenmedien bezeichnen diverse Mittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung sowie von Bildungsinhalten. Medien schaffen damit eine wesentliche Grundlage für Meinungsbildung und Meinungsaustausch.

Macht

Macht ist die Fähigkeit, Verhalten oder Denken von Personen zu beeinflussen. Sie ist Bestandteil sozialer Beziehungen, ist an Kommunikation gebunden und konkretisiert sich situationsabhängig. Alle expliziten und impliziten Regeln, Normen, Kräfteverhältnisse und Wissensformationen können aus diskursanalytischer Perspektive als Machtstrukturen verstanden werden, die Einfluss auf Wahrheitsansprüche und (Sprach)Handlungen in einer Gesellschaft oder Gruppe nehmen.

Normalismus

Normalismus ist der zentrale Fachbegriff für die Diskurstheorie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Die Normalismus-Theorie fragt danach, wie sich Vorstellungen von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ als Leit- und Ordnungskategorien moderner Gesellschaften herausgebildet haben.

Wissen

Kollektives Wissen von sozialen Gruppen ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel strategischer Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Es wird geprägt durch individuelle Erfahrung, aber auch in Diskursgemeinschaften kommunikativ geteilt – vor allem im Elternhaus, in Peergroups und Bildungseinrichtungen sowie durch Medienkonsum.

Werbung

Werbung ist ein Kommunikationsinstrument von Unternehmen, das der Positionierung im Markt dient und je nach Situation des Unternehmens auf Einführung, Erhalt oder Ausbau von Marktanteilen und damit letztlich auf ökonomischen Gewinn abzielt.

Mediale Kontrolle

Medien werden vielfältig zur Durchsetzung von Macht verwendet. So in der Zensur, wenn eine politische Selektion des Sagbaren und des Unsagbaren stattfindet; in der Propaganda, wenn eine Bevölkerung von den Ansichten oder wenigstens der Macht einer bestimmten Gruppe überzeugt werden soll; oder in der Überwachung, die unerwünschtes Verhalten nicht nur beobachten, sondern unwahrscheinlich machen soll.

Freund- und Feind-Begriffe

Freund-, Gegner- und Feindbegriffe sind Teil der Politischen Kommunikation. Sie bilden die Pole eines breiten Spektrums von kommunikativen Zeichen, mit denen politische Akteure sich selbst und ihre politischen Gegner im Kampf um beschränkte Ressourcen auf dem diskursiven Schlachtfeld positionieren.

Sprachpolitik / Sprachenpolitik

Sprachpolitik bezeichnet allgemein alle politischen Prozesse, die auf eine Beeinflussung der Sprachverwendung in einer Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft abzielen. Unterschieden wird häufig zwischen Sprachenpolitik und Sprachpolitik im engeren Sinne.

Sagbarkeit

Im öffentlichen Diskurs findet sich häufig die strategische Behauptung, dass bestimmte Fakten oder Meinungen unsagbar seien. Auf diese Weise wird zum Ausdruck gebracht, dass es Grenzen des Sagbaren gebe, die im öffentlichen Diskurs Geltung hätten.

Kulturelle Grammatik

Kulturelle Grammatik steht für ein System von Regeln und/oder etablierten Regelmäßigkeiten, die Formen richtiger und/oder normaler Kommunikation und Interaktion auszeichnen.

Techniken

Passivierung

Unter Passivierung versteht man die Formulierung eines Satzes in einer grammatischen Form des Passivs. Das Passiv ist gegenüber dem Aktiv durch die Verwendung von Hilfsverben formal komplexer. Seine Verwendung hat unter anderem zur Folge, dass handelnde Personen im Satz nicht genannt werden müssen, was beispielsweise in Gesetzestexten für eine (gewünschte) größtmögliche Abstraktion sorgt („Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 3 GG).

Aufopferungs-Topos

Als Aufopferungs-Topos wird in der Diskursforschung ein Argumentationsmuster bezeichnet, das zwei strategische Funktionen erfüllen kann: einerseits kann es dazu dienen, mit der Behauptung eines besonderen Ressourceneinsatzes (z.B. Einsatz von Geld, Zeit oder emotionaler Belastung) einen hohen Achtungswert für eine Person, eine Sache bzw. für ein Ziel zu plausibilisieren. Andererseits können Akteure besondere Privilegien (wie z.B. Wertschätzung, Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherechte) reklamieren, wenn sie sich für eine bereits in der sozialen Bezugsgruppe hochgeschätzte Sache engagieren.

Opfer-Topos

Als Opfer-Topos bezeichnet man eine diskursive Argumentationsstrategie, bei der sich Akteure als ‚Opfer‘ gesellschaftlicher Urteilsbildung inszenieren und damit eigene Interessen – vor allem Aufmerksamkeit und Berücksichtigung von Bedürfnissen – geltend zu machen versuchen.

Analogie-Topos

Der Analogie-Topos zählt zu den allgemeinen bzw. kontextabstrakten Argumentationsmustern, die genutzt werden können, um für oder gegen eine Position zu argumentieren. Analogie-Topoi werden von verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen strategisch eingesetzt, um eine zustimmende Haltung bei den Zielgruppen zu bewirken.

Negativpreis

Ein Negativpreis ist eine Auszeichnung an Personen oder Organisationen (meist Unternehmen), die sich oder ihre Produkte positiv darstellen und vermarkten, ihre Versprechen aus Sicht des Preisverleihers allerdings nicht einhalten. Dabei dient der Preis durch seine Vergabe vor allem dem Zweck, Aufmerksamkeit zu erregen, mediale Präsenz auf ein Thema zu lenken und den Preisträger in seinem moralischen Image zu beschädigen.

Be-/Überlastungs-Topos

Der Be-/Überlastungstopos ist ein Argumentationsmuster, das vorwiegend in der politischen Kommunikation eingesetzt wird. Als zu vermeidende Konsequenz einer konkreten Situation wird mit dem Be-/Überlastungstopos ein Be- bzw. Überlastungs-Szenario skizziert.

Wahlkampf

Wahlkämpfe sind Zeiten stark intensivierter politischer Kommunikation. Politische Parteien entwickeln Programme für die nächste Legislaturperiode in der Hoffnung, durch entsprechenden Stimmengewinn zu deren Umsetzung ermächtigt zu werden.

Wir

Das Pronomen wir erfüllt aber noch eine weitere diskursive Funktion: Ein Fundament des politischen Diskurses sind dynamische politische Ideologien: Glaubens- und Wissenssysteme von politischen und sozialen Gruppen.

Petition

Petitionen sind eine der am meisten genutzten Partizipationsformen nach Wahlen. Sie sind sowohl ein Mittel der politischen Beteiligung als auch ein Protestmittel und damit Zwitterwesen in der politischen Landschaft. Durch die Digitalisierung haben sich Petitionen zudem maßgeblich verändert, ihre Zahl hat zugenommen, ebenso wie die Zahl der Plattformen, auf denen sich Petitionen starten lassen.

Influencer / Influencerin

Influencer:innen sind Personen, die auf Social-Media-Plattformen regelmäßig selbst produzierte Inhalte publizieren und damit eine öffentliche Reichweite über ihre Follower:innen aufbauen. Influencer:innen haben das Potenzial, Rezipient:innen in ihrem Wissen, Einstellungen und Verhalten zu beeinflussen (engl. to influence).

Schlagwörter

Demokratie

Der Ausdruck Demokratie dient häufig zur Bezeichnung einer (parlamentarischen) Staatsform und suggeriert die mögliche Beteiligung aller an den Öffentlichen Angelegenheiten. Dabei ist seine Bedeutung weniger eindeutig als es den Anschein hat.

Plagiat/Plagiarismus

Plagiarismus ist ein Begriff, der sich im öffentlichen Diskurs gegen Personen oder Produkte richten kann, um diese in zuweilen skandalisierender Absicht einer Praxis unerlaubter intermedialer Bezugnahme zu bezichtigen. Die Illegitimität dieser Praxis wird oft mit vermeintlichen moralischen Verfehlungen in Verbindung gebracht.

Fake News

Fake News wird als Schlagwort im Kampf um Macht und Deutungshoheit in politischen Auseinandersetzungen verwendet, in denen sich die jeweiligen politischen Gegenspieler und ihre Anhänger wechselseitig der Lüge und der Verbreitung von Falschnachrichten zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung bezichtigen.

Lügenpresse

Der Ausdruck Lügenpresse ist ein politisch instrumentalisierter „Schlachtruf“ oder „Kampfbegriff“ gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig nicht einzelnen Medien-Akteuren, sondern der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt die Unwahrheit zu publizieren.

Antisemitismus

Mit Antisemitismus werden gemeinhin alle jene Phänomene bezeichnet, die sich gegen das Judentum oder gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden richten. Die entsprechenden Erscheinungen reichen von der bloßen Distanzierung und Behauptung jüdischer Andersartigkeit, über vollständig ausgearbeitete Weltbilder, die Jüdinnen*Juden für sämtliche Probleme verantwortlich machen, bis hin zu massiven Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewaltpraktiken.

Grammatiknazi / Grammar Nazi

Das überwiegend negativ konnotierte Schlagwort Grammatiknazi – als Übersetzung von engl. grammar nazi – wird zur Benennung von Personen verwendet, die meist in eher informellen Kontexten der öffentlichen Internetkommunikation (u. a. in Foren, Kommentarbereichen auf Nachrichtenportalen, sozialen Netzwerken) ungefragt Sprachkritik an den Äußerungen anderer (häufig fremder) Kommunikationsteilnehmer*innen üben.

Respekt

Respekt oder respektvolles Verhalten wird eingefordert für die Eigengruppe (bzw. von der Eigengruppe), für wirklich oder vermeintlich diskriminierte Gruppen, für abweichende Meinungen. Mitgemeint ist bei der Forderung nach Respekt meist eine positiv bewertete Szene der (sozialen, kulturellen, ethnischen, sexuellen etc.) Vielfalt/Diversität.

Geschlechtergerechte Sprache

Mit dem heute als Fahnenwort gebrauchten Ausdruck geschlechtergerechte Sprache ist die Forderung verbunden, bei Personenbezeichnungen die einseitige, für diskriminierend erklärte Bezugnahme auf einen bestimmten Sexus, konkret: auf das männliche Geschlecht, zu unterlassen.

Identitätspolitik

Der Ausdruck steht heute für eine politische Konstellation, in der konkurrierende Wir-Gemeinschaften mit einer Diskriminierungs- und Benachteiligungsgeschichte in der Öffentlichkeit um Anerkennung konkurrieren. An der Oberfläche geht es ‚identitären‘ Wir-Gemeinschaften darum, die eigene Diskriminierung als Ermächtigungsmotiv an die Öffentlichkeit zu tragen.

Cancel Culture

Cancel Culture ist ein Kampf- und Stigmawort, das sich in skandalisierender Absicht gegen die Praxis (und oft auch bereits gegen die Forderung) des Absagens, Ausladens, Boykottierens moralisch missliebiger und politisch bekämpfter Personen, Organisationen und Positionen in Wissenschaft, Kultur und Politik wendet.

Verschiebungen

Ökonomisierung

Ökonomisierung wird in gegenwärtigen Diskursen in der Regel zur Bezeichnung von Prozessen verwendet, in denen die spezifisch wirtschaftlichen Funktions-Elemente wie Markt, Wettbewerb/Konkurrenz, Kosten-Nutzen-Kalküle, Effizienz, Gewinnorientierung in Bereiche übertragen werden, die zuvor teilweise oder ganz nach anderen Leitkriterien ausgerichtet waren

Moralisierung

Moralisierung verlagert Macht- und Interessenkonflikte in die Sphäre der Kommunikation von Achtung / Missachtung. Sie reduziert Ambivalenz zugunsten einer Polarisierung von gut und böse.

Konstellationen

Skandal

Die Diskurskonstellation des Skandals zeichnet sich durch eine in den Medien aufgegriffene (bzw. durch sie erst hervorgerufene) empörte Reaktion eines erheblichen Teils der Bevölkerung auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aus. Die schuldhafte Verursachung dieses Missstandes wird dabei einem gesellschaftlichen Akteur zugeschrieben, dessen Handeln als ‚unmoralisch‘ gedeutet wird.

DiskursReview

Review-Artikel

Antitotalitär? Antiextremistisch? Wehrhaft!

Im Herbst 2022 veranstalteten die Sender des Deutschlandradios eine Kampagne mit Hörerbeteiligung zur Auswahl eines Themas, mit dem sich ihre sogenannte „Denkfabrik“ über das kommende Jahr intensiv beschäftigen solle. Fünf Themen standen zur Auswahl, „wehrhafte Demokratie“ wurde gewählt, wenig überraschend angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine…

Satzsemantik von Vorhersage und Nutzen-Risiko-Abwägung: Die STIKO-Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige vom 18. August 2021

“Die Forschung muss… sich in die Lage versetzen, die politischen Implikationen, die sie hat, anzunehmen und auszuforschen, um nicht beim ersten Knall der Peitsche durch alle ihr vorgehaltenen Reifen zu springen. Diese Integrität kann die Wissenschaft gerade dadurch unter Beweis stellen, dass sie dem herrschenden Druck, praktische Tabus in theoretische umzuwandeln, widersteht” (Beck 1986, 283)

Review-Rückblick

In dieser Rubrik veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen kurze Notizen zu Ereignissen oder Phänomenen, die in den vergangenen Wochen in der strategischen und öffentlichen Kommunikation zu beobachten waren. Die Texte kommentieren subjektiv, unsystematisch, teils widersprüchlich und hoffentlich pointiert. Sie erheben keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, beobachten ihren Gegenstand aber von einer diskursanalytischen und -interventionistischen Position aus und sollen zum Widerspruch einladen. Sie repräsentieren nicht die Position der Redaktion des Diskursmonitors, sondern ihrer jeweiligen Autorinnen und Autoren.

Rasse, Rassismus

1) Zu Beginn drei exemplarische Medienereignisse aus der jüngsten Vergangenheit, in denen es um den Komplex Rasse, Rassismus ging…

Freund-Feind-Begriffe: Zum diskurssemantischen Feld soziopolitischer Kollektivierung

Mit jeder sprachlichen Äußerung (und das schließt das Nicht-Äußern mit ein) positioniert sich der Sprecher oder Schreiber sowohl innerhalb eines von ihm intersubjektiv (re)konstruierten als auch eines objektiven (d.h. objektivierbaren) diskursiven Raum sozialer Gruppen. Möglich ist dies nur aufgrund der sozialsymbolischen (indexikalischen) Bedeutung kommunikativer Zeichen im Bühlerschen Sinne…

PR, Punk oder Provinz: Wie Corona-Forschung die Öffentlichkeit (nicht) erregt.

Jeden Tag erreichen uns neue Nachrichten, neue Zahlen, neue Grafiken zur laufenden Corona-Pandemie. Wer erinnert sich da noch daran, was vor zwei oder drei Monaten oder vor einer Woche öffentlich diskutiert wurde? Vielleicht sind nur zwei Debatten wirklich in unserem öffentlichen Gedächtnis hängen geblieben, unter anderem, weil sie es zu eigenen Twitter-Hashtags gebracht haben: #HeinsbergProtokoll und #IchHabeBesseresZuTun…